Über Hochschulproteste 2024/1968
In der bundesdeutschen Geschichte haben Studentinnen und Studenten schon einmal die Gesellschaft derart in Atem gehalten, dass sie seitdem zwangsläufig als Vergleichsfolie herhalten müssen, wann immer sich an Universitäten etwas regt. Der Historiker Wolfang Kraushaar hat deshalb zuletzt in einem Interview die derzeitigen Proteste und die Bewegungen gegen den Vietnamkrieg, Notstandsgesetzgebung und Nazikontinuitäten verglichen, um Ähnlichkeiten herauszustellen, aber vor allem Unterschiede zu betonen. Er hat dabei auch auf den als Antiimperialismus oft nur notdürftig verkleideten Antisemitismus von Teilen der (terroristischen) Ausläufer der alten Studierendenbewegung hingewiesen.[1] Andere machen sich die unumgängliche Mühe, die einzelnen Proteste genau zu betrachten, um zu prüfen, wo sich dort antisemitische Motive und Handlungen finden – und wo nicht. Auffällig bleibt aber, dass sich in den auf allen Seiten angeführten Argumentationsmustern und Motiven selbst deutliche Echos auf die Diskussionen um und über 1968 vernehmen lassen. Es lohnt sich deshalb vielleicht, noch einmal auf die Texte eines ihrer genauesten, emphatischen aber auch kritischsten zeitgenössischen Beobachters zu schauen. Seine wichtigsten Beiträge zu Hochschulreform und Protestbewegung hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas bereits in der ersten Jahreshälfte 1969 in dem gleichnamigen edition suhrkamp-Band versammelt. Vor dem Hintergrund seiner langanhaltenden und intensiven Auseinandersetzung mit den Hochschulprotesten um 1968, lassen sich die in diesen Echos oft mitaufgerufen aber selten explizit begründeten Legitimierungs- aber vor allem auch Delegitimierungsstrategien besser nachvollziehen und beurteilen.
Die aktuellen Proteste von Studierenden ziehen die deutsche Öffentlichkeit in ihren Bann, seit die Praxis der Campusbesetzungen von US-amerikanischen Universitäten auch nach Deutschland übergeschwappt ist. Die einen sehen in den Protestcamps gegen den Krieg im Gazastreifen und die israelische Besatzungspolitik einen Antisemitismus, den Postkoloniale Theorie und Genderstudies insbesondere in den Geisteswissenschaften salonfähig gemacht hätten. Manche stellen richtig heraus, dass das von der Hamas am 7. Oktober an Israelis verübte Massaker sowie die noch immer im Gazastreifen gefangengehaltenen Geiseln in diesen Protesten kaum eine Rolle spielen. Andere verweisen auf Ängste von sowie explizite Drohungen und Gewalt gegen jüdische Studierende. Verteidigerinnen der Camps bestehen dagegen darauf, dass auch die Universität ein Ort sei, um gegen Gewalt und Unrecht zu demonstrieren. Sie führen die lange Geschichte von Studierendenprotesten gegen von breiten Teilen der Gesellschaft ignoriertes Unrecht an. Zurecht wird ihnen darauf wiederum die unsägliche Rolle vorgehalten, die Universitäten und ihre Studierenden schon vor und während Machtergreifung Hitlers in der nationalsozialistischen Bewegung gespielt haben.
Grundsätzlich stand für Habermas in den 1960er Jahren fest, dass die Studierenden keinerlei über andere Teile der Bevölkerung hinausgehende Legitimationsgrundlage für Protest hätten. Auch Habermas führt die beschämende Vorreiterrolle von Universitätsangehörigen – Studierenden und Lehrkräften – für den Nationalsozialismus an. Ihr Recht auf Einspruch wie dessen Grenzen können sich daher nicht von dem der übrigen Staatsbürgerinnen unterscheiden. Was sie aber von anderen Bürger unterscheide, und zwar zunächst empirisch, sei die ausgedehnte Wahrnehmung dieser Rechte. Das ließe sich sozioökonomisch durchaus aus ihrer spezifischen gesellschaftlichen Stellung herleiten: Zwischen unmündiger Kindheit und der Einbindung ins Erwerbsleben verfügen sie schlicht über mehr freie Zeit und weniger Abhängigkeiten. Weit davon entfernt, diesen Umstand gegen sie zu wenden, erkannte Habermas genau darin ein Potenzial für die Bundesrepublik. Die sah er in diesen Jahren besonders durch die zunehmende Ausbreitung zweckrationaler Herangehensweisen auf alle sozialen und kulturellen Sphären – in seinen Begrifflichkeiten also ihr Übergreifen von Bereichen der Arbeit auf jene der Interaktion – bedroht. Gedeckt würde dieser Prozess durch eine „gläsernere Hintergrundideologie“, eine Figur, die er in einem Aufsatz zu Herbert Marcuses 70. Geburtstag entwickelt hatte. Diese Hintergrundideologie bestand in der Fetischisierung von Wissenschaft und Technik.[2] Der Protest der Studierenden könne in dieser Situation zu einer „Repolitisierung der ausgetrockneten Öffentlichkeit“ beitragen und habe damit demokratisierende Effekte.[3]
Auch Habermas stellte, wie viele heutige Kommentator*innen, die auffällige Häufung von Studierenden geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer unter den Protestierenden fest. Die Erklärung dafür sah er jedoch nicht so sehr in den Gegenständen der Geistes- und Sozialwissenschaften, wie in transparenter Absicht ihrer Delegitimierung mittlerweile allenthalben zu vernehmen ist. Vielmehr liege dies an den in diesen Fächern eingeübten Methoden und Verfahren. Auf diesen Aspekt in Habermas’ Texten zu Wissenschaft, Protestbewegung und Hochschulreform hat zuletzt Eva Geulen erneut hingewiesen:[4] Weil die „primären Erfahrungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit mit dem technokratischen Grundgedanken nicht zusammenstimmen“, erwiesen die Studierenden dieser Fächer sich eher als „immun gegenüber dem technokratischen Bewußtsein“.[5] Habermas hat damit keinesfalls eine grundsätzliche Kritik der Erfahrungswissenschaften im Sinn. Doch angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung der Naturwissenschaften sowie des immer weitergehenden Übergreifens ihre Methodik, hielt er es für nötig, umgekehrt die Eigenlogik der Geistes- und Sozialwissenschaften und ihrer Zentralität für das heraus zu stellen, was er in diesen Jahren nach heutigem Sprachgebrauch vielleicht kontraintuitiv als die praktischen Bereiche der Gesellschaft bezeichnete: Kommunikation und Interaktion, Kultur, Geschichte, Politik und Recht.
Der taz-Journalist Jan Feddersen hat in einem kritischen Kommentar zu den Campusbesetzungen jüngst suggeriert, dass diese Fächergruppen primär Studierende anzögen, die sich um ihre (berufliche) Zukunft (noch) nicht ganz so viele Gedanken machen müssten wie ihre vom Schicksal weniger geküssten Altersgenossinnen.[6] Letztere wählten eher technische Fächer oder gingen in die Berufsausbildung. Feddersen sieht daher in einem Selbstbild, in dem Akademikerinnen und Akademiker zumal solche in den Geisteswissenschaften besonders zu Protest und Widerstand berufen seien, vor allem Klassismus am Werk. Und auch Habermas verwies in den 1960er Jahren auf deren privilegierte Position und bemerkte etwas umständlich, „ihre soziale Herkunft fördere keinen Erwartungshorizont, der durch die antizipierten Zwänge des Arbeitsmarktes bestimmt wäre“.[7] Dieser Umstand sollte jedoch zumal in einer linken Tageszeitung wie der taz eher Anlass bieten zur Kritik an einer Gesellschaft, in der Zukunftschancen und Sicherheiten derart stark von der Herkunft abhängen, als zur Abfertigung derjenigen dienen, die von ihrem Recht bereits jetzt Gebrauch machen. Die Annahme, das Protestpersonal rekrutierte sich nahezu ausschließlich aus den Universitäten, hat in ihrer populistischen Verallgemeinerung außerdem selbst eine klassistische Dimension: Als ob Arbeiterinnen und Migrantinnen – Gruppen, deren imaginierten Wunsch nach einem ruhigen Leben Feddersen gegen das Sendungsbewusstsein der Akademikerinnen stellt – keine politischen Subjekte wären, die sich Sorgen um den Zustand der Demokratie in Deutschland oder um die Menschen aus ihren Herkunftsländern machen könnten. Die Annahme ist aber auch historisch nicht richtig. Sie unterschlägt etwa die wichtigen Impulse der Lehrlingsbewegung, genauso wie die zahlreichen politischen Kämpfe von Menschen mit Migrationsgeschichten, die die Bundesrepublik nachhaltig verwandelt haben.[8]
Auffällig ist jedenfalls, wie viel Raum Habermas in seinen öffentlichen Stellungnahmen und wissenschaftlichen Texten dieser Jahre der Frage der Universität und der Wissenschaft einräumt. In der Wahrnehmung einer mindestens noch nicht vollständig verwirklichten, vielleicht sogar zunehmend gefährdeten Demokratie erteilt Habermas den protestierenden Student*innen zudem auch in der Wahl ihrer Mittel eine sehr weitreichende Lizenz: Sit-in und Go-in, Demonstration und Happening, Taktiken, die er bei einem Aufenthalt in den USA bereits kennengelernt hatte, waren auch angesichts einer für Habermas in diesen Jahren durch Pressekonzentration gefährdeten bürgerlichen Öffentlichkeit schlicht notwendig, um den Argumenten Gehör zu verschaffen. Er bezeichnete sie als „demonstrative Gewalt“, die grundsätzlich legitim sei. Ihr setzte er allerdings scharfe Grenzen: Zum einen, und darin liegt der Kern des von Habermas später zumindest in der Formulierung, wenn auch nicht in der Sache tief bereuten Linksfaschismus-Vorwurfs gegen Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl im Juni 1967, sah er eine solche Grenze in der Antwort auf die Frage, ob eine latent faschistische Situation in der Bundesrepublik bestände; also eine Gewaltsituation, die die studentischen Proteste mittels Provokation nur manifest machen müssten, um so schließlich eine revolutionäre Situation zu erzwingen. Dem widersprach Habermas bei aller Sympathie für die Ziele der Studierenden und Erschütterung über die Ermordung Benno Ohnesorgs wenige Tage zuvor vehement: Weder sei die Bundesrepublik latent faschistisch, noch bestehe eine revolutionäre Situation. Habermas sah darin einen fatalen Interpretationsfehler der Frankfurter und Berliner Studentenführer mit dramatischen Folgen. Habermas hat sich in der Folge zunehmend zu liberalen Institutionen, Spielregeln und Verfahren bekannt, denen er bekanntlich auch einen großen Teil seines wissenschaftlichen Werks gewidmet hat. In ihnen erkannte er einen historischen Fortschritt. Diese Überzeugung hatte ihn allerdings der sich radikalisierenden Studierendenbewegung zunehmend entfremdet – und umgekehrt sie ihm.
Als zweite Grenzziehung bestand Habermas darauf, dass der wissenschaftliche Ablauf durch die Proteste nicht nachhaltig gestört werden dürfe. Zentral für ihn dabei: die Lehrveranstaltungen. Ihre Umwandlung in Orte direkter Aktionsvorbereitung und politischer Aktivität wies er zurück. Es lässt sich sehr genau sehen, dass Eingriffsversuche der Studierenden in die Lehrfreiheit einen neuralgischen Punkt für Habermas darstellten, der scharfe Reaktionen auslöste. Dabei ist anzumerken, dass er der studentischen Kritik am traditionellen Lehrbetrieb weitgehend zustimmte, das entstehende Seminarrezensionswesen begrüßte und seine eigenen Seminarpläne ausführlich inhaltlich begründete. Die sehr klare Grenzziehung genau an diesem Punkt mag zunächst überraschen. Sie ist meines Erachtens primär von einem Gedanken getragen: Habermas begriff (kritische) Wissenschaft in diesen Jahren als die Basis der Aufklärung. Diese dürfe nicht gefährdet werden, und sei es auch in aufklärerischer Absicht. Die Basis einer solchen Wissenschaft könne nun wiederum nichts als die herrschaftsfreie Diskussion sein.[9] Genau diese Basis aber sah er durch eine direkte Politisierung der Seminare infrage gestellt. Unermüdlich legte er seinen Studierenden ein ums andere Mal dar, dass aus der systematischen Einheit von Theorie und Praxis gerade nicht ihre Identität folge. Theorie und Praxis unterständen vielmehr ganz verschiedenen Zeit- und Handlungslogiken, was notwendige Differenzen nach sich zöge.[10] Genau betrachten müsste man aus einer solchen Perspektive heute sowohl generelle Boykottforderungen gegenüber israelischen akademischen Institutionen als auch die zahlreichen Hindernisse und Einschränkungen der Tätigkeit palästinensischer Akademiker*innen bis hin zur Zerstörung der kompletten akademischen Infrastruktur im Gazastreifen infolge des aktuellen israelischen Angriffs.
Habermas‘ Einschätzung wirkt wie eine für die überspannte Stimmung dieser Jahre typische Überschätzung universitärer Wissenschaft. Denn: welches Gewicht kann die Frage der Universität angesichts massenhaften Tötens beanspruchen? Doch auch zum Zeitpunkt von Habermas’ Nachdenken über die Hochschulproteste tobte bereits seit vielen Jahren ein äußerst opferreicher Krieg. Die Gewichtung wird möglicherweise plausibler, wenn man berücksichtigt, dass Habermas wie einige andere marxistisch orientierte Denker in dieser Zeit davon ausging, dass mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der industriellen Produktion Wissenschaft zur wichtigsten Produktivkraft geworden war. Das erst machte die erwähnte gläserne Hintergrundideologie von Wissenschaft und Technik plausibel. Der Streit darum, was Wissenschaft ist, bekommt dann eine herausgehobene Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Habermas stellte sich allerdings nicht die naheliegende Frage, ob zumindest ein Teil der Kritik und Aktionsformen der Studierenden nicht ebenfalls auf die Frage zielte, ob es sich etwa bei der Seminardiskussion unter Leitung einer Professorin oder eines Professors überhaupt um herrschaftsfreie Diskussionen handelte, was Wissenschaft bedeutet und was Herrschaftsfreiheit, was Diskussion und was Aufklärung usf.[11] Das erinnert an die verhärtete Frontstellungen bei den von vielen deutschen Journalistinnen, Politikern und auch Wissenschaftlerinnen grundsätzlich abgelehnten Kategorien wie (Siedler-)Kolonialismus, Genozid und Apartheit zu Beschreibung der israelischen und palästinensischen Situation, die die Studierenden wiederum mit großer Selbstverständlichkeit und ohne viele Zweifel als Grundlage ihrer Aktionen in Anschlag bringen. Vielleicht haben auch die Diskussionen um das richtige Antisemitismusverständnis eine solche Dimension. Es ist jedoch auffällig, dass bei den gegenwärtigen Protesten die Formen universitärer Forschung und Lehre bislang kaum zum Gegenstand der studentischen Intervention geworden sind. Eine mögliche Erklärung ist, dass es sich bei ihnen eher um Single-Issue-Politik handelt, während die alte Studierendenbewegung besser als Multi-Issue-Bewegung zu fassen wäre, die neben dem wichtigen initialen Moment gegen den Vietnamkrieg auch Fragen der Lebensweise und eben auch der Universität aufwarf. Mit der in den Transparenz- und divestment-Forderungen vieler aktueller Protestcamps sich ausdrückenden Aufmerksamkeit für die Verstrickungen zwischen akademischen Institutionen, Militär und (Rüstungs-)Unternehmen, sind allerdings auch in der heutigen Bewegung die Grundlagen akademischen Lebens direkt thematisiert, die im Zuge der Neoliberalisierung der Universitäten massiv an Gewicht gewonnen haben. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spricht angesichts der studentischen Einordnung der großen US-amerikanischen Universitäten als mächtige Akteurinnen des Finanzmarkts und der Politik von Fragen der Politischen Ökonomie im Kern der Proteste.[12] Diese Kritik der politischen Ökonomie sollte sich aber nicht auf Israel beschränken, wenn sie sich nicht dem Vorwurf der Doppelmoral aussetzen will.
In seiner Verteidigung der Lehrfreiheit beruft sich Habermas gegenüber den Studierenden schließlich auch auf „im Kodex liberaler Rechte“ enthaltene Aspekte, die – die Studierenden rhetorisch eingemeindend – „auch für uns völlig unveräußerlich sind“.[13] Das gilt, darauf hat der Jurist Nils Hansen vor kurzem erneut hinweisen müssen, natürlich umgekehrt auch für die liberalen Rechte der Protestierenden.[14] Der Bruch zwischen Studierendenbewegung und dem Institut für Sozialforschung, an dem Habermas als Nachfolger von Max Horkheimer forschte und lehrte, erfolgte wohl in dem Augenblick, als die Institutsleitung im Frühjahr 1969 die Polizei rief, um eine Institutsbesetzung räumen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte die Leitung Anzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet.[15] Habermas begründete seine Schließung des soziologischen Seminars unmittelbar vor der versuchten Institutsbesetzung gegenüber Herbert Marcuse, der sich postalisch aus Kalifornien mit harscher Kritik an der Entscheidung gemeldet hatte, damit, dass die Zerstörung von Seminar und Bibliothek jederzeit hätte erfolgen können.[16] Für Habermas, der sich von den Instituts-Professoren der Hochschulreform- und Protestbewegung vielleicht am verbundensten gefühlt hatte, lässt sich sagen, dass er spätestens ab 1967 studentische Analysen und Aktionsformen, die er für problematisch hielt, deutlich kritisierte. Dabei adressierte er die Bewegung immer wieder auch direkt. Ab Herbst 1968 sah er die Protestbewegung jedoch wohl endgültig auf dem Abweg, eine Verständigung schien ihm zunehmend unmöglich. Nichtsdestotrotz machte er sich noch im Frühjahr 1969 die Mühe, neben scharfer Kritik, in der er nicht zuletzt hellhörig das Auftauchen antisemitischer Motive vermerkte, Erfolge und anhaltende Potenziale detailliert herauszuarbeiten.[17] Dies geschah in eingreifender Absicht, auch wenn seine Hoffnungen sich bald darauf zerschlagen sollten. Diese Haltung, die bei aller Aufmerksamkeit für Ambivalenzen von der demokratischen Bedeutung universitärer Proteste ausgeht und ihnen daher eine differenzierte Betrachtung zuwendet, könnte auch in der derzeitigen aufgeheizten Auseinandersetzung, die nur so von Vereinseitigungen und gegenseitigen Beschuldigungen trotz, helfen. Das würde aber erstens bedeuten, die Studierenden nicht von vornherein zu denunzieren, und zweitens den akademischen Nachwuchs nicht leichtfertig aufzugeben, sondern um ihn zu kämpfen. Den jüngsten Artikel der an der Humboldt Universität lehrenden Politikwissenschaftlerin Naika Foroutans lese ich als einen solchen Versuch.[18] Er enthält auch eine wichtige und produktive Selbstkritik einer Lehrenden, die Habermas zumindest in diesen Jahren eher fremd war. Bei allen Unterschieden zwischen damals und heute sei in diesem Zusammenhang deshalb aber außerdem daran erinnert, dass die Lehrenden des Instituts für Sozialforschung im Herbst 1969 eine mehrwöchige Besetzung des soziologischen Seminars dennoch toleriert hatten, die erst von der Universitätsverwaltung durch das Rufen der Polizei aufgelöst worden war. Sie hatten die Studierenden außerdem teilweise vor der anrückenden Polizei gewarnt und haben sich auch im Nachgang der von ihnen selbst zu verantwortenden Räumung weiter der Diskussion gestellt.
[1] Kraushaar, Wolfgang (2024): »Das hat mit Antisemitismus nichts zu tun«. Interview mit Wolfang Kraushaar, in: Frankfurter Rundschau [https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/politikwissenschaftler-kraushaar-ueber-uni-proteste-das-hat-nichts-mit-antisemitismus-zu-tun-93067682.html], 17.5.2024 (letzter Aufruf: 18.5.2024)
[2] Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, in: ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48−103, hier S. 88 f.
[3] Ebd., S. 100.
[4] Geulen, Eva (2023): Aktivismus und Wissenschaft. In: ZfL Blog, (20. November 2023), [https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2023/11/20/eva-geulen-jahresthema-2023-24-aktivismus-und-wissenschaft/], 20.11.2023 (letzter Aufruf: 18.4.2024).
[5] Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48−103, hier S. 101.
[6] Feddersen, Jan (2024): »From the Job to the Sofa«, In: taz, [https://taz.de/Palaestina-Proteste-von-Studis/!6007814/], 17.5.2024 (letzter Aufruf: 18.5.2024).
[7] Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48−103, hier S. 101.
[8] Vgl. Weiberg, Gerd/Melcher, Wolf-Dieter (Hg.) (2018): Ansichten der Revolte. Hannover 1967-1968, Hannover, S. 316–350; Bojadzijev, Manuela (2024): Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. 3., erweiterte Auflage. Münster: Westfälisches Dampfboot.
[9] Habermas, Jürgen (1969): Erklärung vor Studenten (12. Dezember 1968). In: Ders.: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 244–245, hier: S. 245.
[10] Habermas, Jürgen (1969): Seminarthesen (14. Dezember 1968). In: Ders.: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 245–248.
[11] Ein ähnlich gelagertes Missverstehen der studentischen Politik durch Habermas diagnostiziert Robert Stockhammer anhand der Karriere des Begriffs Aktionismus. Stockhammer, Robert (2017): 1967. Pop, Grammatologie und Politik. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 51. Vgl. auch zum realen Seminarablauf bei Habermas folgende von Ekkehard Knörer ausgegrabene Episode: Knörer, Ekkehard (2015): Fundsache: Universitäre Streitkultur 1969 (Habermas). In: Merkur Blog, [https://www.merkur-zeitschrift.de/2015/09/24/fundsache-universitaere-streitkultur-1969-habermas/], 24.9.2015 (letzter Aufurf: 17. April 2024).
[12] Vgl. Tooze, Adam: Chartbook 279: Columbia University’s „crisis“ – a political economy sketch map. In: ders.: Chartbook, [https://adamtooze.substack.com/p/chartbook-279-columbia-universitys], 26.4.2024 (letzter Aufruf: 19.4.2024).
[13] Vgl. Habermas, Jürgen (1967): Diskussionsbeitrag auf dem Kongress »Bedingungen der Organisation des Widerstandes« in Hannover 9. Juni 1967. In: Uwe Bergmann (Red.): Bedingungen und Organisation des Widerstandes – der Kongreß in Hannover. West-Berlin 1967, S. 71–72, hier: S. 72.
[14] Jansen, Nils (2024): Warum ich den Aufruf der Lehrenden unterschrieben habe. In: FAZ, [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/berliner-studentenprotest-das-sagt-jurist-nils-jansen-19717072.html], 14.5.2024 (letzter Aufruf: 18.5.2024).
[15] Als unabhängiges Institut war die Sorge um den Fortbestand des Instituts für Sozialforschung tatsächlich ein wiederkehrendes Thema der Institutsleitung, die sie auch an diesem Punkt gelegentlich als Grund für die Räumung anführte.
[16] Habermas, Jürgen (1998): Jürgen Habermas an Herbert Marcuse am 5.5.1969. In: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995. Band 2: Dokumente. Hamburg: Roger & Bernhard, S. 625 – 626, hier: S. 625.
[17] Habermas, Jürgen (1969): Einleitung. In: Ders.: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9–50.
[18] Foroutan, Naika (2024): Pro-Palästina-Proteste in Berlin: Wer, wenn nicht Studierende – wo, wenn nicht an Universitäten? In: Tagesspiegel, [https://www.tagesspiegel.de/wissen/pro-palastina-proteste-in-berlin-wer-wenn-nicht-studierende–wo-wenn-nicht-an-universitaten-11644694.html], 14.5.2024 (letzter Aufruf: 22.5.2024).