Dankesrede zum Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis
Liebe Daniela Strigl, liebe Jury-Mitglieder, liebe Gäste,
die Vorstellung, dass die Welt, die Annette von Droste-Hülsoff 1797 erblickte, das zu diesem Gebäude gehörige Schloss war, und dass sie innerhalb dieses damals schon uralten Gemäuers als Schlossfräulein aufwuchs, rückt sie mir in ungeheure Ferne. Lese ich hingegen in ihren Gedichten, Prosawerken und Briefen, ist sie mir immer wieder für Augenblicke eine Zeitgenössin und manchmal sogar eine Freundin — im Sinne jener illusionshaften, einseitigen Freundschaften, die sich durch Lektüre knüpfen lassen.
Als Zeitgenössin erscheint sie mir zum Beispiel in dem späten Gedicht „Die ächzende Kreatur“ — vielleicht etwas trügerischerweise, denn der tiefe Glaube, mit dem sie in die Welt und auf die Natur geschaut hat, ist mir nicht mehr gegeben. Sie hatte die Vorstellung, dass der Fluch der Vertreibung aus dem Paradies, der den Menschen treffen sollte, gewissermaßen als Kollateralschaden auch die tierischen Geschöpfe und die Pflanzenwelt traf. Geblieben, und uns von Tag zu Tag schlimmer plagend, ist aber das Gefühl der Schuld des Menschen an der Natur, die die folgenden Verse womöglich heute eindringlicher werden lassen, als sie es zur Zeit ihrer Entstehung waren:
Und dennoch gibt es eine Last,
Die keiner fühlt und jeder trägt,
So dunkel wie die Sünde fast,
Und auch im gleichen Schoß gehegt;
Er trägt sie wie den Druck der Luft,
Vom kranken Leibe nur empfunden,
Bewusstlos, wie den Fels die Kluft,
Wie schwarze Lad‘ den Todeswunden.
Das ist die Schuld des Mordes an
der Erde Lieblichkeit und Huld,
An des Getieres dumpfem Bann
Ist es die tiefe, schwere Schuld,
Und an dem Grimm, der es beseelt,
Und an der List, die es befleckt,
Und an dem Schmerze, der es quält,
Und an dem Moder, der es deckt.
Annette von Droste-Hülshoff ist die einzige Frau, die Walter Benjamin in seine 1936 unter Pseudonym in der Schweiz herausgegebene Briefsammlung „Deutsche Menschen“ aufnahm, in diesen Chor der toten Menschen, den er dem Gebell der lebenden Unmenschen gegenüberstellte, und womit er ein letztes Mal vor dem Untergang beschwor, was in Deutschland einmal Geist und Humanität gewesen waren. Dieser Brief der Droste aus dem Jahre 1819, den sie als Vierundzwanzigjährige schrieb, ist im Übrigen absolut unpolitisch, falls es etwas Derartiges geben sollte. Sie erzählt darin von dem „wunderlichen, verrückten Unglück“, das von jeher in ihr liegt, von ihrer Sehnsucht nach Orten, an denen sie nicht ist, von ihrer Vorstellungsgabe, die ihr Plage und Segen zugleich ist. Gerade ist sie im privaten Kreis mit ersten Gedichten hervorgetreten, und der Brief enthält eine sehr erheiternde Passage über deren Aufnahme im Freundeskreis, die ich versucht bin, Ihnen vorzulesen, in der Hoffnung, die Laudatorin möge sie nicht persönlich nehmen, geht es doch im Brief nicht um versierte Literaturkritik, sondern um einen Freund der Familie, der keinen Schimmer davon hat, was Dichtung ist und vermag.
Ich zitiere also aus einem Brief vom 8.2.1819 an den heute vergessenen Professor und Dichter Anton Sprickmann:
„Was das Lob anbelangt, so habe ich schon recht an mich halten müssen, um manche unbedeutende und eben passable Stellen nicht auszustreichen, die mir durch unpassendes Lob ganz und gar zuwider geworden sind. So kam z. B. ein gewisser Herr, dem mein Gedicht auch nicht durch mich zur Beurteilung vorgelegt worden war, immer darauf zurück: die schönste Stelle im ganzen Gedicht sei: ‚Es rauscht der Speer, es stampfte wild das Roß‘ und erst durch sein vieles Reden wurde mir offenbar, wie dieser Ausdruck so gewöhnlich und oft gebraucht und beinahe die schlechteste Stelle im ganzen Buche ist. Dieser Herr hörte auch gar nicht auf, sondern sagte während des Tages mehrmals, wie in Entzückung verloren: ‚Es rauscht der Speer, es etc. etc.‘, wozu er auch wohl leise mit dem Fuße stampfte. Ich mußte endlich aus dem Zimmer gehen. Wie ich vor einer Woche in Münster bin, begegnet mir der Unglücksvogel auf der Straße, hält mich sogleich an und sagt sehr freundlich: ‚Nun, Fräulein Nette, wie geht’s? was macht die Muse? Gibt sie Ihnen noch bisweilen so hübsche Sächelchen in die Gedanken wie das Gedichtchen von neulich? Ja, das muß ich ihnen sagen, da ist’n niedlich Ding; was für eine Kraft bisweilen: Es rauscht der Speer, es stampfte wild das Roß.‘ Ich machte mich sobald als möglich los und lachte ganz unmäßig; ich hätte aber ebenso gut weinen können.“
Ich selbst bin heute mit kundigerem, empfindsameren Lob beschenkt worden, das mich auch manchmal lächeln, aber gewiss nicht weinen ließ. Mit leichtem Unbehagen denke ich an die womöglich gar nicht wenigen Passagen in meinen Büchern, die mein eigenes „Es rauscht der Speer, es stampfte wild das Roß“ darstellen, die aber heute glücklicherweise nicht Erwähnung fanden.
Der Laudatorin und allen Mitgliedern der Jury und natürlich dem Spender des Preises, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, und auch dem Center of Literature sei mein sehr herzlicher Dank ausgesprochen.