Grün, grün, grün ist alles, was ich habe

Sie wollten wissen, was richtig, richtig gut aussieht, also was der schönste Anblick auf der ganzen Welt ist. Mein Wissen teile ich sehr gern: die Krone einer sehr hoch gewachsenen, alten Kastanie, die nachts von unten von einer Straßenlaterne angeleuchtet wird. Das Blätterdach der Kastanie ist so dicht, dass Sie von unten eine Art grünen Teppich sehen, strukturiert durch die Blätter und deren Adern. Natürlich kann der Lampenschein nicht die gesamte Krone beleuchten, sondern immer nur einen Teil des dichten, grünen Laubwerks. Aber Sie können sogar im Dunkeln erahnen, wie viel mehr Grün da noch ist. So ein Baum hat ja mehr Blätter, als man schnell oder überhaupt zählen kann; jeder Baum ist ein Zeichen von Überfluss, mehr Grün, mehr, mehr, mehr! Am allerbesten sieht der Lichtkreis auf den Blättern aus, wenn die Kastanie gerade aufgekerzt hat und weiß blüht (rot ist auch okay, aber weiß ist am besten), am zweitbesten sieht es davor und danach aus.

(Dieser Text ist im Oktoberheft 2022, Merkur # 881, erschienen.)

Dadurch, dass ich preisgegeben habe, dass dieser schönste Anblick auf der ganzen Welt da zu finden ist, wo eine Straßenlaterne steht, kann man sich nun leicht ausrechnen, dass der Ort, an dem Sie seiner gewahr werden können, eben entweder an einer Straße liegt oder an einem Platz, vielleicht aber auch an einem Weg, der durch einen Park führt. Falls es sich um einen Weg in einem Park handelt, ist es zur Vervollständigung des Bilds hilfreich, wenn in der Nähe der Laterne eine Bank steht. Von da aus kann man besser in die saftigen Blätter schauen. Die Bank könnte die Latten der Sitzfläche entweder auf schwarzlackierten, gusseisernen Halterungen tragen oder auf solchen aus Beton, die man beim besten Willen nicht umtreten kann. Geht ein Wind durch den Park, rauschen die Baumkronen. Kühle Feuchtigkeit steigt aus den Rasenflächen auf. In den vergangenen Tagen hat es ausgiebig geregnet, und der Geruch des nassen Grüns liegt in der Nase und mischt sich mit dem der Zigarette des Spaziergängers, der eben vorbeikam und beinahe gestolpert wäre. Vorsicht, haben Sie reflexhaft gerufen. Von hier aus kann ich nicht sehen, ob Sie allein oder in Begleitung auf der Bank sitzen, beides ist gut, aber allein hat man mehr Zeit, um in die Blätter zu starren. Ich meine, warum nicht?

»Ich glaube«, so sagt die unbekümmerte anonyme Stimme (ich nenne sie so: UAS), die an einigen Stellen von Sheila Hetis neuem Roman Pure Colour zur Hauptfigur Mira spricht, »du bist traurig, weil unsere Kunst von den wolligen Mammuts nicht wertgeschätzt werden wird.«1 Der Zeitpunkt, zu dem wir damit rechnen müssen, dass wollige Mammuts rüsselrümpfend durch unsere Museen trampeln, mit ihren mächtigen Hintern die ersten Sitzreihen unserer Theater zerquetschen oder ohrenbetäubend laut »Buh« trompetend in der Mercedes-Benz-Arena am Ostbahnhof einem Konzert beiwohnen, ist laut der UAS »der nächste Entwurf«.

Im aktuellen Entwurf der Schöpfung, die Heti in ihrem Buch einem Gott zuschreibt, der sein Bestes gibt, für den es aber mittlerweile auch schon die fünfte Stunde ist, ist leider einiges schiefgegangen. Angefangen damit, dass Menschen Freude am Töten haben und diese Freude beispielsweise auch zum Modus der Kunstkritik haben werden lassen, haben sie eben leider, leider auch total missverstanden, wie sie mit dem Modell Erde umgehen sollen, das ihnen zur Verfügung gestellt wurde. Deshalb muss dieser Entwurf ausradiert werden, und ein neuer muss her.

 

(…)