Das Europa der Alten

Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von übermorgen […]  – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinnen, – […] wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. – Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon – anders kommt!

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

In wohl keinem Land der EU wird die intellektuelle Europadebatte in solch einem Ausmaß von den Siebzig- und Achtzigjährigen dominiert wie in Deutschland: Man ist alt und man ist unter sich. An die Öffentlichkeit dringen Texte, die nicht selten wie Gesprächsprotokolle aus dem greisen, weisen Elfenbeinturm wirken. In der illustren Runde finden sich regelmäßig Jürgen Habermas, Dieter Grimm und Heinrich August Winkler zusammen. Als Quotenjungspund darf sich Herfried Münkler kurz zu den Geronten gesellen; ihm wird zumindest bei Winkler ein Platz eingeräumt. „Nachgeborene (allesamt über fünfzig), die sich wie Ulrike Guérot und Robert Menasse für mehr oder anderes als den postklassischen Nationalstaat interessieren oder als Journalisten Merkels kurzlebige Politik der offenen Grenzen begrüßten, stehen schnell im Verdacht, zu den „falschen Freunden Europas“ zu gehören, so Winklers Formulierung im Spiegel vom 21. Oktober.“ [1. In derselben Ausgabe bekannte sich Habermas einmal mehr zu seinem europapolitischen „Macronismus“, auch wenn er für die innenpolitischen Reformen des französischen Präsidenten nicht in Haft genommen werde möchte.]

(Nichts verunsichert mich so sehr wie die deutsche Ordinarienuniversität und ihre Atavismen. Ihre Rituale, ihre Hierarchien, ihr Habitus, ihr Entre-soi, ihre Codes. Es ist Korporatismus der unangenehmeren Sorte, der sich der Öffentlichkeit nicht aussetzt, sondern sich ihr überstülpt. Dieter Grimm spricht ohnehin lieber vom „Publikum“. Ich halte das kaum aus, will die Leute sofort von ihrem Podest stürzen, fühle stark den Drang, mich daneben zu benehmen. Affekte des Dorfkindes und Bauernenkels: Make Germany Thomas Müntzer again.)

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. November 2017 war es an Dieter Grimm, einem international renommierten Kenner des EU-Rechts, Emmanuel Macrons Forderung nach einem „souveränen“ Europa zurückzuweisen. Im Anschluss an seine in Europa ja – aber welches? vorgebrachten Überlegungen führt Grimm zunächst eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Souveränität und Hoheitsrechten ein. [2. Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München: C. H. Beck, 2016, S. 49-70.] Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union können einzelne Hoheitsrechte abtreten, ohne dass ihre Souveränität daran Schaden nimmt, wie auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag bekräftigte. Wer anderes behauptet, liege schlicht „falsch“, schreibt Grimm. Und damit war das Thema scheinbar abgehakt.

Doch wird man den Eindruck nicht los, hier werden Rückzugsgefechte geführt.. Dass die EZB –  also eine Zentralbank, der kein europäischer Staat gegenübersteht – seit ein paar Jahren als Lender of last resort agiert, wäre für viele Theoretiker des postklassischen Nationalstaates vor zehn Jahren noch unvorstellbar gewesen. Heute versucht man sich zu beruhigen. Draghi habe höchstens ein monetäres Hoheitsrecht an sich gezogen, aber doch keinen Souveränitätspol ausgebildet. Dass die Mitgliedsstaaten diese Volte veranlasst hätten, lässt sich nicht behaupten. Im Juni 2015 registrierte Habermas in der Süddeutschen Zeitung, dass Entscheidendes vor sich ging. Draghi simulierte eine „Fiskalsouveränität […], die er gar nicht besaß“. Die EZB „musste vorpreschen, weil die Regierungschefs unfähig waren“.

Es ist seltsam, dass bei Fragen zur Lage der EU und der Eurozone, die auf dem ganzen Kontinent kontrovers diskutiert werden, der Verweis auf das Karlsruher Orakel mit großer Selbstverständlichkeit Letztgültigkeit beansprucht, und zwar nicht nur für die deutsche Europapolitik, sondern für die Auseinandersetzung über die EU tout court. Grimm sieht das Bundesverfassungsgericht oft in Notwehr handeln, weil der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sich über Jahrzehnte als Motor der europäischen Integration verstand und die Verträge zu Lasten der Mitgliedstaaten auslegte. So fällten die europäischen Richter 1963 und 1964 weitreichende Urteile, die europäisches Recht zunächst für unmittelbar anwendbar in den Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erklärten und ihm anschließend sogar ein Vorrecht gegenüber nationalem Recht einräumten. Ein schleichender Konstitutionalisierungsprozess der europäischen Verträge begann, der in dem Maße, in dem er Regelungen gleichsam Verfassungsrang zusprach, zahlreiche Sachverhalte dem politischen Entscheidungsprozess entzog. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker brachte die Sache ungeschönt auf den Punkt: „Es kann keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge geben.“ Europäisches Recht hat sich von den Einzelstaaten emanzipiert und gegen Politik immunisiert.

Diese Kompetenzakkumulation zu Gunsten des Europäischen Gerichtshofs ging, wie Grimm aufzeigt, auf Kosten der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten. Ihr Bewegungs- und Ermessensspielraum schwand, ohne dass es auf europäischer Ebene gelungen wäre, regulatorische Abhilfe zu schaffen. Die Folge war eine Liberalisierung der Wettbewerbs- und Sozialpolitik. Öffentliche Güter wurden im Namen des Diskriminierungsverbotes zunehmend privatisiert. Diese Vorschriften erlangten Geltung, ohne dass sie die Hürde demokratischer Zustimmung nehmen mussten, ja mehr noch: Umzusetzen war, was möglicherweise im nationalen Gesetzgebungsprozess ausdrücklich abgelehnt wurden war. Forciert und abgesegnet wurde all das von einem Gerichtshof, der von demokratischen Legitimationsströmen abgeschnitten ist. Grimm hält fest, dass der Europäische Gerichtshof freier agieren kann als jedes nationale Gericht.

Freilich ist die Agenda, die Grimm den Luxemburger Richtern – zurecht – unterstellt, keine überzeitliche Konstante, sondern an gewisse veränderliche historische Bedingungen gebunden. Ein erster Einwand: Seit 2014 zeugen die Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofes von größerer Rücksichtnahme auf nationalstaatliche Eigenheiten. Dies berührt vor allem den Zugang zu Sozialleistungen wie Kindergeld und Sozialhilfe, auf die zugezogene EU-Bürger nicht automatisch Anspruch erheben können. Das nationalstaatliche Recht, Nein zu sagen, wurde bestätigt, der Wohlfahrtsnationalismus ging gestärkt aus diesen Verhandlungen hervor, die einstigen Aktivisten am EuGH gaben klein bei. Für die Einschränkung des welfarism können die Mitgliedsstaaten offenbar bestens selbst sorgen. Sozialstaatlichkeit ja – aber für wen? [3. Auch wenn Grimm schreibt, “Der EuGH gibt tendenziell den wirtschaftlichen Grundrechten Vorrang vor den personalen, kommunikativen und sozialen Grundrechten. In den Mitgliedstaaten ist das umgekehrt“, möchte man wissen, auf welchen Personenkreis er sich dabei bezieht. Grimm, Europa ja – aber welches?, S. 39. ]

Ähnlich verhält es sich mit dem von Grimm thematisierten Verbot staatlicher Beihilfen, das mit den deren wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen für Unternehmen und öffentliche Einrichtungen begründet wird. In der Tat lieferte dieser Grundsatz linken Brexit-Befürwortern wie dem in Harvard lehrenden Ideenhistoriker Richard Tuck Munition. Selbst im Fall eines Wahlsieges von Labour würde ein ambitioniertes Verstaatlichungs- und Ausgabenprogramm am Veto der EU-Behörden scheitern. [4. Richard Tuck, „The Left Case for Brexit“, Dissent, 6. Juni 2016.] Dass über Großbritannien seit den achtziger Jahren eine beispiellose Deregulierungs- und Privatisierungswelle rollte, hat indes kaum etwas mit den Machenschaften des EuGH oder der Kommission, dafür umso mehr mit der Revolution Margaret Thatchers zu tun. De iure mag das Europarecht in seiner bestehenden Form ein erklärter Feind von Beihilfen und Industriepolitik sein, de facto werden sie allerdings oft hingenommen. Es ist davon auszugehen, dass kein einziger der Vorschläge im aktuellen Labour-Parteiprogramm gegen die europäischen Beihilfevorschriften verstoßen würde. [5. Jennifer Ranking und Patrick Wintour, „Corbyn reignites Labour debate over EU rules on state aid and socialist manifesto”, Guardian, 29. September 2017.] Und wie ist es darüber hinaus zu erklären, so möchte man Grimm fragen, dass die Tories und weite Teile der euroskeptischen Presse in Großbritannien den Austritt für geboten halten, weil das EU-Recht britische Unternehmen mit einer Unmenge von Umweltnormen, Sozialstandards und Arbeitszeitdirektiven behelligt?

 

Liest man Grimms Einwürfe zur Verfassung der Demokratie in Europa, vergisst man leicht, dass in Karlsruhe eines der mächtigsten Verfassungsgerichte Europas sitzt, vor allem wenn man es mit seinem französischen Nachbarn, dem Conseil constitutionnel vergleicht. Als das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon unter die Lupe nahm, berichtete sogar der britische Economist ehrfürchtig über „Germany’s most powerful institution“, ein Organ, in dem für manche zum Ausdruck komme, dass die Bundesrepublik dem Rechtsstaatsprinzip den Vorrang vor der Demokratie gebe. 2009 widersprach der damalige Präsident Hans-Jürgen Papier energisch Vorwürfen, Karlsruhe sei hyperaktiv und habe selbst jahrelang der Verrechtlichung des Politischen Vorschub geleistet. Doch an einer Sache ließ der Economist keinen Zweifel: Die Gerichtshöfe in Karlsruhe und Luxemburg belauern sich misstrauisch, beäugen argwöhnisch jeden Entschluss des Gegenübers: High-Noon unter Juristen.

Dieser Konflikt um Rechtsmacht verschwindet bei Grimm hinter einem Schleier objektivierender Erwägungen. Karlsruhe inszeniert sich gern als Hüter des Grundgesetzes, dem jegliche Ausweitung der eigenen institutionellen Reichweite fremd ist. Kann es sein, dass Grimm auch als Interessenvertreter einer Organisation spricht, der er von 1987 bis 1999 angehörte? Sein Sensorium für juridischen Lobbyismus in eigener Sache ist jedenfalls etwas einseitig ausgeprägt, „missionarischen Eifer“ legen nur die Kollegen aus Luxemburg an den Tag. Einer Europäisierung und Repolitisierung der Debatte, die sich auch Grimm wünscht, ist das nicht zuträglich.

Grimm ist keineswegs überzeugt, dass die Stärkung des europäischen Parlaments, wie sie Macron vorschwebt, die legitimatorischen Mankos der EU vollständig beheben kann. Und doch wäre damit ein Anfang gemacht, vorausgesetzt, man bemüht sich um länderübergreifende Parteilisten und ein einheitliches europäisches Wahlrecht. Bislang wählen die EU-Bürger nationale Parteien, die im Straßburger Parlament allerdings zu ideologisch lose zusammenhängenden Fraktionen zusammengeführt werden, für die in dieser Form niemand gestimmt hat. Eine machtbewusste kontinentale Volksvertretung bei gleichzeitigem Umbau der EU zu einem Bundesstaat droht, Politiker und Bürger weiter voneinander zu entfremden. Der Griff nach den europäischen Sternen würde Grimm zufolge lediglich die Suche nach nationalen Wurzeln befeuern.

Ahistorisches Wunschdenken

In der Zeit vom 30. November kommentierte auch Heinrich August Winkler Macrons Vorstöße. Er meint, in Macrons Plänen einen Bruch mit der traditionellen französischen Haltung ausmachen zu können und offenbart damit eine hochgradig selektives, wenn nicht sogar lückenhaftes Gedächtnis. Es steht außer Zweifel, dass sich mit der Machtübernahme de Gaulles die intergouvernementale Europa-Idee in den politischen Zirkeln Frankreichs durchsetzte. Aber worum ging es denn Jean Monnet und Robert Schuman, als sie – zum Entsetzen von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack – zu Beginn der fünfziger Jahre auf die Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrien drangen? Um die Schaffung einer supranationalen Behörde, die für die weitere Integration Modellcharakter haben sollte. Winkler unterschlägt diese Aspekte der europäischen Integration geflissentlich.

Stattdessen tischt Winkler, der sich im Spiegel über „ahistorisches Wunschdenken“ ereiferte und vor dem „Ausfluss einer postfaktischen Geschichtsbetrachtung” warnte, den Lesern der Zeit vom 30. November Märchen auf: „Es war einmal eine Wertegemeinschaft, die sich Europäische Union nannte.“ Was treibt den Historiker um und ins Fabulieren? Korruption, Angriffe auf den Rechtsstaat und die Umwandlung liberaler Staaten in illiberale Demokratien bedrohen das Wertefundament der EU. Winkler denkt vor allem an Osteuropa, aber auch Malta bereitet ihm Sorgen. Wird dem nicht Einhalt geboten, läuft die EU Gefahr, ihre Seele zu verlieren.

Winkler greift in die historische Mottenkiste und beschwört die Ideale der Gründergeneration. Für den Westen sollen es die Werte richten. Man muss nicht unbedingt so weit gehen wie der Serbenführer Peter Handke, der diejenigen, die vollmundig von europäischen Werten reden, als „Arschlöcher“ titulierte. Aber dass die EWG 1958 ihr institutionelles Leben als Verteidigungsgemeinschaft hehrer Überzeugungen begann, ist eine phantasmagorische Vorstellung. Wenn Winkler den postklassischen Leviathan zum „Hort von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie“ erklärt, sind Zweifel erlaubt. Fast hat es den Anschein, als argumentiere er wider besseres, selbst niedergeschriebenes Wissen.

Die Gründungsjahre der EWG fielen zusammen mit dem äußerst gewaltsamen Ende des europäischen Kolonialismus, jener etwas anderen Form der Westbindung. In seiner imposanten dreibändigen Geschichte des Westens schildert Winkler das Grauen des Algerienkrieges. Frankreich hielt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbissen an seinen überseeischen Besitzungen fest, schon damals eine „Illusion“, so der Historiker. (Hingegen ist Winklers Aussage, der Philosophe und Soziologe Raymond Aron, der 1957 die Unabhängigkeit Algeriens für unausweichlich erklärte, sei „zu diesem Zeitpunkt noch ein Prediger in der Wüste“ gewesen, nur dann zu retten, wenn ihr der Zusatz „im konservativen Spektrum“ hinzugefügt wird.) Was zunächst wie eine begrenzte Kampagne der Aufstandsbekämpfung aussah, geriet ab 1956 zusehends außer Kontrolle. Die algerische Befreiungsfront FLN weitete den Kampf aus und scheute auch vor Anschlägen auf die Zivilbevölkerung nicht zurück. Das französische Militär hatte Sondervollmachten erhalten und ging in Algerien äußerst brutal vor. Alsbald ließ der antikoloniale Kampf auch die Metropole nicht unberührt. Nicht nur in Algiers, sondern auch in Pariser Polizeirevieren wurden festgenommene Demonstranten und militante Kriegsgegner systematisch gefoltert. Auch für Winkler ähnelte das Vorgehen der Pariser Ordnungshüter mitunter einem „Massaker“. Auch nach der Unabhängigkeit, die Algerien 1962 erlangte, blieben zahlreiche Taten auf französischer Seite ungeahndet. Es hagelte Amnestiegesetze. Für die in Algerien begangenen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – so Winklers Einschätzung – mussten sich die französischen Todesschwadronen nie verantworten.

Dem ist fast nichts hinzufügen. Nur die Idee, dass die Armee des Kolonialherren erst dann die Gangart verschärfte, als in Algerien der Guerrillakampf intensiviert wurde, und „ihrerseits“ zur Folterung „veranlasst“ wurde, ist mehr als diskutabel. Winklers kausale Großzügigkeit in allen Ehren, aber hier tut er dem FLN zu viel der Ehre an. Für Gewaltexzesse bedurfte die französische Armee keiner indigenen Anleitung oder Aufwiegelung. Zahlreiche Gräueltaten gingen der Gründung des FLN im Jahr 1954 voraus. So kamen bei der blutigen Niederschlagung von Unruhen am 8. Mai 1945 – dem sogenannten Massaker von Sétif – Tausende ums Leben. Die französische Armee wendete zahlreiche völker- und menschenrechtswidrige Methoden an, auf die sie auch in der Hochphase des Algerienkrieges zurückgriff. Das Massaker bildete – von der Lynchjustiz bis zu den Luftangriffen auf Zivilisten – die Blaupause für die kommenden Auseinandersetzungen. [6. Diesen Hinweis sowie zahlreiche Informationen zur Militär- und Kolonialgeschichte Frankreichs verdanke ich Grey Anderson. Ob die Gewalt zunächst von der französischen Polizei, weißen Siedlern (von denen mehr als hundert starben) oder Nordafrikanern ausging, lässt sich James McDougall zufolge nicht abschließend klären. James McDougall, History of Algeria (Cambridge: Cambridge University Press, 2017), S. 179-181. ] Solche (mithin schrecklichen) empirischen Trivia können Winklers Begriff des Westens jedoch nichts anhaben, ganz so, als ob der Schmutz der historischen Wirklichkeit an diesem abperlte. Was uns im Innersten zusammenhalten soll, erweist sich als abwischbare Oberfläche.

Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Winkler den Algerienkrieg vornehmlich als innerfranzösische Krise behandelt oder in den Kontext des Kalten Krieges stellt. In den Prozess, der zum Abschluss der Römischen Verträge führte, spielt Frankreichs widerwillige Dekolonisierung kaum hinein, wenn man der Geschichte des Westens Glauben schenkt. Rechtlich und in den Augen der meisten Franzosen war Algerien ohnehin keine Kolonie in Übersee, sondern ein Ausläufer Frankreichs in Nordafrika, der seit 1848 in drei Départements aufgeteilt war. [7. Selbstverständlich kamen die Bewohner Algeriens dennoch nicht in den Genuss aller den europäischen EWG-Mitgliedern zugesicherten Vorzüge. Die rechtlichen, politischen, wirtschatftlichen und sozialen Komplikationen dieser Hybrid-Lage erörtert Muriam Haleh Davis, deren demnächst erscheinende Monographie eine bahnbrechende Neueinschätzung der Rolle Algeriens in den frühen Jahren der Europäischen Integration vornehmen wird. Muriam Haleh Davis, „The Sahara as the ‚Cornerstone’ of Eurafrica: European Integration and Technical Sovereignty seen from the Desert”, Journal of European Integration History, Bd. 23, Nr. 1 (2017), S. 97-112.] Die koloniale Dimension der EWG ist Winkler ganze zwei lakonische Sätze wert: „Ein weiteres Treffen zwischen Adenauer und Mollet im Februar 1957 half, das Problem der überseeischen Gebiete Frankreichs, Belgiens und der Niederlande zu lösen. Die assoziierten Überseegebiete erhielten freien Zugang zum Gemeinsamen Markt, nicht aber die von den Kolonialmächten verlangten Preisgarantien.“

In der jüngeren Forschung wird nun aber genau diese Reibungslosigkeit zum Problem. Warum ließen sich die fünf Gründungsmitglieder der EWG trotz anfänglicher Vorbehalte so leicht davon überzeugen, dass die erweiterte – und oktroyierte – Zugehörigkeit der französischen Überseegebiete in den Römischen Verträgen garantiert werden sollte? [8. Art. 227 (2): „Für Algerien und die französischen überseeischen Departements gelten mit Inkrafttreten dieses Vertrags seine besonderen und allgemeinen Bestimmungen über – den freien Warenverkehr, – die Landwirtschaft, mit Ausnahme des Artikels 40 Absatz 4, – den freien Dienstleistungsverkehr, – die Wettbewerbsregeln, – die in den Artikeln 108, 109 und 226 vorgesehenen Schutzmaßnahmen, – die Organe.“] Im Mai 1956 legte Gaston Defferre, der Minister für überseeische Gebiete, dem französischen Premier Guy Mollet ein Memorandum vor, das die Mitgliedschaft der Überseeterritorien zu einer nicht zur Disposition stehenden Vorbedingung des französischen Beitritts zur EWG erklärt. Defferre erhoffte sich, dass im Rahmen des Europa der Sechs die finanzielle Unterstützung für die Kolonien auf mehreren Schultern verteilt werden könne, denn Frankreich war längst nicht mehr in der Lage, die notwendigen Investitionen aus dem eigenen Haushalt zu bestreiten.

Der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, ohnehin kein Freund des im Ruch des Protektionismus stehenden europäischen Einigungsprozesses, war alles andere als begeistert. Auch im deutschen Außenministerium, das die Geschehnisse in Algerien mit großer Sorge verfolgte, wusste man, dass es um Europa als Wertegemeinschaft nicht weit her war: Dass die Assoziation der Überseeterritorien „lediglich der Wahrung des kolonialen Status quo dient“, war allen Beteiligten klar. Für das Europa der Sechs bestehe die Gefahr, in Verwicklungen hineingezogen zu werden, „welche freiheitliche politische Entwicklungen […] erschweren.“ [9. Vermerk, Länderabteilung, Außenministerium, 4. Dezember 1956, zitiert in Guido Thiemeyer, „West German perceptions of Africa and the Association of the Overseas Territories with the Common Market, 1956-1957“, in Marie-Thérèse Bitsch und Gérard Bossuat (Hg.), L’Europe unie et l’Afrique: de l’idée d’Eurafrique à la convention de Lomé 1, (Bruxelles: Bruylant, Paris: L.G.D.J., Baden-Baden: Nomos, 2005), S. 274.] Außenminister Heinrich von Brentano wiederum brachte ein anderes Kalkül ins Spiel. Könne sich die BRD wirklich erlauben, abseits zu stehen und den französischen Verbündeten im Stich zu lassen, während die sowjetische Krake sich anschickt, mit ihren Tentakeln Afrika zu umschlingen? Der Westen dürfe Afrika nicht kampflos den Russen überlassen. Auch das gibt es: Antikommunismus schlägt Antikolonialismus. Als de Gaulle sich 1960 vom kolonialen Erbe verabschiedete und sein Vokabular auf Entwicklungshilfe umstellte, wollte er keinesfalls missverstanden werden: „Das heißt natürlich nicht, dass ich in irgendeiner Weise das kolonisatorische Werk in Abrede stelle, das der europäische Westen, und Frankreich ganz besonders, vollbracht hat. Ich bin mehr denn je der Ansicht, dass diese Werk schön, groß und fruchtbar war.“ [10. Charles de Gaulle, Pressekonferenz vom 5. September 1960 in Charles de Gaulle, Discours et message, Bd.. 3, (Paris: Plon, 1970), S. 236.] Wer über Werte in der EU reden will, sollte über den langen Schatten von „Eurafrique“ – für Robert Schuman eine „notwendige Verlängerung eines versöhnten Europas“ – nicht schweigen. [11. Robert Schuman, „Unite europenne et Eurafrique: politique revolutionnaire“, in: Union française et parlement, Nr. 79 (1957), S. 1-3.] Winkler schwadroniert lieber von einem „normativen Kerneuropa“. Eine Zeit lang liefen europäische Einigung und Kolonialismus parallel. Stellt man diese Tatsache in Rechnung, ergibt sich ein anderer Blick auf die Gründungserzählung der EU und gegenwärtige Migrationsdebatten.

 

In seinem Zeit-Essay geht Winkler bezeichnenderweise nur ein einziges Mal und mit starkem Gegenwartsbezug auf die „ehemaligen europäischen Kolonialmächte“ ein: Ihre Schwierigkeiten bei der „Integration einer großen Zahl von Menschen aus ihren ehemaligen Überseegebieten“ hätten sie davor bewahrt, in der Flüchtlingskrise eine falsch verstandene und kontraproduktive Offenherzigkeit an den Tag zu legen. Von den ehemaligen Kolonialmächten zu lernen, heißt, die Türen zum Haus der Nation geschlossen zu halten. Winkler gibt sich gegenüber Merkel streng und brummt Deutschland kollektives Nachsitzen auf: „Die selbstkritische Aufarbeitung der tieferen Gründe für die zeitweilige Isolierung, in die die Bundesrepublik durch ihr hegemoniales Auftreten in der Flüchtlingspolitik geraten ist, lässt auf sich warten.“ Tel est l‘impensé de l‘historien.