Schreibszene Frankfurt 1987/2017

Zu Beginn des Wintersemesters 2016/2017 finde ich im Bibliothekszentrum Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt durch Zufall ein Buch. Literatur in Frankfurt. Ein Lexikon zum Lesen. Herausgegeben von Peter Hahn mit Fotos von Andreas Pohlmann, erschienen 1987 im athenäum Verlag, 692 Seiten. Von den 692 Seiten bestehen 600 aus Selbstvorstellungen von Autorinnen und Autoren, Büchermachern, Projektemacherinnen, Redakteurinnen usw. Neben den Portraits stehen jeweils eine kurze, selbstverfasste autobiographische Notiz und eine Auswahlbibliographie. Diese Literaturangabe regelt, wer dabei sein kann – im wesentlichen Leute über 30, das scheint auch damals schon die Grenze einer lexikonwerten bibliographischen Existenz zu sein. Aber oberhalb dieser Grenze sind alle dabei, 147 Personen sind „alle“. „Das Problem, wer als Autor zu gelten habe, wurde formal gelöst. Auch – weil es sich niemals anders lösen ließe.“ (S.11). Wer in Frankfurt schreibt (egal was), ist Autor. Auf die doppelseitige Selbstbeschreibung folgt stets ein zweiseitiger Text, Polemik, Lyrik, Essay oder Romanauszug: alles dabei. Nach den Portraits sind noch Aufsätze beigegeben, über die Frankfurter Verlagslandschaft, die Buchmesse, die Poetikvorlesung, den Adorno-Preis usw. Den Schluss des Buches bildet eine Sammlung von anonymen Zitaten von denjenigen, die nicht bereit waren, Teil des Buches zu werden, und ein Transkript eines Telefonats, das Peter Hahn mit Marcel Reich-Ranicki führte, dessen Abneigung gegen das Buch („das überflüssigste Buch“) ebenso groß war wie der Begehr, darin vertreten zu sein.

Anruf bei Peter Hahn, dem Herausgeber des Buches: „Woher kannten Sie die ganzen Leute?“ –– „Die meisten habe ich in meiner Zeit als Direktor des Theater am Turm kennengelernt, bei Lesungen, bei Premieren und in den Nächten im TAT-Café. Die Auswahl der Autoren war nicht so ganz einfach, also, wer sollte dabei sei, wer nicht. Als die Auswahl feststand, führte ich mit jedem Schreiber ein Gespräch – über meine Wünsche, also biografische Angaben und Textbeitrag. Wichtig war Andreas Pohlmann als Fotograf und mir, keine „vorhandenen“ Fotos zu nehmen, sondern jeden einzelnen vor einem neutralen Hintergrund im Studio abzulichten. Während dieser Sitzungen führte ich ausführliche und auch abschließende Gespräche mit den Leuten. Die Gliederung der einzelnen Beiträge und Seiten habe ich mit dem Verlag ausgehandelt. Die Buchherstellung erfolgte durch den Verlag. Da gab es vorab auch Korrekturabzüge. Die Kosten für dieses Buch hat die Stadt Frankfurt übernommen, also Honorare, Druck, Plakat, Herstellung.“ Zur Veröffentlichung ließ die Stadt Frankfurt ein A0 Plakat mit allen Gesichtern der Beteiligten drucken, während unseres Telefonats sagt Peter Hahn, er schaue nun darauf und zähle die nun Toten. Man sollte was mit dem Buch machen, so lange ‚das Projekt’ hier läuft, denke ich, (Neuauflage, Revision, Lesung, irgendwas) und stelle das Buch, das ich mir in der Zwischenzeit für 7,10 € (inkl. Versandkosten) antiquarisch gekauft habe, vorerst ins Regal. Es liegt vor: Bestandsaufnahme einer Gegenwart, die sich selbst dabei zuschaut, wie sie historisch wird und sich selbst historisiert.

1          Reinkommen und rauskommen

„Am 8. Dezember 1926 in Berlin geboren. Anfang der vierziger Jahre kam er nach Freiburg im Breisgau, machte als Soldat noch die Schlußphase des Krieges mit und studierte anschließend in Freiburg, Frankfurt am Main und Berlin Jura, Geschichte, Soziologie, Germanistik und Kunstgeschichte.“ (Joachim Fest, S. 175).

„Wer bin ich? Auf jeden Fall ein schreibendes Individuum (das andere gehört nicht hierher). Schreiben – das war der Traum meiner frühen Jugend. Ich schrieb mir die Finger wund und den Weltschmerz von der Seele.“ (Irene Hübner, S. 291)

„Ich wurde am 4. März 1922 in Marbach am Neckar geboren und noch in meinem ersten Lebensjahr nach Dresden verbracht, wo mein Vater Assistent am Hygienischen Institut der Technischen Hochschule war. So schwer es mir auch fiel, ich lernte bald genügend sächsisch, um nicht mehr aufzufallen.“ (Iring Fetscher, S. 179)

„Im Bayernland geboren – aber als Franke früh in dem Bewußtsein, fremder Macht unterworfen zu sein –, schlägt die Schulzeit im schwarzen Gymnasium noch heute tief ihre Klauen in meine Alpträume.“ (Bernd Feuchtner, S. 183)

„Geburtsort: Berlin. Es hätte auch Nürnberg, Hamburg, Hameln sein können. Denkt man. Und lebt dann lange woanders, in Frankfurt zum Beispiel. Es dauert eine Weile, bis man darauf kommt. Wie dieses „Berlin“, dieses Erbstück sich bemerkbar macht. Wie es arbeitet.“ (Gisela von Wysocki, S. 591)

„Joachim Fest ist Senator der Max-Planck-Gesellschaft. Im April 1987 erhielt er die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main.“ (Fest, S. 175)

„Es dauerte lange, bis ich begriff, daß einem über der wissenschaftlichen Aneignung der Welt das naive Schreiben vergehen muß, man die dem eigenen Bewußtsein entsprechende literarische Gestaltungsform suchen und finden muß. Dabei gibt es keinen Königsweg – meine Form ist derzeit (noch) die dokumentarische.“ (Irene Hübner, S. 291)

„1959 habilitierte ich mich mit einer Arbeit über „Rousseaus politische Philosophie“, seit 1963 bin ich Professor für Politikwissenschaft und Sozialphilosophie in Frankfurt.“ (Iring Fetscher, S. 179)

„Doch woher das Zubrot für die Forschungsarbeit? Die Lösung: wenn’s schon kein Geld gibt für das, was drin ist im Kopf, so wird doch die Hergabe der Außenansicht super honoriert – dem Fotomodell. Ganz netter Job.“ (Bernd Feuchtner, 183)

„Später, bei T.W. Adorno, ordnete sich das Material völlig neu. Das Kino. Das Klavierspiel. Die Lektüre. Die Philosophie. Daraus wurde eine Arbeit über Peter Altenberg, der mit seinen ‚radikalrhythmischen Armen und Beinen‘ (Bertold Viertel) die jungen Prostituierten einübte: in die neuesten „Niggersongs“ aus Amerika.“ (Gisela von Wysocki, S. 591)

Angekommen in Frankfurt am 25. August 2016, mit dem Ziel, den großen Zeh ins kalte Wasser zu halten um zu sehen, ob hier ein Zuhause sein könnte. Vorauseilend kommt hier die Zusammenfassung: Das kann man nur dann rausfinden, wenn andere, bestehende Zuhauses abgeschafft werden, Zuhause ist der Ort der notwendigen Rückkehr (bspw. nach einer Reise), lässt man sich Wahlmöglichkeiten offen, treibt einen die Pfadabhängigkeit immer zurück zum altbekannten Ort, dessen eigene Qualität gar keine Rolle spielt.

Im Oktober 2016 rechnete mir Spotify Nina Simone in „Dein Mix der Woche“, eine 18:36 minütige Live-Version von My Sweet Lord / Today is a Killer. Das Stück nimmt George Harrisons Nummer My Sweet Lord zum Ausgangspunkt für eine Art Pfingstgottesdienst, komplett mit Chor, Zungenrede und Ekstase, nach etwa elf Minuten scheint das Stück in einen repetitiven Basslauf auszufaden, über dem man nur das Schnalzen der Choristinnen und Summen, Rascheln, Murmeln der Sängerin hört, die dann aber anfängt zu sprechen: „I often sit there at the sea, and dream dreams and hope hopes and wish wishes, and lately, as I listen to the wind song“ – es ist nichts gut, sagt sie, die Hoffnungen und Wünsche erfüllen sich nicht, today is a killer, das geht eine ganze Weile so, can’t get close to nobody no more, nur eben der eine, der einen annimmt: my sweet Lord. Ich bin mir sehr unsicher, ob das bei Harrison gemeint war, den ich eines Liebesliedes inklusive religiöser Anrufung verdächtige, und er braucht auch sehr viel weniger Zeit für das an sich harmlose Stück Musik (4:41m) als Nina Simone. Um ihre Interpretation mit Kopfhörern auf den Ohren abzuhören, brauchte ich fast die gesamte Fahrzeit auf dem Rad von meiner Wohnung in der Grempstraße bis zum IG-Farben-Gebäude, und während mich immer wieder das Intensitätsspektakel von Nina Simone tröstete und eigentlich erst zur Arbeit trug, war es doch zugleich jedes Mal eine willentlich herbeigeführte emotionale Volleskalation. Einmal fuhr ich, innerlich eskalierend, eine Fußgängerin über den Haufen, das war dann wirklich ein Grund zum Weinen, erst sie, dann ich.

Tränen können wie Brechreiz hinten im Hals sitzen. Neu sein ist schwer. Neu sein war schwer. Neu sein heißt für die Ängstlichen, dass etwas anderes vorbei ist; dass etwas beginnt, ist nicht beruhigend, denn über dieses etwas weiß man ja noch nichts: Rettung oder Niedergang oder noch schlimmer, das dazwischen, der Stillstand? Den Weg einüben, immer mit dem gleichen Lied, das sich an die Wege im Grüneburgpark und an die Briefkästen und Gartenzäune klebt, an denen vorbeizufahren Routine wird, gut abreagiert mit Nina Simone im Büro ankommen und schlucken. Ich habe mich nicht übergeben.

Als ich sah, dass ich es konnte (ins Büro fahren, den Weg finden, Frankfurt), bauten sie im Verkehrskindergarten im Grüneburgpark die Miniaturverkehrsschilder ab und renovierten im Park, ein Zaun versperrte die Einfahrt Ecke Siesmayerstraße und Grüneburgweg, ich war empört, nun sollte sich nichts ändern, wo ich doch gerade erst den Weg so gelernt hatte, dass ich ihn auch im Schlaf hätte finden können.

„B: Da kommen wir zur Ehrlichkeit: Frankfurt, sagen die Liebhaber Frankfurts, ist eine ehrliche Stadt, gerade wegen ihrer unversöhnten Widersprüche. Hier die Banken, da die Schrebergärten, hier das Bahnhofsviertel, da das Museumsufer, eine Stadt, die sich nicht anbietet und doch käuflich ist.“ (Silvia Bovenschen: Grüneburgpark, S. 89) „A: Schön oder häßlich – es hat sich verändert. Gefällt Ihnen das?“ (Walter Boelich: Grüneburgpark, S. 69). „B: Und außerdem dialektischer Kitsch: gerade weil es so häßlich ist, ist es so schön. Vergessen wir das.“ (Silvia Bovenschen: Grüneburgpark, S. 89)

 

2          Bibliographien

Direkt noch mal Bovenschen: „Veröffentlichungen: u.a. über Frauen, Tiere, Mode und Freundschaft.“ [Mehr steht da nicht.]

Volkmar Sigusch: „Im Editorial Board von: The Journal of Sex Research. Archives of Sexual Behaviour and Psyche.
Übersetzungen aus dem Amerikanischen und Russischen.
Veröffentlichungen von Gedichten in: Flöte und Schafott, Diskus, Dr. med. Mabuse, Sexualität konkret.
Zahlreiche Aufsätze in Sammelwerken, Handbüchern und Zeitschriften.“ (S. 523)

Dagmar Chilodue: „Bist Du irre? Jugendroman. Frankfurt: S. Fischer 1986/ Mach auf, es hat geklingelt. Kinderroman. Weinheim: Beltz & Gelberg 1987/ Pink Pätti. Kinderroman. Hamburg: Dressler Verlag 1987.“ (S. 111)

Paulus Böhmer: „Lyrik, Hörspiele, Erotika, Märchen und Kinderbuchillustrationen.“ (S. 75)

Hans Traxler: „Schrieb und zeichnete 4 Kinderbücher, die in 7 Sprachen übersetzt wurden.“ (S. 551)

Ilse Braatz: „In Vorbereitung: Portrait der Abläufe, grundiert. Autobiographisches Prosamanuskript mit dem thematischen Schwerpunkt: Konnexionen zwischen Literatur und sogenannter Schizophrenie, und wie diese normalerweise übergangen werden, nicht nur in der Psychiatrie.“ (S. 91)

Über Ilse Braatz ist dieser Tage wenig herauszufinden, Peter Hahn nennt sie „einen der Arbeiterschriftsteller“, Google kennt eine ältere Verstorbene gleichen Namens, diejenige, die 1987 über sich schrieb „Literaturstudium ohne Berufsziel, ohne interessante Kontakte, ohne Abschluß“ kommt als Autorin gebrauchter Bücher vor, das Buch Portrait der Abläufe, grundiert ist offenbar nie erschienen, zumindest kennt es auch die Deutsche Nationalbibliothek nicht, ihr Katalog nennt dafür Bücher mit verheißungsvollen Titeln wie Die Giraffe zählt zu den stummen Tieren oder Geschieht ein Hochzeitsfest, letzterer bei Stroemfeld erschienen, ansonsten erschienen Texte von Ilse Braatz beispielsweise im Münsteraner Verlag Frauenpolitik, nie gehört: Das kann sowohl ein Verweis auf die Obskurität des Unternehmens als auch auf Ignoranz der Nachgeborenen sein, die ein anderes Mal überprüft werden muss [Der erste Leser dieses Textes sagt: „Vom Münsteraner Verlag Frauenpolitik habe ich auch noch nie gehört. Als Münsteraner(in). Vielleicht würde ich den Zusatz noch machen.“]. Die Schreibszene Frankfurt hat 1962 ff. (Ilse Braatz zieht 1962 nach Frankfurt) den Text Portrait der Abläufe grundiert hervorgebracht und ihn immerhin in dieses Lexikon kanalisiert:

„15. 10. 83

Vielleicht hängt die lebendige Seligkeit einzig und allein davon ab, eine ausgeglichene Motorik zu erarbeiten. Aber wahrscheinlich erfreut sich z.B. Ronald Reagan einer ausgeglichenen Motorik. Diese Vorstellung bringt meine grad mühsam ins Gleichgewicht bewegte Motorik greulich ins Wanken.
Was bleibt? Lust an Sexualität. Realisiert oder nicht. Befriedigung durch Essen und Trinken. Vor allem Alkoholgenuß. Trotz der Folgen. […]
Diese Trostlosigkeit, den Urin über das Geschlecht laufen zu fühlen mit dem Bewußtsein, eine andere Berührung gibt es nicht mehr.
Die einzig überzeugende Revolution durch die Exhibitionisten: ich zeige das, was alle verbergen. […]
Alle sind für den Frieden, sie demonstrieren für den Frieden, sie analysieren für den Frieden. Ich mag nicht „für den Frieden“ am Samstag um ½ 8 am Bahnhof sein, und mit einem Zug von Friedensfreunden nach Bonn fahren, und dort in einem „Sternmarsch“ mitlaufen, oder woanders eine „Menschenkette“ bilden. Ich mag noch nicht mal die Psychoanalytikerreferate zu Krieg und Frieden bei Roter Stern lesen. Denn es hört sich so gewollt an.
Aber wahrscheinlich werde ich doch nach Bonn fahren. Es bleibt ja gar keine andere Wahl, als beim dafür anberaumten Zeitpunkt und Ort, von den Medien beachtet, einen ganzen Tag mit der Person zu zeigen, daß man gegen diese Waffen ist. Unter: ‚ferner liefen…’“

 

3          Im Team

Ich habe in Frankfurt zum ersten Mal gehört, wie Inklusion simuliert wird, indem man eine Atempause macht, so erzeugt man Autor innen, Künstler innen; ich habe in Frankfurt zum ersten Mal für Frauen gearbeitet. Ich finde ein Lexikon namens Literatur in Frankfurt, in dem mir die Frauen unbekannter sind als die Männer, ob weniger von ihnen darin vertreten sind, habe ich nicht gezählt. Im Seminar, das ein Kollege und ich in diesem Wintersemester gemeinsam unterrichten, sitzen nur Frauen. Ich bin auch eine. Das ist das schwächste Thema, denn es ist das allgemeinste und umfassendste Thema, es ist das schwierigste Thema, deshalb.

Die 52-jährige Christa Bürger beginnt 1987 ihre Biographie mit dem Satz „Geboren am 29. Mai 1935 in Frankfurt am Main, seit 1964 verheiratet mit Peter Bürger.“ Sätze, die zum Rechnen bringen: 29 Jahre alt, verheiratet. War das spät, damals? Das war spät. Eigene Chancen abklopfen, Zeiträume und Altersangaben aktualisieren, was wäre die richtige Übersetzung von 29 → 1987 in 29 → 2018? Renate Chotjewitz-Hafner schreibt über sich: „Geboren 1937 [50 → 1987] in Halberstadt […] nach der Heirat (1962) [25 → 1962] Muse, Mutter, Hausfrau und seit 1969 Nebenerwerbsautorin. […] Frauenbewegte Spurensucherin. Scheidung mit 50.“ Margarete Mitscherlich [70 → 1987] hatte im Jahr des Erscheinens von Literatur in Frankfurt gerade Die Zukunft ist weiblich veröffentlicht. Auf ihrem Autorenfoto, das wie alle anderen schwarz-weiß ist, sieht man dennoch eine kräftige Gesichtsfarbe und dieses supergute, pumperlg’sunde-dänische Aussehen.

In Frankfurt blockierte ich irgendwann alle Nachrichten, die von der Webseite Edition F an mich herangetragen werden könnten, mehrfach setzte ich an, Beiträge über den neo-liberalen Missbrauch feministischer Ideen zu schreiben, der da meiner Meinung nach vor sich geht, dann ging mir aber immer stärker meine Meinung verloren, mein Ärger über den undefinierten Totschläger „neoliberal“ ist ungefähr gleich groß wie mein Ärger über die Art Feminismus, den ich mit ihm traktieren will, woher sollte ich denn wissen, wer wie einen für wen auch immer richtigen Feminismus machen kann, und wenn von der verfeinerten Form des Humanismus namens Feminismus nichts übrig bleibt als eine Kampagne, mit der ein T-Shirt verkauft wird, auf dem „Female Future Force“ oder „The Future is Female“ aufgedruckt steht – dann bliebe eben dennoch etwas übrig. Streichen kann man evtl. die nutzlose Frage, ob mir das gefiele, wenn es darum ginge, was mir gefiele, führte das dazu, dass Margarete Mitscherlich Mitscherlichs Seidenbluse mit dem breiten Knoten und ihre grobe Wolljacke mit dem floralen Muster als ein Argument ins Feld geführt wird, als das Ideal der 70-Jährigkeit, Eleganz als Zeichen intellektueller Durchglühung, null-Fehler-Feminismus. Einfach zu lieben, allerdings, natürlich auch, weil Mitscherlich tot ist und nichts auf T-Shirts drucken und sich als attraktives item in Marktwirtschaft einspannen will. Ich dachte, ich müsste mich stattdessen mit dem Team der lebendigen Frauen (allen) beschäftigen, zu dem ich gehöre, ob ich will oder nicht. Die ziemlich abgenudelte und deshalb ziemlich nervige Rede vom Team habe ich mir auch in Frankfurt angewöhnt, als ich zu meiner Chefin mal etwas über das Team (Frauen) sage, sagt sie, sie wisse nicht genau, zu welchem Team sie gehöre, und ich denke, dass sich so die Wahlfreiheit anhört, die zu haben ich nicht mehr glauben kann seit dem vergangenen Jahr (Neid). Ich halte also zum Team, in das ich zu gehören glaube, das Verständnis dessen, was das heißt und was daraus folgt, kommt später.

Ich dachte an Margarete, wenn der 36er Bus am Mitscherlich-Platz hielt, kurz bevor ich aussteigen musste, das geschah nur dann, wenn mein Rock so eng war, dass ich damit nicht aufs Fahrrad steigen konnte (fast nie). Was genau das Platzartige am Mitscherlich-Platz sein soll, bleibt mir verborgen, er besteht aus einem Kreisverkehr und einer Bushaltestelle mit dem Namen des nach der Psychoanalytikerin (und ihrem Mann) benannten Platzes, aber es gibt keine Freifläche, ein Platz kann scheinbar vieles sein.

„Ein Blick auf die seit 200 Jahren bestehende politische, organisierte Frauenbewegung genügt, um sich den Haß und die Aggressionen von Männer zu vergegenwärtigen, die sich immer dann überschlugen, wenn Frauen deren individuelle oder kollektive Selbstidealisierung angriffen oder um eine neue Stellung in Politik, Gesellschaft und Familie kämpften. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf unsere jüngere Vergangenheit zurückkommen, da im Nationalsozialismus Männlichkeitsgehabe, Selbstidealisierung, Gewalttätigkeit, Rassismus und Sündenbocksuche einen bisher noch nicht bekannten Höhepunkt erreichten. […]

Wenn man es heute ablehnt, sich mit der deutschen Geschichte während des Dritten Reiches auseinanderzusetzen, lehnt man es auch ab, sich mit den eigenen kranken Wertvorstellungen zu konfrontieren, die dann – und das kann man niemals ausschließen – untergründig weiterwuchern und wieder Überhand nehmen können.

Mit den Ursprüngen der NS-Herrschaft, mit der Erinnerungs- und Trauerarbeit beschäftigen sich bis heute nur wenige Deutsche, die immer damit rechnen mußten, als Nestbeschmutzer bezeichnet zu werden. Deswegen kann der Versuch, einen dem Männlichkeitswahn unterworfenen Wiederholungszwang zu durchbrechen, kaum als gelungen angesehen werden.“ (Margarete Mitscherlich: Gewalt – Sache der Männer. Über männliche und weibliche Aggression. [Zusatz unter dem Text: „Aus einem unveröffentlichten Essay. 6.4. 1987“],  S. 409)

Schreibszene 1987 bestimmt sich noch in Nähe und Abstand zum NS, Literatur in Frankfurt erschien 1987 im Vorfeld der Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Pogromnacht 1988, die Peter Hahn damals organisierte. Dazu gehörte die 16-bändige Buchreihe Zerstörung-Verlust-Erinnerung mit Beiträgen von Dieter Bartetzko, Adolf Heinzlmeiner, Mechthild Curtius, Gregor Dotzauer, Helga Heubach, Ria Endres, Hilmar Hoffmann, Gert Mattenklott, Hans Hütt, Hans Scherer, Sigfried Schibli, Volker Küh, C. Bernd Sucher Burkhardt Lindner und Karsten Witte. Ferner die Lesung der Ermittlung von Peter Weiss in der Paulskirche als Oratorium in 5 Gesängen und Prolog in der Fassung von Burkhardt Lindner und die Aufführungen aller kompositorischen Werke von Adorno. Schreibszene 1987 super heavy, Schreibszene 2017 minus NS minus Psychoanalyse (ist nur als historischer Gegenstand, nicht als Faktum der Überlebensarbeit besprechbar): bespricht die männliche Gewalt. Dabei haben wir die nettesten Kollegen: Alexandru, Andreas, Kevin. Wie das so für sie ist, habe ich nicht gefragt. Ich schreibe eine E-Mail: Kauft doch auch mal die Plätzchen für den Workshop.

Schreibszene 2017 bestimmt sich durch die Nähe und den Abstand zur Schreibszene 1987, durch das Training in Selbstreflexion, die auch deshalb überzüchtet ist, weil sie auf Schreibszene 1987 aufsattelt. Eingepreist sind dabei die 2017er Ungenauigkeiten in Sachen Feminismus, Psychoanalyse, Geschichtsbewusstsein und vor allem -verständnis, die der immer größer werdende Berg an möglichen Kenntnissen verursacht. Derzeit wird nirgends das kompositorische Gesamtwerk Adornos aufgeführt. Zu besichtigen ist das petrifizierte Ticken seines Metronoms, das auf dem seiner ehemaligen Schreibtische steht, der unter einem Glaskubus dem Spott der seitlich dran Vorbeigehenden auf dem Campus der Goethe-Universität freigegeben ist.

 

4          Sonntag

Sonntage waren am schwierigsten: sich bloß keine Blöße geben, die Kolleginnen anschreiben, sagen, wie man in der Wohnung hockt (allein, traurig, manchmal verzweifelt, meistens müde). Sonntage sind Massenrobinsonaden, vermutlich sitzen alle auf die gleiche Art allein in ihren Wohnungen. Diese Picknicks in Parks, die Fahrradtouren: finden kaum je statt (oder? ODER?). In Frankfurt war ich sonntags zum Arbeiten, wenn so viel Arbeit da war, dass eine Zugfahrt an den Hauptschreibtisch und das stumpfsinnige Rausstarren dabei zu viel Zeit kostete, zusammengenommen mit dem Transfer (U6/7 ab Kirchplatz, U4 ab Bockenheimer Warte, ICE, M 41 bis Fuldastraße) von Zuhause zum Bahnhof nach Hause eigentlich ein Himmelfahrtskommando wäre. Also hier geblieben. In der Mittagspause durch Straßen gewandert, die immer ein wenig zu leer sind und in denen keine Bäume stehen, hinter der St. Jakobskirche am Kirchplatz gibt es einen wunderschönen Garten, ich glaube, mit einer Schaukel, warum ist niemand in diesen Gärten? Oder, nachdem der Weg über Google Maps einmal entziffert ist, mit dem Fahrrad nach Rödelheim fahren, das war mir vor der Frankfurter Zeit nur über das dortige Hartreimprojekt bekannt, wie kann etwas ein Stadtteil, und keine eigene Stadt sein, das auf -heim endet?

„Ich, der ich als passionierter Verteidiger dieser Stadt fast unrühmlich bekannt bin, bekenne offen: die Sonntage in Frankfurt kann man getrost vergessen. Sie mögen nicht so tot sein wie die in London. Als halbtot schätzt man sie ungefähr richtig ein.

Die Werktage in Frankfurt sind schön. Die ist eine nüchterne, kalte, sehr tüchtige Stadt. Von Montag bis Freitag zittert sie förmlich vor Kraft. Alles rennt rum. Niemand hat Zeit. Am Sonnabend kann man, wenigstens am Vormittag noch, mit Einkaufsorgien auf der Zeil und Demonstrationen, Massenumzügen in der City rechnen. Danach wird es still.“ (Horst Krüger Frankfurter Sonntag, S. 360)

Nachdem ich einmal mehr als 48 Stunden niemanden gesehen hatte, mit dem ich irgendwas zu schaffen gehabt hätte, entdeckte ich an einem Sonntagabend DENSCHÖNSTENORT, den Garten des Bockenheimer Weinkontors, der Kollege, den ich treffen wollte, erschien ohne Absage nicht, es stellte sich später heraus, dass er an diesem Tag aus einer schrecklichen Stimmung heraus das Haus nicht verlassen konnte und so darin gefangen war, dass er nicht absagen konnte. Der Garten ist mit Weinreben bepflanzt: nutzlose Lauschigkeit, auf die man niemanden hinweisen kann, der bei einem ist und von der man lediglich per WhatsApp ein Bild an die Person schicken kann, die immer bereit ist, mit Freude zu reagieren: Mama. Am Tisch nebenan fand ein blind date statt.

„Spätestens um zwei Uhr mittags sitzen wir am Sonntag also immer im Auto. Nur weg! Wohin heute, bitte? Fahren wir in den Rheingau nach Wiesbaden, ins Wispertal? Fahren wir in den Odenwald, suchen wir die alten Schicksalswege der Niebelungen heim? Man kann in vierzig Minuten im dunklen Spessart sein. Ein Märchenwald wartet.“ (Ebd.)

Vergebens, ich blieb in Frankfurt. Ich weiß, wie viel der Sprudel und die Chips in allen Büdchen Bockenheims kosten und wann in meinem Zimmer im Sommer und im Herbst und im Winter und im Frühling das Licht angeknipst werden muss.

 

5          In der Stadt

Das, womit man klarkommen muss. Sich für das eigene Wohnen schämen, weil einem die Stadt die ganze Zeit zeigt, dass andere überhaupt nichts zum Wohnen haben; an meinem letzten Sonntag in Frankfurt sah ich, dass sich neben dem Kino Cinema am Rossmarkt ein Wohnungsloser eine Art Schrank in einem Loch einer Hauswand da eingerichtet hat, wo früher einmal ein Geldautomat eingebaut war. Seine Ecke ist mittels einer Pressspanwand ein wenig geschützt, wie durch einen Paravent. Schöner wohnen wollen, besser wohnen wollen, mehr Geld brauchen. Aus dem Bürofenster konnte ich nun seit Juli 2016 auf die Frankfurter Skyline gucken, manchmal fuhr ich mit dem Fahrrad dort durch, zu Fuß bin ich nie durch die Bankenschluchten gegangen, instinktiv eingeleuchtet hat mir, dass man hier nicht stehenbleiben soll (als wären die Beine nur zum Gehen gut!), vom Wohnen ganz zu schweigen. Dass ich nun in „Mainhattan“ lebte, schrieb mir meine Patentante, die weder Man- noch Mainhattan je besucht hat, aber der Kalauer hat seine Berechtigung von Ferne, weil er eine Stadt über einen Umriss identifiziert. In einem Umriss kann niemand wohnen, es soll auch niemand da wohnen, dort arbeiten zu können muss reichen: Von der Goethe-Universität ins Bankenviertel zu gucken hat sich immer wie ein Film angefühlt, „Die Arbeit der Anderen“, sowas in der Art, irgendwann würde ich gern einmal von dort aus auf die Goethe-Universität schauen um zu wissen, wie die von dort aussieht, und ob einem die Frage nach dem Arbeitsbegriff vergeht, von da aus gesehen. Vielleicht ist echte Arbeit ja das, bei dem man nicht dazu kommt, aus dem Fenster zu gucken.

„Die Revision der Moderne beginnt damit, daß wir die Dogmen des 20. Jahrhunderts überprüfen. Wir beginnen erst zu erkennen, daß die Moderne nicht eine Sammlung von unveränderlichen Glaubenssätzen ist, sondern daß sie selbst eine Geschichte hat, dem Wandel unterworfen. Wir beginnen zu verstehen, daß der schmucklos vereinfachte Baukörper, ein bloßer Rechtkant, in einer Stadt des Historismus und des Jugendstils während der zwanziger Jahre eine notwendige Ernüchterung mit sich brachte, daß er im Wust der sinnentleerten Attrappenwelt Reinigung und Klärung, Fortschritt bedeutete – daß jedoch derselbe Rechtkant in tausendfacher Wiederholung heute die Aura der Aufgeklärtheit eingebüßt hat. Nach sechzig Jahren haben die Architekturformen, mit denen die Moderne argumentationsfähig wurde, die ‚reinen Formen unter dem Licht’ (Le Corbusier) nicht nur ihre ästhetische Überzeugungskraft verloren, sondern sie sind zu einem Faktor der schwersten Umweltzerstörung geworden.“ (Heinrich Klotz, Die Revision der Moderne, S. 328)

Im vergangenen Sommer schrieb mir Ekkehard aus dem Ruhrgebiet, durch das er reiste „(Und ich liebe Städte, weil sie so großartige Texte sind, einfallsreich, durcheinander, kaputt, notdürftig repariert, lebbar gemacht usw.)“. Ebenfalls im Sommer begannen die Renovierungsarbeiten an einem Endreihenhaus im Grüneburgweg, an dem ich jedes Mal auf dem Weg zum Büro vorbeifuhr, vom Fenster des Raums 3.254 aus ist die Miniatur-Rechtkant-Welt in der Stadtmitte zu sehen, Umweltzerstörung kann gebaute Landschaft sein, nicht weniger als der kleine Landschaftspark, an dem die gebaute Bescheidenheit des Endreihenhauses neue graue Fensterrahmen verpasst bekommt – sie wird unbezahlbar sein. Gespräche mit unbekannten Menschen, beim Einkauf kennengelernt, handeln nach fünf Minuten von Quadratmeterpreisen in den begehrten Wohnlagen, das Thema geht immer, es beschreibt den Ort, an dem wir uns in dem Moment befinden, ebenso, wie es das Wetter tut. Gerade eben erst schaute im Endreihenhaus unter den halb heruntergelassenen Jalousien des Fensters, das zur Straße zeigt, ein Kind hervor.

„So mußte es zur Katastrophe kommen. Das Geld vermehrte sich unerkannt und unkontrolliert, wie ein Seuchenvirus über die Erde. Es explodierte, und jetzt geht es wie ein Regen von toter Asche auf die Erde nieder.

Erst lange Zeit danach wird neues Geld wie junges Gras wieder aus dem Boden kommen. Dann aber werden ernuet und erst recht wirklich sachkundige Gärtner gefragt sein, die das Gras kurz halten und pflegen können. Sonst wächst und wuchert bald alles wieder zu, wie es gestern und heute geschah.“ (Johann Philipp Freiherr von Bethmann, Ungelöstes „Alltagsrätsel“, S. 61 )

Was sich hält, sind Gemeinplätze, in denen die Schreibszene 2017 sich in der Schreibszene 1987 erkennt. Das Wiedererkennen in den Gemeinplätzen über die und dem Unveränderten an der Stadt, an dem, was man glaubt, mit einem Text erreichen zu können, ist vielleicht das Spezifische des Moments jetzt, dasjenige, was die Gegenwart ausmacht, die ich jetzt nicht erkennen kann. Evtl. wird in der Zukunft an meinen Irrtümern über die Gemeinsamkeiten von 1987 und 2017 der Unterschied zwischen den beiden Zeiten hervortreten, beginnend damit, dass die Schreibszene 1987 sich selbst eher als Literaturszene genannt hätte, oder nur Szene. Das Entscheidende verfehlt ohnehin den Jahrestag, siehe Elisabeth Borchers, was sie über Zukünftiges schreibt und was für den Februar 2018 gilt, hat sie 1986 geschrieben, kein Jubiläum, stattdessen Zufall:

„Als alles vorbei war
Krieg und Frieden
Mann und Frau
Form und Inhalt

Als die Sonne auf-
und untergegangen war
samt Mond und Stern und
den Musikalien des Himmels
und der Erde

Setzten wir uns
und warteten
mit Neugier auf das
was kommt.“

Bitte besucht uns dort, wo wir sitzen werden.