Erfurt zum Beispiel. Zur Frage der Straßennamen

 

Im Dezember 1991 stimmte der Erfurter Stadtrat über die Umbenennung einer Reihe von Straßen ab, die nach historischen Persönlichkeiten benannt waren. Begründet wurde der Vorgang mit einem lapidaren Satz: »Eine Überprüfung der Biographien der betreffenden Personen ergab, daß aus heutiger Sicht ihre Leistungen eine Straßennamensvergabe kaum rechtfertigen.«

(Dieser Text ist im Septemberheft 2022, Merkur # 879, erschienen.)

Die Formulierung ist plausibel, insofern die Benennung einer Straße nach einer Person eine Ehrung darstellt. Die wechselvolle deutsche Geschichte macht nachvollziehbar, dass die Gründe für solch eine Ehrung sich ändern können. Sie sind abhängig vom jeweiligen politischen System, das sich über symbolische Formen des Gedenkens in eine bestimmte geschichtliche Linie stellt. Die Weimarer Republik hatte ein anderes Selbstverständnis als das Kaiserreich, das der DDR unterschied sich von dem der NS-Diktatur.

Wobei diese monolithische Gegenüberstellung der einzelnen Systeme ein Teil des Problems ist, vor dem die Debatte über Straßennamen aktuell steht. Die Arbeit der Geschichtswissenschaft ist dynamisch, die Diskussion und Bewertung des Gewesenen ein sich ständig verändernder, tendenziell unabschließbarer Prozess. So unterhielt die DDR der frühen Jahre etwa ein anderes Verhältnis zum preußischen Erbe als in ihrer Endphase. Gleiches gilt für den Stalinismus: Die Denkmäler und Straßennamen, die den sowjetischen Diktator in den Anfangsjahren ehren sollten, verschwanden nach 1961 aus den Stadtbildern. Im wiedervereinigten Deutschland differenziert sich wiederum der Blick auf den Umgang mit der NS-Zeit in den Anfangsjahren der Bundesrepublik aus; spätestens mit der medial stark begleiteten kritischen Aufarbeitung von personalen Kontinuitäten im Auswärtigen Amt nach 1945 hat seit 2010 eine umfängliche Erforschung westdeutscher Institutionengeschichte eingesetzt, die bis heute anhält. [1. Eckart Conze /Norbert Frei /Peter Hayes /Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und der Bundesrepublik. München: Blessing 2010; zuletzt etwa Klaus-Dietmar Henke, Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage des BND in der Ära Adenauer. Berlin: Ch. Links 2022.] Gerade in der Zeitgeschichte, die sich mit der jüngsten Epoche, in der Regel den vergangenen dreißig Jahren befasst, wird man nicht müde zu betonen, dass historische Erkenntnisse »stets aus den Problemlagen der Gegenwart gewonnen« werden. [1. Gabriele Metzler, Zeitgeschichte: Begriff – Disziplin – Problem. 2014 (docupedia.de/zg/Zeitgeschichte).] Es läge also auf der Hand, dass die in jüngerer Zeit verstärkte Befassung mit der deutschen Kolonialgeschichte sich auf Formen der Gedenkkultur auswirkt – und folglich auch zu Straßenumbenennungen führt.

Das passiert durchaus. So waren in Berlin gleich zwei Straßen nach Hermann von Wissmann (1853–1905) benannt. Wissmann schlug als Reichskommissar mit einer Söldnerarmee den Aufstand der lokalen Bevölkerung in Ostafrika nieder und ermöglichte damit die Kolonialisierung des heutigen Tansania, wo er 1895/96 als Gouverneur amtierte. Seit 2021 (Neukölln) und 2022 (Grunewald) wird er in der Hauptstadt nicht mehr geehrt. In beiden Fällen fiel die Wahl für die neuen Namen auf Personen, in deren Biografien auf unterschiedliche Weise die problematische Geschichte Wissmanns aufgehoben ist. In Neukölln wird mit Lucy Lameck (1934–1993) nun die erste Frau im tansanischen Parlament gewürdigt und die gleiche Kolonialgeschichte damit nicht mehr durch den Täter, sondern aus der Perspektive der Opfer erinnert. In Grunewald trägt die heutige Baraschstraße den Namen eines jüdischen Brüderpaars, das bis zur »Arisierung« 1936 eine gleichnamige Warenhauskette betrieb. Der letzte Berliner Wohnort von Artur (geboren 1872, ermordet 1942 im KZ Auschwitz) und Irene Barasch, die gemeinsam mit den Kindern Else und Werner dem Holocaust durch Flucht aus Deutschland entkam, war das Haus Nr. 11 in der damaligen Wissmannstraße. Dadurch bleibt im neuen Namen der alte aufbewahrt.

Zwei Lösungen auf der Höhe zeitgemäßer Erinnerungspolitik, die auf verschiedene Weise die verbrecherische deutsche Geschichte schon in den neuen Bezeichnungen miterzählen. Die Zähigkeit der Umbenennungsprozesse bei Straßennamen mit kolonialem (und teils auch bei nationalsozialistischem) Bezug, die in den Berliner Fällen erst in der Schlussphase durch Information und Beteiligung der Bevölkerung von den Bezirksämtern umsichtig moderiert wurden, ist dennoch auffällig. Erste Bemühungen, Wissmann die Ehrung durch den Straßennamen zu entziehen, datieren von 2005. [1. »Wir löschen die Geschichte nicht aus, wir machen sie erst sichtbar«. Interview von Katja Ilken mit Mnyaka Sururu Mboro. In: Spiegel vom 23. April 2021 (www.spiegel.de/geschichte/umbenennung-der-wissmannstrasse-in-berlin-wir-machen-die-geschichte-erst-sichtbar-a-648ebb2b-a424-458a-a56d-adcd4ac8a71c).]

Im Afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding geht die Problematisierung noch weiter zurück: Fast fünfunddreißig Jahre dauerte es, ehe die zuständige Bezirksverordnetenversammlung (BVV) 2018 eine Reihe von Umbenennungen beschloss. Künftig soll es eine Anna-Mungunda-Allee /Maji-Maji-Allee geben (zuvor Petersallee), einen Manga-Bell-Platz (zuvor Nachtigalplatz) sowie eine Cornelius-Fredericks-Straße (zuvor Lüderitzstraße); umgesetzt ist der Beschluss allerdings bis heute nicht.

Erinnerungspolitische Beißreflexe

Es gibt in der Straßennamen-Diskussion durchaus bewährte Mittel im Umgang mit problematischen Bezeichnungen, die beim Komplex Kolonialgeschichte nur zögerlich, wenn überhaupt Anwendung finden dürfen. Wenn man sich fragt, warum das so ist, lautet die wenig überraschende Antwort: koloniale Amnesie. Was verdrängt ist, daran soll auch nicht erinnert werden – das lange Ausblenden und Kleinreden der kolonialen Geschichte Deutschlands bedingt, dass die Ausprägung kultureller Formen des Gedenkens verhindert und verzögert wird. Das geschieht durch eine erstaunliche Verunsachlichung der öffentlichen, politisch wie medial geführten Debatte. Beispielhaft dafür sind die Gemeinplätze des Historikers Hanno Hochmuth in einem taz-Artikel von 2019; in dem Text geht es um einen Grünen-Vorschlag in der BVV von Friedrichshain-Kreuzberg zur Umbenennung des sogenannten Generalszugs. »Er halte nicht viel davon, die Maßstäbe von heute retrospektiv auf die Vergangenheit zu legen, sagt er. ›Geschichte hat immer einen Schatten.‹ Die Befreiungskriege seien natürlich militant und aggressiv gewesen, auch der deutsche Nationalismus sei in dieser Zeit entstanden. ›Aber wenn wir anfangen die Geschichte zu säubern in Hinblick auf die heutigen Standards, wüssten wir gar nicht, wo wir aufhören sollten.‹« [1. Was Kreuzberg im Schilde führt. In: taz vom 19. März 2019 (taz.de/Strassen-umbenennen-in-Berlin/!5578655/).]

Der Historiker wird als Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) eingeführt. Ein Fachmann, sollte man meinen, in dessen bisheriger Forschung sich allerdings keine Expertise zu einem der in Rede stehenden Themen finden lässt. Was Hochmuth stattdessen anstimmt, ist der exemplarische Dreiklang aus Reflexen, wie sie in ablehnenden Facebook-Kommentaren zu dekolonialen Umbenennungsinitiativen verlässlich auftauchen: erstens die Fantasie einer »Säuberung« der Geschichte; zweitens die Flucht in die Übertreibung (»Wo würde das aufhören?«) und drittens die Ablehnung der häufig als »moralisch« diskreditierten Betrachtung von heute aus.

Wie abwegig diese Behauptungen sind, lässt sich am besten am konkreten Fall beobachten. In Erfurt beispielsweise präsentierte die dortige Decolonize-Gruppe gemeinsam mit dem Thüringer Zweig der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) 2020 einen Vorschlag zur Umbenennung des Nettelbeckufers im Norden der Stadt. Gegen den sogleich erhobenen Vorwurf der »Säuberung« sprach dabei schon, dass die Mehrzahl der Menschen, also auch jene, die dem Projekt umgehend ablehnend gegenüberstanden, weil sie Geschichtsvergessenheit befürchteten, erst einmal nachschlagen mussten, welche Geschichte sie vergessen hatten – die Erinnerungskraft des Straßennamens war so verblasst, dass es sich bei Nettelbeck auch um eine Stadt in Niedersachen oder den Erfinder des Lineals hätte handeln können.

In alten Lexika wird Joachim Nettelbeck (1738–1824) zumeist als Verteidiger von Kolberg geführt; in Veit Harlans nach dem Ort benannten NS-Propagandafilm von 1945, der bis heute nur unter Vorbehalt vorgeführt werden darf, spielt der beliebte Schauspieler Heinrich George diese Rolle. Die Infobroschüre der Initiative fokussierte auf den Kolonialenthusiasmus Nettelbecks, [1. decolonizeerfurt.wordpress.com/infobroschure-zum-nettelbeckufer] der bei drei preußischen Königen für den Erwerb von Kolonien lobbyierte und selbst auf Schiffen tätig war, um am transatlantischen Versklavungshandel zu verdienen. Anderswo haben sich Umbenennungsinitiativen erfolgreich auf diese Broschüre bezogen, so in Dortmund (Nettelbeckstraße, Umbenennungsbeschluss 2020) [1. www.nordstadtblogger.de/mit-unvorstellbarem-menschlichen-leid-geld-verdient-strasse-im-hafenquartier-nicht-mehr-nach-sklavenhaendler-benannt/] und Berlin (Nettelbeckplatz, Umbenennungsbeschluss 2021).

Außerdem organisierte die Erfurter Initiative Fachgespräche und Veranstaltungen, auf denen zum einen über Sklaverei-Geschichte (mit Michael Zeuske) oder deutsche Antisklaverei-Bewegungen zu Lebzeiten Nettelbecks (mit Sarah Lentz) informiert wurde – und damit über die Hintergründe einer Zeit, zu der auch Persönlichkeiten wie Johann Friedrich Struensee zählten (1737–1772). [1. Sarah Lentz, »Wer helfen kann, der helfe!« Deutsche SklavereigegnerInnen und die atlantische Abolitionsbewegung, 1780–1860. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020.] Der Hallenser Arzt war für kurze Zeit faktisch Regent von Dänemark und schaffte in dieser Position die Sklaverei ab, während Nettelbeck zeitgleich vom Versklavungshandel profitierte. Zum anderen haben Vorführungen des Kolberg-Films und eine Lesung mit Texten von und über Nettelbeck die Konturen der historischen Figur und ihrer Konstruktion als Nationalheld geschärft. Damit dürfte Erfurt aktuell vermutlich der Hotspot deutscher Nettelbeck-Forschung sein, was beispielhaft zeigt, wie weit sich das historische Feld ausmessen lässt, das hinter einem so unscheinbaren, weil alltäglichen Zeichen wie einem Straßennamen liegt. Vor allem aber wird durch das Zusammentragen all des verstreuten und verdrängten Wissens deutlich, dass der Vorwurf der »Säuberung« von Geschichte abstruserweise vor allem an die Leute adressiert ist, die sich tatsächlich mit ihr beschäftigen.

Bauchgefühl und Wirklichkeit

Die diskursive Verdrehung von Realität findet sich im Erfurter Fall auch beim zweiten Hochmuth-Reflex, der Flucht in die Übertreibung. Wo die Initiative sich für eine konkrete Umbenennung engagiert, landen ablehnende Äußerungen oft nach zwei Sätzen bei Luther, Thälmann, Stauffenberg. Genutzt werden diese Analogien aber nicht zur Bestimmung von Kriterien beim Umgang mit problematischer Geschichte, sondern als Schutzbehauptung; die vermeintliche Logik, man müsse die nach diesen Personen benannten Straßen folglich auch umbenennen, bleibt ohne Konsequenz: weil das in Erfurt niemand fordert und es eben Kategorien zur Unterscheidung gebe. So argumentierte der Globalhistoriker Jürgen Zimmerer in einem Interview, dass da, wo eine Diskussion aufgebracht wird, Begründungen neu gegeben werden müssten: »Also muss man jetzt sagen, wofür ein Nettelbeck heute geehrt werden soll. Denn eine Straßenbenennung ist eine Ehrung […] Wenn man das Standardbeispiel Stauffenberg nimmt, dann tun wir gut daran, ihn zu entmythisieren und seine Rolle im Vernichtungskrieg, in der Kriegsmaschinerie der Wehrmacht zu sehen. Aber im Falle Stauffenberg lässt sich auch die Frage beantworten, wofür er heute noch vorbildhaft ist – für sein Attentat auf Hitler.« [1. Matthias Dell, Jürgen Zimmerer: »Denkmäler werden ständig errichtet und abgebaut«. In: Thüringer Allgemeine vom 11. Februar 2021.]

Übertrieben wird die Debatte in Erfurt auch mit Zahlen. Oberbürgermeister ist Andreas Bausewein von der SPD, deren Landesvorsitzender er bis 2017 war und die in seiner Anwesenheit auf dem Parteitag im Herbst 2020 beschloss, im Zuge von Rassismusbekämpfung auch »das koloniale Erbe von Kommunen aufzuarbeiten«. Bausewein gab sich im Februar 2021 in der Thüringer Allgemeinen dennoch als Umbenennungsgegner zu erkennen: »Aber wenn wir alle historischen Persönlichkeiten mit heutigem Maß messen würden, müssten wir 80 Prozent der Straßennamen ändern.« [1. Holger Wetzel, Bausewein gegen Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers. In: Thüringer Allgemeine vom 2. Februar 2021.] Von den 1769 Straßen, Plätzen, Wegen und Gassen in der Thüringer Landeshauptstadt sind nur rund 390 nach Personen benannt, »das sind ca. 22 Prozent«, wie die Umbenennungsinitiative nachrechnete. Davon hat die geringste Zahl einen kolonialen Bezug, wie er durch das Nettelbeckufer aktuell im Zentrum der Debatte steht. Die riesige Lücke zwischen den von Bausewein aufgerufenen achtzig Prozent und der realen Zahl, die im Nach-Komma-Bereich unter einem Prozent zu finden sein dürfte, illustriert das Bauchgefühl von Verlustängsten, mit dem dekoloniale Initiativen konfrontiert sind. Dabei werden diese im besagten Landesparteitagsbeschluss der SPD ausdrücklich erwähnt.

Bauseweins Statement streift auch den dritten Aspekt der Ablehnungsrhetorik gegen Dekolonisierungsbemühungen – dass angeblich nicht die Maßstäbe von heute angelegt werden dürften bei der Frage, ob eine Lebensleistung die Ehrung durch Straßennamensvergabe weiterhin rechtfertigt. »Die Wahl von Straßennamen ist ein politisches Verfahren, das von ideologischen Bedürfnissen und politischen Machtverhältnissen bestimmt wird«, schrieb der israelische Kulturgeograf Maoz Azaryahu 1997 in einem Aufsatz. [1. »The selection of street names is a political procedure determined by ideological needs and political power relations.« Maoz Azaryahu, German reunification and the politics of street names: the case of East Berlin. In: Political Geography, Nr. 16/6, August 1997.] Zehn Jahre zuvor hatte Azaryahu eine der wenigen größeren Untersuchungen über die Symbolpolitik fertiggestellt, die sich auch mit Straßennamen machen lässt: Von Wilhelmplatz zu Thälmannplatz – Politische Symbole im öffentlichen Leben der DDR. In der geschichtlichen Herleitung wird darauf verwiesen, wie Preußen die Wahl der Straßennamen politisierte, um dem eigenen Selbstbild Ausdruck zu verleihen. Eine Angelegenheit von höchster Priorität: »Während der Befreiungskriege im Dezember 1813 wurden die Straßenschilder in den drei preußischen Residenzstädten Berlin, Potsdam und Charlottenburg vom preußischen Staat ›verstaatlicht‹. Bis dahin war der Berliner Magistrat für die Benennung von Straßen und Plätzen in der preußischen Hauptstadt verantwortlich […] Mit dem königlichen Erlaß vom Dezember 1813 wurden die Straßenschilder in Berlin zu offiziellen Symbolträgern des preußischen Staates.« [1. Die deutsche Ausgabe erschien 1991 im Bleicher Verlag in Gerlingen.]

Im Erfurter Fall wurde 1905 eine neugebaute Straße nach Nettelbeck benannt. Auch wenn in Zeitungsartikeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus auf dessen Kolonialleistungen abgehoben wurde, galt die Ehrung seinerzeit vermutlich dem Patrioten und »Verteidiger von Kolberg«. Das deckt sich etwa mit der Darstellung von Vergabekonjunkturen, wie sie der Regionalhistoriker Karl August Schleiden 1993 für Saarbrücken beschrieben hat. [1. Karl August Schleiden, Die schöne Luise und der General aus Pappe. Straßennamen als Ausdruck politischer Einflußnahme am Beispiel von Saarbrücken. In: Eckstein. Journal für Geschichte, Nr. 4, 1993.] Interessant daran ist, wie sehr die Benennungen im ausgehenden 19. Jahrhundert dort im »Zeichen des Nationalismus« standen – und wie sehr mit ihnen Politik gemacht wurde. So schreibt Schleiden: »Auffallend war, daß sich diese patriotischen Namen auf die Arbeiterviertel konzentrierten, ein mehr oder weniger wirksames Mittel monarchistischer Indoktrination.« Eine Milieucharakterisierung, die wiederum auf die damalige Erfurter SPD-Hochburg Ilversgehofen zutrifft, in der das Nettelbeckufer liegt; einen Steinwurf entfernt wurde 1902 mit dem Tivoli ein eigenes Kultur- und Veranstaltungshaus eingeweiht. [1. www.erfurt-web.de/Erfurt_Hochburg_Arbeiterbewegung_SPD] Es erscheint also plausibel, dass die Benennung des Ufers nach Nettelbeck ein Versuch gewesen ist, die Wählerschaft der erstarkenden Sozialdemokratie zu demoralisieren.

In Saarbrücken kam Nettelbeck übrigens 1909 zur Ehrung durch einen Straßennamen, 1947 wurde die Straße unter französischer Verwaltung (1947–1956) umbenannt (Im Stockenbruch). Das Erfurter Nettelbeckufer erhielt im Jahr 1950 den Namen Goerdelerufer, nach einem Protagonisten des konservativen Widerstands gegen Hitler. Der fiel bald in Ungnade, weshalb die Straße 1956 erneut umbenannt wurde – und zwar zurück in Nettelbeckufer. Dieser Schritt dürfte das »Ergebnis einer geschichtspolitischen Farce des Spätstalinismus« sein, wie es 2021 in einem FAZ-Artikel hieß. [1. Urs Lindner, Wie kam der Sklavenhändler wieder zu Ehren? In: FAZ vom 1. November 2021 (www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/das-erfurter-nettelbeckufer-und-die-geschichtspolitik-der-ddr-17611809.html).] Die frühe DDR hatte in einem geschichtswissenschaftlichen turn die Befreiungskriege als historische Folie für die Propagandaschlachten mit dem Westen entdeckt, wodurch Nettelbeck dann zu einer Art Pionier der deutsch-sowjetischen Freundschaft promoviert wurde.

Wer sich nun spaßeshalber die Mühe machen wollte, dem dritten Ablehnungsargument folgend und anders als bei jeder Straßenbenennung üblich, nicht heutige Maßstäbe für die Beurteilung Nettelbecks anzulegen, wäre schnell überfordert. Denn welche sollten das sein? Die aus der Zeit des Kaiserreichs von 1905, die auch vom Kulturkampf gegen die SPD und ihre Klientel getrieben waren? Die aus der frühen, stalinistisch geprägten DDR von 1956, die durch die aufgeheizte Systemkonkurrenz zur BRD motiviert wurden? Und selbst wenn man Nettelbeck vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit betrachten würde, was weder bei der Erst- noch bei der Rückbenennung getan wurde, zeigte schon das Beispiel Struensees, dass Kolonialenthusiasmus und Menschenhandel keineswegs und unausweichlich das tägliche Brot aller Deutschen im 19. Jahrhundert gewesen sind.

Gegen die Kritik an Nettelbeck kann nüchtern betrachtet also keiner der drei Standardreflexe der Ablehnung aufgeboten werden. Für eine Umbenennung spricht dagegen schon der Vorschlag der Initiative: Gert Schramm. Schramm wurde 1928 geboren als Sohn eines afroamerikanischen Ingenieurs und einer weißen Erfurterin am Nettelbeckufer 15. Er überlebte das KZ Buchenwald, in dem er aus rassistischen Gründen inhaftiert worden war. Das Gert-Schramm-Ufer vereinigte damit gleich beide Aspekte der Berliner Wissmann-Lösungen in sich – den Wechsel hin zur Opferperspektive auf die Kolonialgeschichte und die biografische Verankerung in der Straßengeschichte durch das Geburtshaus. Wann immer künftige Enkel ihre Großeltern fragen sollten, wer dieser Gert Schramm war und wieso die Straße nach ihm heißt, würde die Geschichte komprimierende Antwort lauten: weil er am Nettelbeckufer geboren wurde. Mit Gert Schramm, der sich nach 1990 in der antirassistischen Zeitzeugenarbeit und gegen Rechtsextremismus engagierte und 2016 in Eberswalde starb, wo, angeregt durch das Erfurter Engagement, der Platz vor dem Bahnhof seit 2020 nach ihm heißt, würde nicht zuletzt dem jahrhundertelangen afrodeutschen Leben zu Sichtbarkeit verholfen. Das ist bisher durch gerade eine Handvoll Straßennamen im Bundesgebiet repräsentiert.

Transformationsgeschichte(n)

Das alles lässt sich anführen und argumentieren – und dennoch ist der Widerstand, der sich gegen dekoloniale Umbenennungsprojekte richtet, damit nicht gänzlich begriffen. Auch weil es an Systematiken zur Frage der Straßennamen in den Debatten mangelt. »Straßenschilder sind banale Objekte«, hat der Kulturgeograf Azaryahu festgestellt. [1. »Street signs are mundane objects.« Maoz Azaryahu: German reunification and the politics of street names: the case of East Berlin.] Sie sind zwar präsent und stiften auf diese Weise Identität, die dann in Zweifel gezogen zu werden droht, wenn es um Veränderungsvorschläge geht. Wobei es auch hier verschiedene Abstufungen gibt, wenn man bedenkt, dass Straßenumbenennungen Teil des Verwaltungshandelns sind. Soll im Zuge von Eingemeindungen eine Dopplung von Straßennamen vermieden werden, regiert geräuschlos das Behördenwesen; dass eine neue Adresse für Anwohnende stets mit einem gewissen Aufwand und mit Ausgaben verbunden ist, spielt hier keine Rolle – wird gegen dekoloniale Umbenennungsvorschläge aber verständnisvoll als Argument ins Feld geführt.

So gesehen fehlt es also auch an Routinen im Umgang mit Umbenennungsvorschlägen aus politischen Gründen. Die Umbrüche von 1945 und 1989/90 lieferten die Notwendigkeit zu handeln für die Politik frei Haus – die Fortexistenz von Hermann-Göring-Plätzen als etwaige Erinnerungszeichen einer schmutzigen deutschen Geschichte hätten nach der Kapitulation des NS-Regimes genauso wenig vermitteln können, dass eine neue Zeit beginnt, wie die andauernde Anwesenheit von Straßen der Waffenbrüderschaft nach 1989/90. Diesen besonderen Druck der Verhältnisse sucht man für die Kolonialgeschichte auf den ersten Blick vergebens. Zu tun hat das mit der kolonialen Amnesie. »Koloniale Kontinuitäten zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie wenig Umbruchsmöglichkeiten zulassen«, sagt die Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche. [1. Matthias Dell, »Straßennamen liefen als Randthema mit«. In: Thüringer Allgemeine vom 7. November 2020.]

Bezeichnenderweise wurden sogenannte Kolonialhelden auch dann noch mit Straßennamen geehrt, als dieses Kapitel deutscher Geschichte mit dem Versailler Vertrag von 1919 oberflächlich betrachtet beendet war. So wurde der als »Hänge-Peters« berüchtigte Kolonialverbrecher Carl Peters (Schreibweise auch: Karl Peters, 1856–1918), der im kolonialpolitisch aktiven Kaiserreich unehrenhaft aus dem Reichsdienst entlassen worden war, erst 1939 mit der Petersallee in Berlin-Wedding gewürdigt; die Nationalsozialisten betrieben ein großangelegtes Comeback des Mannes, den sie als Wegbereiter ihrer menschenverachtenden Anschauungen feierten.

Erfurt ist deshalb ein interessanter Fall für gesamtdeutsche Straßennamendebatten, weil es hier eine spezifisch ostdeutsche Transformationserfahrung gibt und die Erinnerung an die Umbenennungen von 1989/90 noch frischer ist. Viele Diskussionen, die in westdeutschen Städten an der Tagesordnung sind, müssen in Erfurt nicht mehr geführt werden. In den Jahren nach 1945 wurde, wie überall in der SBZ und später in der DDR, ein großer Teil des Erbes aus Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Zeit umbenannt. Die einstige Wissmannstraße (benannt 1919) heißt in der Thüringer Landeshauptstadt schon seit 1950 nach dem Musiker Christian Kittel (1732–1809).

Die Reduktion des militäraffinen Preußentums, das sich in den Namen von Generälen (Alvensleben, Roon, Radowitz usw.), Schlachtorten (Königgrätz, Belfort, Tannenberg usw.) und Herrschern (König, Kaiser, Bismarck usw.) auf Straßenschildern manifestierte, hat darüber hinaus praktische Vorteile – spätere Einträge in das Wimmelbild deutscher Geschichte, das die Namen auf dem Stadtplan zeichnen, haben das Obrigkeitsstaatsdenken korrigiert und mussten in Erfurt nicht an die Peripherie ausweichen. Dort wurden in Erfurt vielmehr die Referenzen ans Preußentum (neu) vermerkt, auf die sich die DDR-Geschichtspolitik in ihrer Endphase neu besann (Blücher, Körner, Clausewitz, Gneisenau im Neubaugebiet Kleiner Herrenberg im Südosten der Stadt, 1980).

Nun könnte man wegen der Transformationsgeschichte von 1989/90 vermuten, dass die Ablehnung von Umbenennungsvorschlägen auch durch ungute Erfahrungen bei der Übernahme des westdeutschen Politik- und Wirtschaftssystems getriggert werde. Die Frage, an welches geschichtliche Selbstbild etwa eine 2001 nach Ludwig Erhard (geboren 1897 in Fürth, gestorben 1977 in Bonn) benannte Straße in Leipzig andocken soll, ist berechtigt. Der Blick ins Archiv führt allerdings vor Augen, dass der Widerstand gegen Umbenennungen von Straßennamen mit kolonialem (und nationalsozialistischem) Bezug keine ostdeutsche Eigenart ist.

So wird der Rechtswissenschaftler Karl Peters (1904–1998) bundesweit in einer Weise geehrt, die seine Bedeutung außerhalb von Fachkreisen und Wirkungsorten vielleicht doch übersteigt. Es ist die Namensgleichheit mit »Hänge-Peters«, die ihn als idealen Kandidaten für wenig glaubhafte Umwidmungen empfiehlt, mit denen dekoloniale Umbenennungsprojekte abgewürgt werden sollen. In Bremen verläuft die 2010 umgewidmete Karl-Peters-Straße parallel zur Nachtigalstraße, und im pfälzischen Neustadt an der Weinstraße müsste der Jurist eigentlich wie ein Fremdkörper wirken im »Afrikaviertel« zwischen Gustav-Nachtigal-, Lüderitz- und Von-Wissmann-Straße – wäre der einzige Grund für seine angebliche Ehrung dort nicht die Namensgleichheit mit dem Kolonialverbrecher.

In Berlin-Wedding sollte die Petersallee, wiederum in der Nachbarschaft von Lüderitzstraße und Nachtigalplatz, schon seit 1986 offiziell den Juristen, NS-Widerstandskämpfer und CDU-Politiker Hans Peters (1896–1966) ehren. Diese Umwidmung war das Resultat der damals von der Alternativen Liste in die BVV getragenen Diskussion, in der bereits für einen Perspektivwechsel geworben wurde mit Namen von Herero-Politikern wie Hendrik Witbooi (um 1830–1905) und Mahahero (1820–1890). Doch noch der weit weniger passgenaue SPD-Vorschlag, die Petersallee nach Albert Schweitzer zu nennen, dem die Alternative Liste sich anschloss, wurde von der CDU abgelehnt – mit dem Hinweis auf eine bereits im Ostteil der seinerzeit noch getrennten Stadt existierende Straße dieses Namens. [1. Gisela Hahn, Der Platz an der Sonne. Das »Afrikanische Viertel« im Wedding. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Sackgassen. Keine Wendemöglichkeit für Berliner Straßennamen. Berlin: Verlag Dirk Nishen 1988.] Was nur als triftiges Argument gelten kann, wenn man nicht weiß, dass es in Berlins Westteil bis heute sechs Bismarckstraßen und zwei Bismarckplätze gibt sowie eine Bismarckallee, eine Bismarckbrücke und einen Bismarcksteg.

Solche Tricksereien und Doppelstandards gehören zur Diskussion um Straßennamen dazu, und sie kommen in der Regel von konservativer Seite. Besonders brachial wurde etwa im noblen Berliner Grunewald ein Jahrzehnt lang gegen die Umbenennung des Seebergsteigs gekämpft. Die Nazis hatten die Straße 1936 nach dem Theologen Reinhold Seeberg (1859–1935) benannt, den selbst seine Apologeten als »kulturellen Antisemiten« bezeichneten. [1. Entscheidung im Streit um Seebergsteig. In: Tagesspiegel vom 12. Dezember 2002 (www.tagesspiegel.de/berlin/entscheidung-im-streit-um-den-seebergsteig/372134.html).] 1992 beschloss die BVV mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP eine Umbenennung in Walter-Benjamin-Straße, der jüdische Philosoph hatte in dem Stadtteil gelebt. Es wurden Klagen dagegen eingereicht, bis die CDU bei der Wahl 1995 die Mehrheit in der BVV gewann und den Beschluss rückgängig machte. Als bei der darauffolgenden Wahl SPD und Grüne wiederum die Mehrheit im Bezirksparlament stellten, kam es 2002 zum Umbenennungsbeschluss in Toni-Lessler-Straße; die CDU hatte sich derweil für eine Umwidmung nach einem Ortsteil von Altlandsberg stark gemacht. Die jüdische Pädagogin Lessler (1874–1952) hatte die Private Waldschule Grunewald gegründet und den Holocaust durch Emigration überlebt. Gegen die Entscheidung wurde erneut geklagt – und nicht nur das: Die feierliche Enthüllung der neuen Straßenschilder wurde von Buhrufen und Pfiffen begleitet. [1. Andreas Gandzior, Seebergsteig im Grunewald umbenannt. In: Welt vom 2. September 2003 (www.welt.de/print-welt/article257057/Seebergsteig-im-Grunewald-umbenannt.html).]

Mit Vehemenz und miesen Tricks agierten auch die historisch wenig zimperlichen Kräfte der Restauration in der saarländischen Landeshauptstadt. Nach dem Anschluss des Saarlands an die Bundesrepublik 1957 wurde ein Großteil der Umbenennungen nach 1945 wieder rückgängig gemacht – auf Betreiben der Demokratischen Partei Saar (DPS, saarländischer Landesverband der FDP), die seinerzeit von Heinrich Schneider (1907–1974) geführt wurde, der seine politische Karriere 1930 in der NSDAP begonnen hatte. »Diese Umbenennungen erfolgten nicht im Konsens, sondern waren vorrangig das Werk der DPS, denn innerhalb der DPS /CDU-Koalition in Saarbrücken gab es Differenzen wie die Stadtratssitzung vom 16. April 1957 zeigt. Die Sitzung dauerte von 17.00 Uhr bis 1 Uhr nachts und verlief stellenweise laut Presseberichterstattung tumultartig.« [1. Abschlussbericht der Straßennamenkommission des Bezirksrats Mitte der Landeshauptstadt Saarbrücken vom Mai 2021 (www.saarbruecken.de/media/download-614b1bd414654).] Die DPS stellte über den vorab vereinbarten Konsens mit der CDU lauter Einzelanträge für Rückbenennungen, woraufhin Politiker etwa der SPD aus Protest den Saal verließen und gerade dadurch Mehrheiten ermöglichten, bis erst durch das Verlassen eines CDU-Ratsmitglieds die Beschlussunfähigkeit dem unwürdigen Treiben ein Ende bereitete.

Der Blick in die Geschichte der Straßennamenswahl offenbart also auch, mit welchem Aufwand die Verdrängung von Geschichte betrieben wird. Sichtbar wird eine Asymmetrie in der Auseinandersetzuung, bei der die Ablehnung nicht selten auf den durch die Debatten kursierenden rhetorischen Memes aus Kulturkämpfen von rechts basiert. Der eingangs zitierte, sachliche Satz aus dem Erfurter Stadtratsprotokoll hätte heute, in Auseinandersetzungen um die Kolonialgeschichte geäußert, umgehend die Kampfbegriffe am Hals, die die 1990/91 von reaktionärer Seite ausgeprägte Idee von der »politischen Korrektheit« zur Verfügung stellt. [1. Matthias Dell /Marc Fabian Erdl, Schießen Sie nicht auf den Pappkameraden. In: Freitag vom 25. Juli 2012 (www.freitag.de/autoren/mdell/schiessen-sie-nicht-auf-den-pappkameraden).] Wo etwa aus der »Überprüfung« ein tendenziöses »Durchforsten« würde und man die Motive für eine Diskussion verdrängter und problematischer Geschichte als »Tugendterror« diskreditierte.

Der Erfurter Stadtrat, in dem die CDU, AfD und FDP gegen eine Umbenennung votieren und die SPD gespalten ist, hat sich 2021 in Erinnerung an 1989/90 zu einem Runden Tisch als Instrument der Moderation durchgerungen. Ob daraus ein Modell werden kann, Schritte aus der kolonialen Amnesie zu gehen, wird sich im Herbst 2022 zeigen.