Replik auf Matthias Dell, Erfurt zum Beispiel. Zur Frage der Straßennamen

Matthias Dells Text war in: Merkur 76, September 2022, S. 41-53, erschienen und ist hier frei online zu lesen

Im September-Heft des Merkur hat Matthias Dell in der Diskussion um die Umbenennung deutscher Straßennamen eine polemische Bemerkung an den Zeithistoriker Hanno Hochmuth gerichtet, die ich nicht unwidersprochen lassen möchte, zumal sie die Geschichtskulturforschung insgesamt betrifft.

In seiner Kritik an der „erstaunliche(n) Verunsachlichung“ der Debatte um den Erhalt und die Tilgung von Straßennamen kritisiert er die von Hanno Hochmuth in der taz 2019 geäußerte Skepsis, der Vergangenheit umstandslos die Maßstäbe der Gegenwart zu überhelfen. In den Augen Dells handle es sich um bloße Gemeinplätze, die obendrein ein vorgeblicher Fachmann vorbringe, „in dessen bisheriger Forschung sich allerdings keine Expertise zu einem der in Rede stehenden Themen finden“ lasse. Man muss nicht wissen, dass der Kritisierte mit einer vergleichenden Dissertation über die Berliner Stadtbezirke Kreuzberg und Friedrichshain hervorgetreten ist und heute als vielgefragter Experte zur Rolle Berlins in der Moderne internationales Renommée besitzt, um eine solche argumentatio ad personam unangemessen zu finden, die zudem ironischerweise den Vorwurf der Verunsachlichung am eigenen Beispiel bestätigt.

Den Anlass für den Zorn Dells bildet allerdings nicht die Forschungsleistung des Gescholtenen, sondern dessen Meinung, dass die in Straßennamen abgebildete Geschichte nicht nach heutigen Standards gesäubert werden sollte. Darüber kann man mit Gewinn kontrovers diskutieren, wenngleich nicht auf Basis der von Dell an den Tag gelegten Unduldsamkeit, die solche Reflexionen als bloße Reflexe hinstellt. Das von Hochmuth diskutierte Beispiel ist der sogenannte „Generalszug“ in Berlin-Kreuzberg, der mit mehr als einem Dutzend von Benennungen wie Tauentzien- und Yorckstraße, Horn- und Blücherstraße, Gneisenau- und Großbeerenstraße Taten und Schlachtorte preußischer Militärs in den preußischen Befreiungskriegen im frühen 19. Jahrhundert würdigt. Die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg hat diese Namen in einem Mehrheitsbeschluss 2021 zur Disposition gestellt und damit eine Debatte um die Beibehaltung oder Umbenennung ausgelöst, die bis heute anhält, und sie hat damit eine lohnende Neubesinnung initiiert.

Ist es illegitim, in dieser Debatte als Anwalt der Historizität überlieferter Straßennamen aus der preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts aufzutreten? Und stellt es die bloße „Phantasie einer Säuberung der Geschichte“ dar, wenn daran erinnert wird, dass der Gewinn, den eine Ausmerzung anstößiger Straßennamen bedeutet, immer auch mit der Verarmung des öffentlichen Speichergedächtnisses  bezahlt wird? Wenn Autor Dell diesen Verlust am Beispiel des Erfurter Nettelbeckufers mit der sicherlich zutreffenden Feststellung abtut, dass die Erinnerungskraft dieses Straßennamens ohnehin längst verblasst sei, redet er nicht nur einem eigentümlichen Rezept gegen gesellschaftliche Geschichtsvergessenheit das Wort, sondern entzieht auch dem eigenen Werben für eine „zeitgemäße Erinnerungspolitik“ den Boden: Welchen Sinn soll das Mühen um die Löschung einer Namens aus dem Stadtbild tragen, wenn der mit ihm Bezeichnete in der Gegenwart nichts mehr bedeutet?

Im Fall des Berliner Generalszugs kommt hinzu, dass das adressierte „militäraffine Preußentum“ schwerlich über einen Leisten zu schlagen ist; die in Rede stehenden Kreuzberger Straßen, die den Namen preußischer Offiziere der Befreiungskriege tragen, erinnern an reaktionäre Militärs ebenso wie an tatkräftige Gegner von Kinderarbeit und Befürworter einer Impfpflicht. Und gerade in unseren Tagen wirkt es doch etwas merkwürdig, einerseits den ukrainischen Kampf gegen die russische Einverleibung zu unterstützen und andererseits einen Generalleutnant Ludwig von Yorck zur Streichung aus dem Berliner Straßeninventar zu empfehlen, der 1813 gegen seinen eigenen König rebellierte, um die preußischen Truppen in den Kampf gegen eine bedrückende Fremdherrschaft zu führen – auch wenn der Aggressor damals Napoléon hieß und nicht Putin.

Am interessantesten ist aus historischer Perspektive allerdings auch hier wieder weniger die Frage nach dem Was als nach dem Wie. Dass in der laufenden Debatte über Straßennamen abwägende Stimmen so sehr an den Rand gedrängt und nachgerade verhöhnt werden, hat vermutlich nicht zuletzt mit dem Irrglauben zu tun, dass Straßennamen ausnahmslos Ehrungen darstellten, wie auch Autor Dell mit Bezug auf Jürgen Zimmmerer unterstreicht. Das allein sind sie aber keineswegs. Vielmehr bewegen sie sich stets in einem Parallelogramm von vier unterschiedlichen Kräften, nämlich sowohl der seinerzeitigen Benennungsabsicht wie der heutigen Namensrezeption, aber auch der empirischen (und sich durch die Forschung nicht selten verändenden) Faktenlage und der durch Alterung entstehenden Historizität. Wollte man diesen Vierklang auf den einen Ton der heutigen Ehrungswürdigkeit reduzieren und, wie jüngst gefordert, etwa alle Personen streichen, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes und der Charta der Menschenrechte stehen, dann allerdings wäre die Vergangenheit zum gesichtslosen Spiegel der Gegenwart reduziert und die kritische Vergangenheitsvergegenwärtigung auf dem Weg in die ahistorische Vergangenheitsvertreibung.