Bin ich da schon drin? Zur Frühgeschichte der Netzliteratur

Der Tod ist seit jeher Anlass, sich zum Gedenken an die Verstorbenen zu versammeln. Welche Formen die Anteilnahme in Zeiten von Social Media findet, konnte man im Frühjahr 2021 auf dem Instagram-Profil der Autorin Elke Naters beobachten, deren Partner Sven Lager, eine ehemals prägende Figur der Popliteratur, am 19. April verstarb. »Gestern Mittag ist Sven von uns gegangen«, schrieb Naters in einem Post, den sie wenig später in der Welt zu einem persönlichen Nachruf aufbereitete und auf den eine Reihe von Einträgen folgten, die Weggefährten wie Eckhart Nickel, Christian Kracht, Tom Kummer und Moritz von Uslar zu Kommentaren und Likes animierten. Begleitet wurde der Tod des Autors zudem von zahlreichen Nachrufen im Feuilleton, wo Lagers Biografie zwischen popliterarischem Boheme-Leben, einem religiösen Erweckungserlebnis und gemeinnützigen Projekten in Südafrika und Berlin nachgezeichnet wurde.

(Dieser Text ist im Oktoberheft 2022, Merkur # 881, erschienen.)

Die Nekrologen Andrian Kreye und Georg M. Oswald lenkten die Lebenswürdigung allerdings noch auf einen weiteren Aspekt. Denn Lager war um das Jahr 2000 nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Mitinitiator eines digitalen Salons in Erscheinung getreten, an dem die Nachrufer selbst beteiligt gewesen waren.1 Und nicht nur sie: Auch die genannten Popliteraten hatten sich auf Einladung des Schriftstellers im Forum ampool.de eingefunden, das – lange vor Facebook – die Gründung einer literarischen Online-Gemeinschaft vorführte.

Will man wissen, wie sich die deutschsprachige Literatur mit der Jahrtausendwende synchronisierte, kann man einen Blick ins Archiv der Seite werfen.2 Dort heißt es zum Beispiel am 1. Januar 2000 um 17:09 Uhr: »gefeiert /gelacht /getrunken /getanzt || die nunmehr dritte /der heiligen Pforten zu öffnen || bey bey 1999 /happy holy new year /bey bey kränk || hello third millennium«. Mit von der Partie ist auch Rainald Goetz, der Gedichte zum Gemeinschaftswerk beisteuert und kurz zuvor mit seinem Tagebuch Abfall für alle gezeigt hatte, wie Autoren im Netz zu literarischen Nachrichtenagenturen avancieren.

Der »Hauptkick« von Goetz’ Blog bestand nicht zuletzt darin, eigene Notizen »probeweise mal jeden Tag in diese seltsame Suböffentlichkeit des Internets rauszutrashen«.3 Das Prinzip der literarischen Meldung, das sich daraus ergab, setzte sich im Pool fort und bildete einen Anstoß für zahlreiche weitere Netzprojekte wie NULL, das Forum der 13 oder das Kollektivtagebuch Die Banalität des Prolligen von Heiner Link und Georg M. Oswald.

Während Google noch ein Geheimtipp war, förderten die Foren eine Art literarischen Pioniergeists, dem die Hoffnung auf eine »andere Möglichkeit der Produktion« innewohnte und der unter medientechnischen Gesichtspunkten zugleich auf die wachsende Verbreitung und Verfügbarmachung des Internets reagierte.4 Waren es Mitte der neunziger Jahre noch wenige Millionen Menschen, die in Deutschland das Internet nutzten, konnte man um 2000 eine zunehmende Popularisierung und Kommerzialisierung des Mediums beobachten.

Besonders prominent führte die Anbindung ein zeitgenössischer Gewährsmann vor, als er 1999 in einem Werbespot für den Online-Dienstleister AOL ausrief: »Bin ich da schon drin, oder was? Ich bin drin! Das ist ja einfach.«5 So mühelos Boris Becker den Eintritt ins Internet vollzog, so sehr versprach sich das Web Ende der neunziger Jahre von einer technischen Angelegenheit zum populären Alltagsmedium zu wandeln, mit dem auch aus literarischer Sicht neue Perspektiven einhergingen.

 

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