Gegenseitiger Monolog mit Salomon Maimon

I.

Als ich die Schriften von Salomon Maimon entdeckt habe, ist mir aufgefallen, dass die Art und Weise, wie Maimon mit anderen spricht, sich prinzipiell unterscheidet von der Art und Weise eines Gesprächs, wie wir es gewohnt sind. Irgendwann hatte ich die Idee, einmal nachzuschlagen, wie eigentlich der Fremdwörterduden den Begriff ›Dialog‹ definiert. Und dort steht tatsächlich: »Dialog […]: Gegenseitiger Monolog.«[1] Diese Definition ist apart, aber vielleicht muss man die Duden-Redaktion auch in Schutz nehmen: Es war ja nur ihre Aufgabe zu definieren, was ein Dialog ist, und es war nicht ihre Aufgabe zu definieren, was ein gelingender Dialog ist.

Wenn man Maimons Leben hauptsächlich anhand seiner Ortswechsel nacherzählt, dann klingt das so: 1753 wird Salomon Maimon auf dem Gebiet des heutigen Belarus geboren, im damaligen Königtum Polen-Litauen, in einem Dorf in der Nähe von Minsk. Mit Anfang 20 verlässt er Polen-Litauen, reist nach Königsberg und von dort aus mit dem Schiff weiter nach Stettin. Von Stettin macht er sich zu Fuß auf den Weg nach Berlin, wird aber am Rosenthaler Tor abgewiesen, er darf die Stadt nicht betreten, und er geht nach Posen. Dort bleibt er bis 1780, dann zieht es ihn wieder nach Berlin. Dieses Mal kann er bleiben, und er bleibt bis 1783 in Berlin. Schließlich reist er über Hamburg nach Holland, wo er ein Dreivierteljahr bleibt, dann reist er über Hannover wieder nach Hamburg und bleibt dort rund zwei Jahre, bis er wieder nach Berlin zurückkehrt, von wo aus er für einige Monate nach Dessau geschickt wird, bis er wieder nach Berlin zurückkehrt. Bald darauf beschließt er, Berlin abermals zu verlassen, und er reist nach Breslau, wo er aber auch nicht lange bleibt, weil er wieder nach Berlin zurückkehrt. Von Berlin aus wird er für einige Zeit nach Potsdam geschickt, bis er wieder nach Berlin zurückkehrt, und nun schreibt er u.a. seine Autobiographie. Am 4. August 1795 schreibt Wilhelm von Humboldt an Schiller: »Der Graf Kalckreuth, bei dem Maimon sich aufhält, hat Befehl erhalten, Berlin zu verlassen. Er soll sich zu frei über politische Dinge geäußert haben. Wahrscheinlich geht Maimon mit ihm.«[2] Tatsächlich reist Maimon 1795 mit dem Grafen Kalckreuth auf dessen Gut in Schlesien und bleibt dort bis zu seinem Lebensende, in seinen letzten Lebensjahren zwar materiell versorgt, aber fast vollständig abgeschnitten von persönlichen Kontakten. Am 22. November 1800 stirbt Maimon. Sein Grab ist erst vor wenigen Jahren gefunden worden.

Berlin hat Maimon stark angezogen und gleichzeitig hat es ihn doch auch von Berlin weggestoßen. Die Gründe für diese Ambivalenz lassen sich seiner Autobiographie entnehmen, der ersten Autobiographie eines Juden in deutscher Sprache überhaupt. Sie trägt den einfachen Titel Lebensgeschichte, ist in zwei Teilen erschienen – der erste Teil 1792, der zweite Teil 1793 – und wurde herausgegeben von Maimons engstem Berliner Freund Karl Philipp Moritz. Maimon hatte sich bis dahin schon einen Namen gemacht als philosophischer Schriftsteller. Er hatte verschiedene philosophische Aufsätze und Werke veröffentlicht und mit seinem Versuch über die Transscendentalphilosophie Immanuel Kant herausgefordert. Kant las das Manuskript und schrieb daraufhin in einem Brief vom 26. Mai 1789 an Marcus Herz: »[N]iemand von meinen Gegnern [hat] mich […] so wohl verstanden […] als Hr. Maimon«.[3]

 

II.

Als der erste Teil der Lebensgeschichte erschien, schlug er ein wie eine Bombe. So etwas hatte es bisher noch nicht gegeben. Hier berichtet ein Ostjude von sich selbst als einem Wunderkind. Maimon schildert, wie er von klein auf zum Rabbiner bestimmt war, wie er sich jahrelang mit dem Studium des Talmuds herumschlagen musste, wie er mit elf Jahren verheiratet wurde, wie er eine große Familie gründete und mit vierzehn Jahren seinen ersten Sohn bekam, wie er mit Anfang 20 seine Familie verließ, um nach Berlin zu gehen, immer auf der Suche nach Aufgeklärten, mit denen er in einen lebendigen Austausch treten kann. Zu den Lesern der Lebensgeschichte gehörten Kant, Goethe, Schiller, Jean Paul, auch Wilhelm und Alexander von Humboldt. Kant hat sogar in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft einige Sätze aus Maimons Lebensgeschichte fast wortwörtlich übernommen[4] – aber eben nur fast, d.h. es reicht nicht für einen Plagiatsskandal.

Es ist eine ganze Reihe von Pionierleistungen, die Maimon mit seiner Lebensgeschichte vollbrachte. Das eine ist, wie Maimon hier schreibt: nämlich nicht mehr bescheiden, sondern mit Lust an der Provokation und vollkommen selbstbewusst. Einen solchen Tonfall waren christliche Aufklärer von jüdischen Autoren nicht gewohnt. Das andere ist, was Maimon schreibt. Er gibt hier einen kurzen Abriss der Geschichte des Judentums – und gerade für die zeitgenössischen christlichen Aufklärer, an die er sich in erster Linie wendet, gab es für authentische, vorurteilsfreie, sachliche Informationen über das Judentum keine populärere Quelle als Maimons Lebensgeschichte. Dann schreibt er viele Seiten über Kabbalisten, und was er dort expliziert, ist »umfangreicher und kenntnisreicher als alles andere, was je zuvor von einem Juden in deutscher Sprache über Kabbala geschrieben wurde«.[5]

Der erste Teil der Lebensgeschichte war beim Publikum ein großer Erfolg, und es ist viel darüber spekuliert worden, warum im Gegensatz dazu der zweite Teil der Lebensgeschichte ein völliger Misserfolg war. Ich glaube, die Erklärung ist ziemlich einfach. Maimon beginnt den zweiten Teil seiner Autobiographie mit seiner 150-seitigen Übersetzung eines Auszugs aus dem Werk Führer der Unschlüssigen des mittelalterlichen Philosophen Moses Maimonides. Wenn man eine Autobiographie in zwei Bänden herausbringt und im ersten Band Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenleben schildert, und wenn der Opener des zweiten Bandes ein komplexes 150-seitiges philosophisches Traktat ist – welcher der beiden Bände wird sich wohl besser verkaufen.

Und hier sind wir schon bei Maimons nächster Pionierleistung: Seine Maimonides-Übersetzung ist nämlich die erste deutsche Übersetzung des Werkes Führer der Unschlüssigen ins Deutsche überhaupt. Auch diese Übersetzung ist, dem Urteil der Experten zufolge, ausgesprochen kenntnisreich und präzise. Es ist auch ganz folgerichtig, dass Maimon seine Maimonides-Übersetzung in seiner Autobiographie platziert, denn der Name Maimon ist, wenn man so will, ein Künstlername – Maimon hat sich nach Maimonides benannt.

Maimon wusste von klein auf von dem Verbot, Nichtjuden Kabbala zu lehren. Indem er aber in seinem an die deutsche Öffentlichkeit gerichteten Buch ausführlich über die Kabbala schreibt, setzt er sich über dieses Verbot hinweg. Maimon wusste auch von dem Verbot des Maimonides, diejenigen, die nicht selber rabbinisch und philosophisch bewandert sind, mit dem Führer der Unschlüssigen überhaupt nur bekannt zu machen. Auch über dieses Verbot setzt Maimon sich hinweg. Lustigerweise übersetzt er auch dieses Verbot. Maimon sieht – wie Kant – nicht mehr ein, dass das Wissen auf eine Elite eingeschränkt bleiben soll.[6]

 

III.

Persönlich war Maimon kein einfacher Charakter. In Berlin ging damals ein witziger Spruch um, der jedoch einen ernsten Hintergrund hat. Dieser Spruch lautete: Maimons »Bücher werden in Kabinetten gelesen, sind aber auf der Bierbank geschrieben«.[7] All das ändert aber nichts daran, dass eines der hervorstechenden Merkmale in Maimons Lebensgeschichte sein ungeheurer Bildungstrieb ist. Er beschreibt, wie ihm als etwa 16-Jährigem einmal zufällig ein hebräisches Buch in die Hand fiel, in dem auch Alphabete mit lateinischen Buchstaben abgedruckt waren, und ein deutsches Buch. Ein deutsches Buch war ihm noch nie untergekommen. Er verglich die Alphabete und probierte aus, ob das erste Zeichen in dem ersten Alphabet dem ersten Zeichen in dem zweiten Alphabet entsprach. Dann probierte er nach der Methode des Buchstabenvergleichs aus, ob die Worte in dem deutschen Buch einen Sinn ergeben. Viele Worte verstand er zwar nicht, einige aber doch. Und wie groß war seine Freude, als er feststellte, dass er mit seiner Art des Dechiffrierens Erfolg hatte.[8]

Maimon schreibt, dass er nicht einmal eine richtige Muttersprache hatte, sondern dass seine Muttersprache ein Gemisch war aus Hebräisch, Jiddisch, Polnisch und Russisch.[9] Und vor allem schildert er, wie er in seiner großteils ärmlichen, unaufgeklärten Umgebung oft viele, viele Meilen zu Fuß gewandert ist, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass es irgendwo ein interessantes Buch, ein wissenschaftliches Buch, ein deutsches Buch geben soll oder dass jemand sogar eine kleine Bibliothek besitzt. Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, von denen Maimon genau erzählt, welche Beschwerlichkeiten er auf sich nehmen musste, um an sie heranzukommen, wo er sie erhalten hat, von wem er sie erhalten hat. Von Maimonides‘ Führer der Unschlüssigen erzählt er das nicht – der Aufklärer Maimonides war in seiner Heimat immer schon da.[10] Immer wieder sind es wissenschaftliche Bücher, an die Maimon herankommt. Er arbeitet sie durch und erkennt ihren Wert. Aber er erkennt auch, dass Aufklärung niemals etwas Abgeschlossenes sein kann. Manchmal kann Aufklärung auch schiefgehen. Aufklärung ist immer etwas, das sich entwickelt, ist immer ein Prozess.

Salomon Maimon beschreibt sich selbst als kritischen Geist, der als Kind schon beim allerersten Satz der Bibel nachhakt. Als sein Vater ihm den Satz vorliest: »Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde«, unterbricht ihn der kleine Schlomo und fragt nach: »Aber Papa, wer hat Gott erschaffen?« Der Papa sagt: »Gott ist von niemand erschaffen, er war vor aller Ewigkeit da.« Der kleine Schlomo fragt: »Aber er hat doch einmal geboren werden müssen?« Und in Maimons Autobiographie befinden wir uns nach dieser kleinen Anekdote schon mitten in einer kurzen metaphysischen Abhandlung.[11] Denn wenn man fragt: »Wo kommt die Welt her?«, und wenn die Antwort darauf lautet: »Gott hat die Welt erschaffen«, dann fragen kleine Kinder und große Philosophen: »Und wo kommt Gott her?« Und wenn die Antwort auf diese Frage lautet: »Gott ist die erste Ursache«, dann widersprechen kritische Geister und sagen: Erste Ursache, das ist aber ein sonderbarer Begriff, das ist ja ein Widerspruch in sich, denn eine erste Ursache hat selber wiederum gar keine Ursache – es hat aber doch jedes Ding seine Ursache.

Was Maimon hier beschreibt, ist nichts weniger als der Startpunkt für etwas, das sein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte: Er hat hier einen Widerspruch zwischen Vernunft und Religion entdeckt – und er bemüht sich, diesen Widerspruch aufzulösen. Im Folgenden wird er immer noch mehr und immer noch mehr Widersprüche zwischen Vernunft und Religion entdecken – und er bemüht sich immer stärker, diese Widersprüche irgendwie miteinander in Einklang zu bringen.

 

IV.

Maimon lernt von Maimonides den Unterschied zwischen wörtlicher Bedeutung und übertragener Bedeutung. Das hebräische Wort für ›Engel‹, schreibt Maimon, lässt sich ins Deutsche auch mit ›Bote‹ übersetzen.[12] Er realisiert, dass die Kaste der Priester in solchen Fällen immer lieber die übernatürliche Wortbedeutung wählt, auch wenn sich ein und derselbe Text ganz diesseitig lesen ließe. Und auch das lernt Maimon von Maimonides: Wenn es in der Bibel Stellen gibt, die sich nicht mit der Vernunft vereinbaren lassen, dann sind diese Stellen allegorisch zu deuten. Diese Erkenntnis ist für Maimon grundstürzend.

Maimon lernt von Maimonides: Wenn man auf einen Widerspruch zwischen Vernunft und Religion stößt, dann darf man sich nicht damit abfinden zu sagen: Ich verstehe das zwar nicht, aber ich akzeptiere, dass die Religion stärker ist als die Vernunft. Nein, man muss genau umgekehrt vorgehen: Wenn ich auf einen Widerspruch zwischen Vernunft und Religion stoße, dann muss ich bis an die Grenzen der Vernunft gehen. Maimon lernt von Maimonides: Mancher Widerspruch zwischen Religion und Vernunft löst sich auf, wenn wir die Sache sozusagen mathematisch angehen. In der Algebra z.B. kann man gar nicht arbeiten ohne den Begriff des Unendlichen. Wir können uns diese Unendlichkeit nicht plastisch vorstellen, weil das menschliche Vorstellungsvermögen dafür zu beschränkt ist. Das ändert aber nichts daran, dass es sie gibt. Können wir das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen bestimmen, wenn wir doch eigentlich keinen fassbaren Begriff von Gott haben? Maimon sagt: Auf jeden Fall. Denn von Maimonides können wir lernen: Irrationale Zahlen sind keine reellen Zahlen, und trotzdem können wir mit irrationalen Zahlen rechnen.[13]

Während im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland orthodoxe und aufgeklärte Protestanten erbittert darüber streiten, wie weit man vom Offenbarungsglauben abfallen darf, um als aufgeklärt zu gelten, kommt Maimon aus einem polnisch-litauischen Dorf nach Berlin mit dem Maimonides im Gepäck und ruft: Lest den Führer der Unschlüssigen, dieses Werk, das aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert stammt! – Um Missverständnisse zu vermeiden: Es ist nicht so, als ob den Namen Maimonides in Preußen vor 1792 noch nie jemand gehört hätte; aber die erste ausführliche deutschsprachige Auseinandersetzung mit jener Vernunftkritik, die mit Maimonides verbunden ist, geht auf Maimon zurück. Das Maimonides-Traktat liest sich nicht mehr so rasant wie die vielen schelmenhaften Passagen in der Lebensgeschichte, hier ist Konzentration erforderlich. Aber genau darum geht es Maimon: uns zu fordern.

 

V.

Nachdem Maimon in Berlin bleiben darf, ist das erste, was er erlebt, folgendes: Er ist entsetzt, als er ein philosophisches Buch – so steht es in einer Neuausgabe der Lebensgeschichte – in einem »Buchladen«[14] sieht. Jetzt kann man sich fragen: Was ist denn so entsetzlich daran, in einem Buchladen ein Buch zu sehen? Tatsächlich steht im Original der Lebensgeschichte etwas anderes: Da steht, dass er dieses Buch in einem »Butterladen«[15] sieht.

Maimon arbeitet dieses philosophische Werk durch, schreibt einen kritischen Aufsatz darüber und schickt ihn an Moses Mendelssohn. Mendelssohn lädt ihn zu sich ein, beginnt mit ihm zu diskutieren, ist ganz angetan von seinen Kenntnissen und sorgt in der Folgezeit für seinen Unterhalt. Wir brauchen uns nichts vorzumachen: Die in Berlin ankommenden Ostjuden waren vielen aufgeklärten Juden Berlins genauso unangenehm wie vielen Christen. Mendelssohn hingegen hatte diese Vorurteile oder Berührungsängste nicht.

Maimon bleibt eine auffallende Erscheinung in den Berliner Salons. Er bringt immer seinen Hund mit in die Salons. Wenn er lautstark diskutiert, kippt er oft ins verachtete Jiddisch. Ja, er geht in die Salons, aber lieber geht er in die Kneipe. Mit der Gesellschaft der Freunde, einer der geselligen Vereinigungen der aufgeklärten Juden Berlins, überwirft er sich, bald nennt er sie nur noch Gesellschaft der Feinde.[16] Er mag keine gediegenen Veranstaltungen. Er will keiner Erwerbsarbeit nachgehen, er will Philosophie betreiben. Und trotzdem würde man auch heutzutage sagen: Maimon hatte zwei abgeschlossene Berufsausbildungen. Er war Rabbiner – und er war Apotheker. Seine Freunde in Berlin überreden ihn, dass er eine dreijährige Ausbildung zum Apotheker macht. Maimon lässt sich darauf ein, sie finanzieren ihm die Ausbildung. Seine Gönner hoffen, dass sie Maimon danach nicht mehr über Wasser zu halten brauchen, sondern dass er sich danach als praktizierender Apotheker selber finanzieren wird. Doch im zweiten Teil der Lebensgeschichte schreibt Maimon dann völlig unverblümt über seine Lehrzeit und die Apothekerkunst: »Meine Absicht dabey war aber nicht, praktischen Gebrauch davon zu machen, sondern bloß anschauende theoretische Erkenntniß zu erlangen.«[17]

Das Problem ist, dass Maimon versuchte, eine individuelle, moderne Existenz zu leben, lange bevor überhaupt die sozialen Bedingungen dafür bestanden.[18] Als Maimon nach Berlin kommt, ist die rechtliche Situation der Juden in Preußen nach wie vor äußerst prekär. Es gab eine sehr lange Liste von Beschränkungen – um hier nur eine Handvoll aufzuzählen: Von staatlichen Leistungen der Armen- und Krankenpflege waren Juden ausgeschlossen, von allen Staatsämtern waren Juden ausgeschlossen, vom Ackerbau, vom Handwerk, von allen Zünften und von der Chirurgie waren sie ausgeschlossen. Ausgeschlossen waren sie auch von der Universitätslaufbahn. Auf welche Resonanz Salomon Maimons Philosophie wohl gestoßen wäre, wenn der Mann, dem von Kant bescheinigt wurde, niemand sonst von seinen Gegenspielern habe ihn so gut verstanden, einen Lehrstuhl hätte innehaben können!

1786, nachdem er 46 Jahre lang König war, stirbt Friedrich II. Unter seinem Nachfolger wird 1788 das Religionsedikt veröffentlicht. Juristisch ist dieses Religionsedikt ein Fortschritt. Aber der öffentlichen Diskussion hinkt es längst hinterher. Das Religionsedikt bekennt sich ausdrücklich zur Toleranz gegenüber der jüdischen Religion in Preußen. Und es gewährleistet, dass jeder Untertan von einer Konfession zur anderen übergehen kann, man braucht den Konfessionswechsel einfach bloß den Behörden mitzuteilen. Aber so ein Fall wie Maimon ist auch hier nicht vorgesehen. Maimon will nämlich inzwischen überhaupt keiner Konfession mehr angehören. Warum ein wirklich aufgeklärter Staat von seinen Bürgern gar keine Erklärung über die Religionszugehörigkeit verlangen würde, dafür gibt Maimon einen einfachen Grund an: weil ihn das nichts angeht.[19]

Maimons Verhältnis zu Berlin war höchst ambivalent. Einerseits fand er in seiner Heimat niemanden, mit dem er auf Augenhöhe hätte philosophieren können, und in Berlin gab es eine lebendige Kulturblüte, eine Gesellschaft der Aufgeklärten, mit denen er sich austauschen konnte. Dieser Austausch war sein Lebenselixier. Deshalb hatte er immer Sehnsucht nach Berlin, und Berlin war für ihn ein fortwährender Anziehungspunkt. Von Berlin aus konnte er an den Aufklärungsdebatten teilnehmen, von Berlin aus konnte er publizieren und eine große Öffentlichkeit erreichen. In Berlin war er immer ungeheuer produktiv. Und um auf das wirklich Außerordentliche bei Maimon zurückzukommen: Der Dialog, den er mit aufgeklärten Juden und mit aufgeklärten Christen führte, zielte nicht bloß darauf ab, Argumente auszutauschen, sondern darauf, dass seine Gesprächspartner ihre eigene Argumentation schärfen sollten. Ja, Maimon stellt herausfordernde Fragen, aber nicht oder jedenfalls nicht nur, um zu zeigen, wie gewitzt er ist. Man muss bereit sein, sich auf diese Methode einzulassen. Maimon sagt selbst einmal, dass er die polemische Methode für die beste hält, weil sie sich auf die Hauptsache konzentriert und nicht ablenkt mit irgendwelchen Nebenthemen.[20] Maimon wartet wirklich darauf, dass seine Gesprächspartner ein völlig unerwartetes stichhaltiges Argument vorbringen. Er will, dass sie sich mehr anstrengen und dadurch wirksamer werden.

Gleichzeitig war Berlin für ihn eine Enttäuschung, weil er fand, dass die in Berlin wirkenden Aufklärer ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht werden. Es gibt in der Lebensgeschichte gleich zwei Schilderungen, wie Maimon versucht, nach Berlin zu kommen. Man kann diese Schilderungen glauben oder nicht – jedenfalls stellt Maimon es so dar, dass er bei seinem ersten Versuch, Berlin zu betreten, an der Stadtgrenze wieder zurückgeschickt wird, weil er ein Buch des Aufklärers Maimonides im Gepäck hat. Maimon ist völlig verzweifelt, dass er, vor der Stadt seiner Träume stehend, nicht hineingelassen wird.[21] Denn auch hier haben die Orthodoxen Macht. Er schlägt sich als Bettler wieder in Richtung Osten bis Posen durch.

Aber er will unbedingt wieder nach Berlin, weil er glaubt, dass er es nur in Berlin schafft, die Reste von Aberglauben, die ihm möglicherweise noch anhaften, abzustreifen.[22] Durch glückliche Umstände kann er dieses Mal mit der Postkutsche kommen, und so fährt er ohne Probleme einfach in die Stadt hinein.[23] Die Erfahrung, die Maimon hier macht, ist die: Die Tatsache, dass er Berlin, die Stadt der Aufklärung und der Wissenschaften, passieren kann, verdankt er nicht seiner Gelehrsamkeit und seinen Kenntnissen. Die Frage, die Maimons Grenzschilderungen aufwerfen, lautet: Wie aufgeklärt ist die Residenzstadt Berlin, wenn bloß der auf materiellen Äußerlichkeiten beruhende soziale Status darüber entscheidet, ob ein Jude das Zentrum der jüdischen Aufklärung betreten darf oder nicht?

Das 150-seitige Maimonides-Traktat steht genau zwischen diesen beiden Grenzschilderungen. Das ist sicher kein Zufall. Sondern Maimon gibt damit ein paradoxes Signal: Einerseits hat er es nicht zuletzt Maimonides zu verdanken, dass er es überhaupt geschafft hat, so weit zu kommen, bis ins aufgeklärte Berlin. Andererseits wäre sein Aufenthalt in Berlin beinahe an seiner Aufklärung durch Maimonides gescheitert.

Maimon hat in seiner Lebensgeschichte das beinahe Unmögliche versucht: Seine vorwiegend christliche Leserschaft hatte in der Regel keine Ahnung vom Judentum, also versucht Maimon, sie sachlich und historisch über das Judentum zu informieren. Gleichzeitig erzählt er von seiner eigenen religiösen Entwicklung und übt auch Kritik am Judentum. Aber er nimmt das Judentum wiederum gegen die Vorwürfe christlicher Aufklärer in Schutz und greift mit begründeten Argumenten die christlichen Aufklärer an. Das alles zusammen war ein äußerst ambitioniertes Vorhaben.

Ein Gespräch, das Maimon mit einem christlichen Pastor führte, fand, so erzählt er es, in Hamburg statt. Es hätte aber ebensogut in Berlin stattfinden können, und es richtet sich an alle aufgeklärten Christen. Maimon lebt in einer Umgebung, in der den Juden ständig gesagt wird, welche Bedingungen sie erfüllen müssen, damit sie sich als nützlich für die Gesellschaft erweisen können. Und nützlich, so schallt es ihnen von allen Seiten entgegen, werden sie dann, wenn sie aufgeklärte Christen werden. Das aber ist nichts anderes als die jahrhundertealte Konversionsforderung in modernem (oder pseudo-modernem) Gewand. Maimon dreht den Spieß um: Er selbst klärt die Bedingungen, unter denen er bereit wäre, sich christlich taufen zu lassen.

In diesem Gespräch stellt Maimon sich als sehr gewitzt dar. Aber unter dieser Oberfläche brodelt hier viel mehr. Zeitgenössische jüdische Leser müssen von diesem Gespräch schockiert gewesen sein. Die Überlegung, lieber ein Martyrium zu erleiden, als sich taufen zu lassen, bildete ein jahrhundertealtes Thema in der rabbinischen Literatur. Maimon bricht dieses absolute Tabu und wirft diesen Topos über den Haufen.[24]

In dem Gespräch mit dem Pastor projiziert Maimon auf polemische Art das antisemitische Klischee des ›verstockten Juden‹ auf sich selbst. Damit hält er der Gesellschaft, die sich selbst für aufgeklärt hält, einen Spiegel vor und zeigt ihr, wie unaufgeklärt sie noch ist: Er muss der Jude bleiben, der er nicht länger sein will. Er muss es bleiben, weil die Gesellschaft ihm keine andere Wahl lässt. Am Ende der Unterredung sagt der Pastor zu Maimon: »Sie sind zu sehr Philosoph, um ein Christ werden zu können«.[25] Maimon stimmt ihm zu: »Meine Religion befiehlt mir, nichts zu glauben, sondern die Wahrheit zu denken und das Gute auszuüben.«[26]

Die Aussage, die Maimon in der Lebensgeschichte trifft, ist sonnenklar, und sie richtet sich gerade an die christlichen Aufklärer: Wer Religionskritik übt, der muss erst einmal sagen, was er unter Religion versteht. Wer Kritik an der jüdischen Religion übt, der muss sich erst einmal Kenntnisse über die jüdische Religion aneignen. Voraussetzung aller Kritik ist das Verstehen dessen, was kritisiert wird. Wo diese Voraussetzung fehlt, ist jede Kritik unseriös.

 

VI.

Maimon beginnt seine Autobiographie nicht mit seiner Geburt, sondern mit einer soziologischen Analyse Polen-Litauens und der rechtlichen Stellung der Juden in seinem Heimatland. Umso merkwürdiger ist die immer wieder anzutreffende Behauptung, Maimon sei ein unpolitischer Autor gewesen. Wer unpolitisch ist, beginnt seine Autobiographie nicht so. Ja, Maimon hat nie tagespolitische Pamphlete geschrieben, sondern er hat, ausgehend von der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation, grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Maimon hat einen klaren Begriff von Gesellschaft, und er nennt schon auf den ersten Seiten die Schlüsselbegriffe, wogegen er anschreibt: gegen »politische Unwissenheit«[27], gegen »moralische Unwissenheit«.[28]

Was Maimon in der Lebensgeschichte ausführlich schildert und was schon ganz am Beginn anklingt, ist dies: In seiner Heimat Polen-Litauen hinkt die Aufklärung theoretisch hinterher. In der Praxis aber ist sie in vielen Dingen bereits weiter. In Berlin ist die theoretische Aufklärung schon sehr viel weiter. Aber in der Praxis hinkt sie hinterher. In Preußen wird unablässig darüber diskutiert, ob den Juden das Recht auf Religionsfreiheit und auf bürgerliche Freiheiten zugestanden werden soll – in Polen ist es ihnen seit 1264 zugesichert.[29] Nach innen hatten diese großen Autonomien zwar eine sehr starre und kaum aufzubrechende kulturelle und religiöse jüdische Praxis zur Folge, nach außen jedoch eine vergleichsweise positive rechtliche Situation der Juden.

Allerdings beobachtet Maimon, dass den Juden diese Rechte nur aus pragmatischen Gründen zugestanden werden. Die praktische Folge davon ist, dass ihnen trotzdem Hass, Missgunst, Verfolgung entgegenschlägt. Maimon sagt: Bürgerrechte müssten den Juden nicht bloß aus pragmatischen Gründen gewährt werden, sondern ganz prinzipiell aus philosophischer Überzeugung.[30] Wörtlich sagt er: »aus Achtung für die allgemeinen Rechte der Menschheit«.[31] Natürlich spielen die Menschenrechte eine Rolle – Maimon schreibt die Lebensgeschichte zur Zeit der Französischen Revolution.

Außerdem fällt in Maimons ja doch relativ kurze Lebenszeit ein weiteres zentrales Ereignis der europäischen Geschichte, das im hiesigen Bewusstsein viel zu wenig verankert ist: die drei Teilungen Polen-Litauens. Es gibt eine Passage in der Lebensgeschichte, die zwischen den vielen anderen Themen dort vielleicht etwas untergeht. Maimon schildert dort, wie grausam die russische Armee in den Ortschaften seiner Heimat wütete, und wie er einst selber in die Fänge russischer Soldaten geriet, aber als einer der wenigen heil davonkam.[32]

Alle drei Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts fallen in Maimons kurzes Erwachsenenleben. 1772 ist Maimon 19 Jahre alt und befindet sich noch in seiner Heimat. 1772, nachdem Polen-Litauen sich angeschickt hatte, liberale Reformen durchzuführen, teilen die drei angrenzenden Staaten Preußen, Österreich und Russland den schwächeren Nachbarn unter sich auf. Man spricht bei Annexionen immer vom Verlust von Territorium – in diesem Fall war es ein Drittel des Staatsgebiets –, man könnte stattdessen ja aber auch die Menschen, die auf diesen Territorien leben, in den Blick nehmen. In diesem Fall war es so: Preußen nahm sich 360.000 Einwohner, Österreich nahm sich 2,7 Millionen Einwohner, und Russland nahm sich 1,3 Millionen Einwohner.[33]

Der zweite Teil der Lebensgeschichte erschien 1793, d.h. in dem Jahr, in dem Maimons Heimatland, also das, was noch davon übrig war, zum zweiten Mal geteilt wurde. Nachdem Polen sich die erste geschriebene Verfassung Europas gegeben hatte und weitere Reformen im Geiste der Aufklärung in die Wege leitete, schickte Katharina II. 100.000 russische Soldaten nach Polen. 1793 einigten sich Preußen und Russland auf eine weitere Teilung. In den Annexionsdokumenten rechtfertigten sie die Teilung als Aktion gegen das »Gift des französischen Demokratismus«.[34]

Die dritte und letzte Teilung erfolgte 1795 – in dem Jahr, in dem Maimon Berlin endgültig verlässt und mit dem Grafen Kalckreuth nach Schlesien geht. Nach heftigen Schlachten nahm Preußen sich Warschau, Österreich nahm sich Krakau und Lublin, Russland nahm sich Wilna.[35] Die Teilungen waren vollendet, der Staat Polen-Litauen, der fast ohne Unterbrechung 800 Jahre lang existiert hatte, verschwand von der Landkarte und wurde offiziell für erloschen erklärt. Dieses Verschwinden war in der Region kein einmaliges Ereignis. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt begannen die Aufteilungen erneut, dieses Mal die Aufteilung ganz Ostmitteleuropas von Finnland über die baltischen Länder bis hinab nach Rumänien. Jeder Verlust staatlicher Souveränität führte zu einem unvorstellbaren Ausmaß von Kriegsgräueln und Massenmorden.

Von Berlin bis nach Rügen ist es doppelt so weit wie von Maimons Geburtsort bis zur heutigen Grenze zwischen Belarus und der Ukraine. Immer wieder ist den ostmitteleuropäischen Staaten ihre freie Selbstbestimmung verwehrt worden. Jarosław Kuisz und Karolina Wigura haben kürzlich darauf hingewiesen: Die Gesellschaften Ostmitteleuropas haben die Erfahrung gemacht, dass eine Kapitulation und auch jeder Friedensschluss, der über ihre Köpfe hinweg ausgehandelt wurde, gleichbedeutend ist mit ihrer Auslöschung.[36] Diese nachvollziehbare Angst haben die Menschen in der Ukraine auch heute – die Analogien zur Gegenwart sind bestürzend.

Am 4. März 2024 präsentierte Dmitrij Medvedev, der ehemalige Präsident und heutige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats der Russischen Föderation, der Öffentlichkeit zum wiederholten Mal eine riesige Landkarte, aus der zu ersehen ist, wie das russische Regime sich eine Aufteilung der Ukraine angeblich vorstellt, welche Teile es an Ungarn verschenken würde etc.[37] (Vom Ziel, Kyjiw einzunehmen, ist das Putin-Regime nie abgerückt, auch wenn es in der Karte anders dargestellt wird.)

Nein, man sieht eben nicht alles aus der Distanz besser. Manches sieht man aus der Nähe besser. Dazu gehört Russland.

Russlands Nachbarn hatten mit ihren Warnungen vor dem Putin-Regime Recht. Sie haben auch damit Recht, dass es in diesem Krieg möglich ist, den Aggressor zu besiegen. Sie wissen auch, wie Russland Einhalt zu gebieten ist. Wenn uns unsere Freiheit etwas wert ist, dann müssen wir darauf hören, was die Menschen aus Russlands Nachbarländern uns über Russland zu sagen haben. Nämlich dies: Der Putinismus ist auf eine einfache Formel zu bringen: die der Zerstörung. Die Botschaft, die das Regime aussendet, ist das Verbrechen selbst. Und es liegt in der Logik dieser Diktatur, dass das Verbrechen sich immer weiter ausbreiten muss.

Die Menschen in Ostmitteleuropa fürchten sich nicht, wie viele Deutsche, vor dem Atomtod, sondern sie haben keine Angst, Russland entgegenzutreten, weil sie wissen, dass ihnen sonst das nächste Butscha bevorsteht, das nächste Kramatorsk, das nächste Mariupol. Alle wünschen sich Frieden mit Russland. Aber es ist für die Menschen in der Ukraine nicht möglich – und für uns hier wäre es verbrecherisch –, seinen Frieden zu machen mit einem Vernichtungskrieg. Die Menschen in der Ukraine wissen: Im Fall einer Kapitulation oder einer Niederlage droht ihnen die völlige Auslöschung. Die Menschen in der Republik Moldau, in Rumänien, in Belarus, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, Georgien, Kasachstan wissen es auch.

Wir können uns nicht heraushalten. Noch einmal: Es geht dem Putin-Regime nicht darum, ganz Europa zu erobern. Es geht dem Putin-Regime darum, in der Ukraine und über die Ukraine hinaus soviel wie möglich zu zerstören. Indem wir die Ukraine unterstützen, helfen wir unmittelbar der Ukraine, aber mittelbar helfen wir uns selbst.

Ich habe überlegt, was Salomon Maimon uns in der Situation, in der wir uns heute befinden, wohl sagen würde. Natürlich ist das Folgende Spekulation, aber ich glaube, es ist begründete Spekulation. Maimon würde wohl nicht mit jenen Menschen diskutieren, die anfällig sind für russische Propaganda. Diese Propaganda hat hierzulande ja nur einen einzigen konkreten Zweck: Sie soll bewirken, dass die Leute nichts tun. Wenn sie nämlich glauben, dass die Gründe für den Krieg zu kompliziert sind, um sie zu durchschauen, oder wenn sie glauben, dass das Opfer teilweise selber schuld ist, oder wenn sie glauben, dass es doch gute Gründe oder auch nur halbwegs nachvollziehbare Gründe oder auch nur teilweise plausible Gründe gibt für einen Vernichtungskrieg, dann stehen sie dem Opfer nicht bei, und dann hat die Propaganda ihr Ziel erreicht.

Maimon würde sich also an die Leute richten, die sich selber für fortschrittlich und aufgeklärt halten. Maimon würde sich an uns richten. Und vermutlich würde er sagen: Das ausgehende 18. Jahrhundert war das Zeitalter, in dem Rechte erkämpft werden mussten, die uns heutzutage längst gewährt sind – nur haben die Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie, und darüber spricht man selten, nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten – und heute ist nicht mehr das Zeitalter der Rechte, heute ist für uns das Zeitalter der Pflichten. Und es ist unsere Pflicht, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf zu unterstützen, aus moralischen Gründen und weil es in unserem eigenen Interesse ist.

Eine Sache würde Maimon wohl nicht tun: Er würde nicht sagen, wie wir – jede Einzelne und jeder Einzelne von uns – in unserem Alltag, den wir ja alle weiterleben, die Ukraine konkret unterstützen sollen. Nun, das, würde Maimon sagen, das müsst ihr schon selber wissen. Ich würde ihm sagen: Lieber Herr Maimon, das stimmt zwar, aber bei der unübersehbaren Fülle von Möglichkeiten zu helfen kann es doch zumindest nicht schaden, sagen wir, nur drei herauszugreifen. Denn es ist gefährlich, wenn wir uns von dem Gefühl unserer Ohnmacht angesichts des Krieges erdrücken lassen. Alles, was wir persönlich für die Ukraine tun, ist in den Dimensionen zwar nicht zu vergleichen mit der Hilfe, die politische Entscheidungsträger bereitstellen. Aber es geht darum, dass die Ukraine jede Hilfe braucht.

Und deshalb schauen wir uns jetzt drei ganz konkrete, vollkommen triviale, alltägliche Möglichkeiten an, wie wir die Ukraine direkt oder indirekt unterstützen können.

Erstens: Wir können drei Begriffe googeln: DHL – Ukraine – kostenlos und dann den Instruktionen folgen. DHL bietet nämlich an, Hilfspakete kostenlos in die Ukraine zu schicken. So gut wie jeder Mensch in Deutschland ist materiell dazu in der Lage, ein solches Paket zu packen und zu verschicken. Und wer nicht dazu in der Lage ist, der kann anderen von diesem Angebot erzählen.[38]

Zweitens: Wir können auch für eine russische Organisation spenden und dazu die Internetseite Stoppt die Armee aufrufen, der Name der Seite lautet stoparmy.org/en/. In der russischen Verfassung ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verankert, das weiß allerdings so gut wie niemand in Russland. Diese Organisation macht diese Information bekannt und hilft Leuten, die eingezogen werden sollen, aber sich an der Abschlachtung der Ukrainer nicht beteiligen wollen, sehr effektiv mit anwaltlichem Beistand.[39]

Drittens: Wir können an den ukrainischen Theologieprofessor Yuri Chornomorets spenden. Um ihn im Internet sofort zu finden, brauchen wir wieder nur drei Begriffe zu googeln: Ukraine – Theologieprofessor – Sniper.[40]

 

Vortrag im Rahmen der Ephraim Veitel Soirée am Donnerstag, 21. März 2024, in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin

 

[1] Duden – Fremdwörterbuch. 5. Auflage, Mannheim u.a.: Dudenverlag 1990.

[2] Wilhelm v. Humboldt / Friedrich Schiller, Briefwechsel. Band 1. Berlin: Aufbau 1962, S. 80.

[3] Zit. n. Salomon Maimon’s Lebensgeschichte. Zweiter und letzter Theil. Berlin: Friedrich Vieweg 1793, S. 256. Im Folgenden zitiert als: Salomon Maimon, Lebensgeschichte II. Hervorhebung hier wie in allen folgenden Zitaten im Original.

Online unter http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/toc/?PPN=PPN31235939X.

[4] Vgl. Joseph Wälzholz, Der asoziale Aufklärer. Göttingen: Wallstein 2016, S. 114ff.

[5] Christoph Schulte, Kabbala in Salomon Maimons Lebensgeschichte. In: Eveline Goodman-Thau / Gert Mattenklott / Christoph Schulte (Hrsg.), Kabbala und die Literatur der Romantik. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 44.

[6] Vgl. ebd., S. 44f.

[7] Zit. n. Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. München: C.H.Beck 2002, S. 214f.

[8] Vgl. Salomon Maimon’s Lebensgeschichte. Erster Theil. Berlin: Friedrich Vieweg 1792, S. 121ff. Im Folgenden zitiert als: Salomon Maimon, Lebensgeschichte I.

Online unter http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/toc/?PPN=PPN312359306.

[9] Vgl. ebd., S. 262.

[10] Vgl. Inka Arroyo Košenina, Der »Radikale Traditionalismus«. Salomon Maimons Lebensgeschichte und das aporetische Denken. In: Ashraf Noor (Hrsg.), Erfahrung und Zäsur. Freiburg: Rombach 1999, S. 66.

[11] Vgl. Salomon Maimon, Lebensgeschichte I, S. 28ff.

[12] Vgl. ebd., S. 47.

[13] Vgl. Salomon Maimon, Lebensgeschichte II, S. 43.

[14] Salomon Maimon, Lebensgeschichte. Neu herausgegeben von Zwi Batscha. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1995, S. 151.

[15] Salomon Maimon, Lebensgeschichte II, S. 156.

[16] Vgl. Schulte 2002 (wie Anm. 7), S. 214.

[17] Salomon Maimon, Lebensgeschichte II, S. 195.

[18] Vgl. Schulte 1999 (wie Anm. 5), S. 47.

[19] Vgl. Salomon Maimon, Lebensgeschichte II, S. 182.

[20] Vgl. Salomon Maimon, Gesammelte Werke. Band 4. Herausgegeben von Valerio Verra. Reprographischer Nachdruck. Hildesheim 1970, S. 266.

[21] Vgl. Salomon Maimon, Lebensgeschichte I, S. 268ff.

[22] Vgl. ebd., S. 292.

[23] Vgl. Salomon Maimon, Lebensgeschichte II, S. 151f.

[24] Vgl. Schulte 1999 (wie Anm. 5), S. 43.

[25] Salomon Maimon, Lebensgeschichte II, S. 220.

[26] Ebd., S. 221.

[27] Salomon Maimon, Lebensgeschichte I, S. 6.

[28] Ebd.

[29] Vgl. François Guesnet, Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Köln: Böhlau 1998, S. 178.

[30] Vgl. Bernd Fischer, Jüdische Emanzipation und deutsche Nation: Von Mendelssohn zu Auerbach. In: Jürgen Fohrmann / Helmut J. Schneider (Hrsg.), 1848 und das Versprechen der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 153.

[31] Salomon Maimon, Lebensgeschichte I, S. 6.

[32] Vgl. ebd., S. 200ff.

[33] Diese gerundeten Zahlen basieren auf: Jürgen Heyde, Geschichte Polens. 5. Auflage, München: C.H.Beck 2023, S. 50.

[34] Ebd., S. 52.

[35] Vgl. Norman Davies, Im Herzen Europas. 2. Auflage, München: C.H.Beck 2001, S. 281.

[36] Vgl. Jarosław Kuisz / Karolina Wigura, Posttraumatische Souveränität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2023, S. 44.

[37] Foto: Igor Ivanko, Kommersant. Quelle: https://shorturl.at/cewAJ.

[38] https://www.dhl.de/de/privatkunden/information/hilfe-ukraine.html.

[39] https://stoparmy.org/en/.

[40] https://chornomorets.notepin.co/ und https://shorturl.at/sJNR6.