Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus

Wie historisch ist der Nationalsozialismus vierzig Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches; blockiert Hitler noch immer den Zugang zur deutschen Geschichte; was heißt das: vergangene Geschichte? Solche Fragen, leicht zu vermehren, richten sich nicht nur an den Historiker. Sie berühren individuelle und kollektive Geschichtserinnerung, rechtliche Festschreibung der Vergangenheitsbewertung, politische Pädagogik, zeitgeschichtliche Medien-Publizistik mit allen ihren Eigengesetzlichkeiten. Und diese Fragen nur zu stellen, hat fast etwas politisch Verdächtiges, denn der Nationalsozialismus als Negativ-Maßstab der politischen Erziehung, als Gegenmodell von Recht, Freiheit und Friedensordnung, scheint unverzichtbar für die Orientierung und Begriffswelt der Gegenwart. Dem steht gegenüber, daß die Moralität der Betroffenheit von der NS-Vergangenheit sich mittlerweile stark erschöpft hat. Sie hat durch neue weltgeschichtliche Gewalt- und Katastrophenerfahrungen an Singularität eingebüßt und ist inzwischen vielfach zu einem etablierten Set ebenso risikoloser wie vager Gesinnungsbekenntnisse ohne moralische Kraft geworden. Das zur Stereotopie verflachte Diktum der »nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« kann wohl nur durch stärker differenzierende historische Einsicht auch moralisch neu erschlossen werden. Deshalb erscheint das schon gewandelte und sich wahrscheinlich weiter ver- ändernde Verhältnis von Moralität und historischem Verstehen auch als der eigentliche Sinn und Angelpunkt der Frage, wie vergangen, wie geschichtlich der Nationalsozialismus inzwischen geworden ist.

Der Nazi-Schock besteht weiter

»Die Faszination der wenigen verrückten Jahre wird vielleicht eines Tages dahinschwinden, aber dieser Tag ist noch nicht in Sicht.« Die Bemerkung stammt nicht von einem deutschen Beobachter der zeitgeschichtlichen Literatur- und Medienproduktion in der Bundesrepublik, sondern von dem amerikanischen Historiker Istvan Deak, ausgelöst durch die stattliche Zahl allein in englischer Sprache neu erschienener Fachliteratur über den Nationalsozialismus (The New York Review of Books, 31. Mai 1984). Mit Selbstverständlichkeit nennt Deak als Grund für die erstaunliche Literaturfülle den »noch immer nicht überwundenen Zivilisationsschock«, den die nationalsozialistischen Massenverbrechen auslösten. Das gilt nicht nur für Israel, sondern auch für die Großstädte der amerikanischen Ostküste, wo Hunderttausende von Emigranten und Überlebenden der Hitlerzeit aus Mittel- und Osteuropa Zuflucht fanden.

Aber nicht nur die Opfer halten die Erinnerung wach. Die unerhörte Suggestions-, Mobilisations- und Leistungskraft des nationalsozialistischen Deutschland, das Image der Erfolgsfähigkeit alten oder neuen faschistischen Potentials ist präsent. Zur Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus gehört auch die Sensibilität und Hypersensibilität des Faschismusverdachts in der Gegenwart, der sich angesichts vielfältiger verwandter Erscheinungsformen totalitärer Manipulation, ideologischer Gewaltlegitimation oder irrationaler Protestbewegungen aufdrängende Eindruck: »still, the thing exists« (Istvan Deak).

Widersprüchlichkeit und scheinbare Unvereinbarkeit vieler Züge und Erscheinungsformen des Nationalsozialismus haben ein übriges getan, um die Diskussion, aber auch die Suggestion aufrechtzuerhalten. Die verwirrende Sprach- und Geistesverfassung jener »rechtschaffen verfolgenden Unschuld«, die im Frühjahr 1933 mit den Aktivisten der nationalsozialistischen Machtergreifung auf den Plan trat, gab damals schon Karl Kraus das Bild vom Hexensabbat einer »Dritten Walpurgisnacht« ein. Die pseudoreligiöse Ergriffenheit, mit der die »Unperson« Hitler große Teile des deutschen Volkes einschließlich seiner gebildeten Schichten jahrelang in den Bann schlug, trieb nicht nur deutsche Nachkriegshistoriker auf den erklärungs-ohnmächtigen Ausweg dämonologischer Deutung. Am rational nicht Reimbaren entzündete sich Syberbergs quälende Film-Neuschöpfung des Dritten Reiches mit den phantasmagorischen Stilmitteln künstlerischer Bild-, Wort- und Musikmontage. Auf intellektueller Ebene führte die aus moralischem Abscheu und Gewaltfaszination gemischte Nachwirkung zum Begriff der faschistischen Ästhetik (Susan Sontag), auf subkultureller Ebene zu der weltweit verbreiteten Groschenliteratur über das Dritte Reich und zu dem regelrechten Genre des Nazi-Abenteuerfilms. Die Wirkungen des Kulturschocks haben sich auch in dieser Weise verselbständigt, in der Massenproduktion von Zerrbildern über das Dritte Reich, gegen die Historiker mit ihrer geringeren Resonanz kaum aufzukommen vermögen.

Die Beschäftigung mit der NS-Zeit war nie nur eine deutsche Sache, und sie läßt sich auch nicht allein von deutscher Seite und auf deutsche Weise bestimmen. Das Besondere an unserer Situation ist die Notwendigkeit und Schwierigkeit, den Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte einzuordnen. Vierzig Jahre Abstand haben dabei, so scheint es auf den ersten Blick, nicht viel bewirkt. Welches Geschichtsbuch man auch aufschlägt: Wenn das Dritte Reich beginnt, geht der Autor auf Distanz. Das Einfühlen in historische Zusammenhänge bricht ebenso ab wie die Lust am geschichtlichen Erzählen. Die Geschichte des Nationalsozialismus wird nicht mehr verdrängt, aber sie verkümmert zur Pflichtlektion. Eines immerhin wird deutlich: Die aus dem Rückblick so kurz erscheinende Hitlerzeit und die ihr vorangegangene Agonie der Weimarer Republik stellen ein dramatisches Geschichtskapitel mit besonders voll beschriebenen Blättern dar. Bedeutung und Nachwirkung lassen sich nicht an der nur kurzen Dauer messen, und auch nicht allein an der schon viel längeren, stabilen, erfolgreichen, in vieler Hinsicht auch sanierenden Geschichte der Bundesrepublik, die uns inzwischen davon trennt. Zu vermuten ist: Die auffällige Kargheit der Farbgebung bei der Geschichtsschreibung über das Dritte Reich entspricht nicht der – vom positiven oder negativen Erlebnisinhalt weitgehend unabhängigen – Intensität der Erinnerung im populären Geschichtsbewußtsein und seiner traditionellen Bindung an die Nation und den nationalen Staat.

Wie leidvoll die Geschichte in der Hitlerzeit auch für viele Deutsche gewesen ist oder endete, die so pathetische Erfahrung einer nationalsozialistischen »Schicksalsgemeinschaft« bindet noch immer stark die historische Erinnerung, zumal sie die letzte Erfahrung der gemeinsamen Nationalgeschichte gewesen ist. Die Bemühungen, Bundesrepublik-Geschichtsbewußtsein dagegen aufzubieten, haben es auch deshalb schwer, weil die postnationale Erfahrung der Bundesrepublik ganz anderer, viel weniger emotionaler Art ist, nicht über eine so starke Singularität geleitet. Was an Affirmation des aus dem Abbruch der nationalen Geschichte hervorgegangenen Provisoriums Bundesrepublik in der großen Mehrheit seiner Bevölkerung mit der Zeit zustande kam, äußerte sich weniger in Bekenntnissen als durch positive Eingewöhnung in eine annehmliche Wohlstands-, Rechts- und Zivilisationsgemeinschaft.

Man sagt, die Blockade eines kräftigeren Geschichtsbewußtseins in der Bundesrepublik sei vor allem der nationalsozialistischen Vergangenheit zuzuschreiben. In gewisser Weise ist auch das Gegenteil richtig: Gerade weil die Bundesrepublik in die westliche politische Kultur integriert ist und demzufolge nur in abgeschwächter Weise Gegenstand politisch nationaler Identifikation zu sein vermag, bleibt in einer tieferen Schicht des kollektiven Bewußtseins die Erinnerung an die geschichtsträchtige letzte Phase der nationalen Geschichte lebendig. Darauf beruht offenbar auch ein guter Teil des zweifellos noch immer bestehenden nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls mit den Deutschen in der DDR, mit denen man, anders als mit den Deutschen in Österreich, nicht nur die zweite, bald nur noch schlimme Hälfte der HitlerZeit, sondern die ganze vorangegangene nationale Geschichte teilte.

Vierzig Jahre Erforschung des Nationalsozialismus

Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stand in der Bundesrepublik unter besonderen Rahmenbedingungen. Sie konnte sich nicht wie in der DDR einfach in die Traditionslinie der antifaschistischen Vorhut der Arbeiterklasse stellen und als Fortsetzung des »anderen Deutschland« stilisieren. Vielmehr griff sie beim Wiederaufbau in hohem Maße zurück auf die alten Funktionseliten, die schon dem NS-Regime gedient hatten. Damit war, kompensatorisch sozusagen und mit Rücksicht auf die westlichen Besatzungsmächte und späteren Bündnispartner, eine klare offizielle Distanzierung von der Nazi-Vergangenheit notwendig: einerseits nachsichtiges Vergeben und Verschweigen der konkreten persönlichen Mitverantwortung in der NS-Zeit, andererseits das Regulativ grundsätzlicher Ablehnung des Nationalsozialismus als Voraussetzung für jegliche Art von Repräsentation in der neuen Gesellschaft und Staatsordnung. Wie immer es mit der Bereitschaft zur ehrlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wirklich aussah, offene Verstöße gegen die Norm hatten mit scharfen Sanktionen zu rechnen.

In diesem Rahmen begann sich die deutsche Geschichtswissenschaft neu einzurichten. Die Wortführung beim kritischen Umdenken in bezug auf die »jüngste Vergangenheit« fiel dabei fast zwangsläufig an diejenigen Neuzeit-Historiker, die aus rassischen oder politischen Gründen nach 1933 aus der Hochschulkarriere verbannt, zur Emigration gezwungen worden waren oder während der NS-Zeit bald auf kritische Distanz gegangen waren (Friedrich Meinecke, Hans Rothfels, Gerhard Ritter, Ludwig Dehio, Ludwig Bergsträsser, Hans Herzfeld, Franz Schnabel u.a.), in der Mehrzahl Historiker christlich-konservativer oder liberal-konservativer Observanz. Dabei beschränkte man sich nicht auf Dokumentation und Darstellung deutschen Widerstandes gegen Hitler, um Kollektivschuld-Vorwürfe abzuwehren. Die neue Zeitgeschichtsforschung setzte auch zu einer Generalrevision des nationalen Historismus an, nicht zuletzt dank der Repräsentanten der neuen demokratischen Disziplin der Politikwissenschaft (Heinrich Otto v. d. Gablentz, Theodor Eschenburg, Arnold Bergsträsser, Hans Rosenberg, Dolf Sternberger u. a.), die seit den fünfziger Jahren starken Einfluß auf die sich entfaltende zeitgeschichtliche Erforschung des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik nahmen. Diese Entwicklung war gefördert worden durch den Verbund mit der von deutschen Emigranten in den USA (Franz Neumann, Ernst Fraenkel, Hannah Arendt) und vor allem einigen angelsächsischen Historikern (Alan Bullock, Wheeler-Bennet, Trevor-Roper u.a.) schon vorher im Ausland angebahnten Analyse und Forschung. Die umfangreiche Dokumentation der Nürnberger Prozesse, dann die sukzessive Freigabe großer, zunächst von den Alliierten beschlagnahmter deutscher Aktenbestände aus der NS-Zeit bildeten schließlich eine nicht unwesentliche Voraussetzung dafür, daß die deutsche Geschichte der Weimarer und nationalsozialistischen Zeit seit den sechziger Jahren zum Hauptobjekt und -exerzierfeld einer sich international ausbreitenden Zeitgeschichtsforschung wurde.

Schon bis zu Beginn der siebziger Jahre sind in ihrem Verbund unter zunehmender deutscher Beteiligung fast alle politisch-moralisch besonders »empfindlichen« Bereiche der NS-Herrschaft mehr oder weniger offengelegt, wenn auch nicht vollständig erkundet worden. Die Dokumentation der spezifisch nationalsozialistischen Politik- und Weltanschauungsinhalte stand im Vordergrund. Erst allmählich, mit zunehmender Akademisierung, geriet anderes stärker ins Blickfeld: die innere Struktur und Bewegungsdynamik des Regimes, die Motivationen der Beteiligten, Wirtschafts- und Sozialverfassung, Literatur, Kunst und Vergnügungskultur, Volksmeinung und »Alltag« im Dritten Reich. Unter dem Einfluß vergleichender Faschismus-Forschung und auch linker neomarxistischer Faschismusinterpretationen wurde das deutsche Geschichtsthema auch stärker auf eine allgemeine, komparatistische und soziologische Ebene der Betrachtung gehoben.

Alles in allem bewirkte die Verselbständigung der Forschung im Laufe der Zeit auch eine zunehmende Historisierung der Fragestellungen. Die Ver- änderungen der Perzeption, die sich daraus ergaben, lassen sich exemplarisch auf verschiedenen Feldern der Geschichtswissenschaft zeigen. Als ein erstes Beispiel bietet sich die Entwicklung des Nachdenkens über die geschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus an.

Typische Disposition aus der Zeitgenossenschaft oder der noch engen Nähe zu dem eben erst beendeten Geschichtskapitel des Dritten Reiches war dabei die überwiegend nationalgeschichtliche Perspektive und die Neigung, weit zurückreichende Linien der Entwicklung – von Luther bis Hitler oder wenigstens von der deutschen Romantik bis zum Nationalsozialismus – abzustecken. Die »Deutsche Katastrophe« von 1945, durch die alles verwüstet schien, was sich an großen Leistungen und Hoffnung in der neueren deutschen Nationalgeschichte entfaltet hatte, stellte sich dar als das verschlammte Mündungsgebiet aller verderbten, alles verderbenden Wasser aus den verschiedenen Strömen deutscher Geschichte. Friedrich Meinecke empfahl, die deutsche Geschichte nicht mehr nur mit liebevollem Verständnis, sondern mit großer »Strenge« auf die Ursache der Katastrophe abzusuchen.

Die bedenklichen Züge solcher Perspektive sind bekannt: die vielerlei Formen und Stufen deutscher Abschottung von der westlichen Kultur des Humanismus und der Aufklärung schon im 17. und 18. Jahrhundert; die dann im Zustand nationalpolitischer Frustration seit der napoleonischen Zeit aufkommenden rigoros überhöhten oder mythologisierten Ideen von deutscher Kulturnation und deutschem Volksgeist; schließlich vor allem die im 19. Jahrhundert viel zu schwach vom liberalen Bürgertum, um so mehr von der monarchischen Obrigkeit und vorindustriellen Eliten bestimmte politische Entwicklung in Deutschland, die rückschrittliche, bis 1914 stagnierende politische Verfassung des bismarckisch-wilhelminischen Nationalstaates. Diese und andere Elemente sind in gewisser Weise Allgemeingut der postnationalsozialistischen Revision der deutschen neueren Geschichte geworden. Jeder deutsche Neuzeit-Historiker kennt seinen Plessner, und der Begriff der »verspäteten Nation« ist im Kategoriensystem des historischen Nachdenkens über die deutsche Sonderentwicklung fest etabliert. An die Stelle der langfristigen, national- und stark geistesgeschichtlichen Herleitung des Nationalsozialismus trat in den sechziger Jahren die Vorstellung eines enger begrenzten »präfaschistischen« Vorraums: die Zeit der kaiserlichen nationalen Machtstaaten mit ihren inneren »Verwerfungen« (Ralf Dahrendorf), im Mittelpunkt einer allgemeinen »Krise des Liberalismus« und der Modernisierung im Zeichen des gemeineuropäischen Imperialismus, Kapitalismus und der neuen Herausforderung des Sozialismus.

Die neuere Diskussion über den deutschen Sonderweg in der Geschichte hat indessen – bemerkenswerterweise unter maßgeblichem Einfluß nichtdeutscher Historiker – auch manche daran geknüpfte Thesen über das präfaschistische Potential des Wilhelminismus erheblich zurückgeschraubt. Sie hat vor allem unter vergleichendem Aspekt (Deutschland – Großbritannien) in Frage gestellt, ob das Gewicht der in Deutschland besonders brisanten inneren Spannungen so groß war, daß eine Integration und evolutionäre Spannung nur durch Krieg oder faschistische Lösung möglich gewesen wäre.

Inzwischen besteht, auch international, weitgehende Übereinstimmung: Den eigentlichen Auftakt des Nationalsozialismus und überhaupt der »Epoche des Faschismus« (Ernst Nolte) gaben der Erste Weltkrieg und die in seinem Kielwasser entstandene neue Gefährdung der bolschewistischen Revolution, mit der Wirkung aggressiver antirepublikanischer und antisozialistischer nationalistischer Protestbewegungen vor allem in den Verlierer-Nationen oder bei den Zukurzgekommenen (Italien, Ungarn), infolge der deprimierenden nationalen und sozialen Folgen des Krieges, mit ihrer nicht mehr nur ideologischen, sondern aktivistisch-pseudorevolutionären Entschlossenheit und Energie. Trotz der massiven, hier im einzelnen nicht zu rekapitulierenden Hypotheken, die sich daraus für die Weimarer Republik ergaben, läßt sich doch auch für ihre Überlebensfähigkeit eine ähnliche heuristische These aufstellen wie für die des kaiserlichen Nationalstaates. Die allmähliche Republik-Eingewöhnung des deutschen Bürgertums und der deutschen Führungsschichten, in den kurzen Jahren der Konsolidierung zwischen 1924 und 1929 verschiedentlich schon angebahnt, hätte durchaus Chancen gehabt, wären diese nicht durch die Weltwirtschaftskrise und die mit ihr schnell entfachte Staatskrise der Republik zunichte gemacht worden.

Vierzig Jahre intensiver historischer Erforschung der geschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus haben vom anfänglichen Determinismus wenig übriggelassen, dafür etwas ganz anderes erbracht: die Wiedereinsetzung sowohl der bismarckisch-wilhelminischen wie der Weimarer Zeit zu Perioden eigener Historizität. Ihre Entlassung aus der Rolle bloßer »Vorgeschichte« war aber erst möglich, nachdem die durch die NationalsozialismusErfahrung entstandene allgemeine Sensibilisierung für die vielen langfristigen einzelnen Bestimmungsgründe des Nationalsozialismus soweit entwickelt war, daß es einer pauschalen Vorgeschichtsfunktion ganzer Geschichtskapitel nicht mehr bedurfte. Dabei handelt es sich nicht um eine »neokonservative Wende« der Geschichtswissenschaft, eher um eine Hinwendung zu Authentizität und Konkretheit auch des Moralischen in der Geschichte.

Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus

Um so mehr stellt sich die Frage, wie es mit der Historizität des Nationalsozialismus selbst steht, ob das geschichtliche Verstehen vor ihm haltmachen kann. Die verhängnisvoll falsche historische Antwort, die Hitler auf die Grundfragen der Zeit und der deutschen Entwicklung gab, seine zunehmende Flucht zu weltanschaulich egozentrischem, aggressivem und expansivem Aktionismus, in den er sich in hybrider Verkennung der inneren wie äußeren Tragfähigkeit seiner Herrschaft immer mehr stürzte, sind keinerlei Revision durch geschichtliches Verstehen zugänglich. Anders steht es aber mit den vielerlei fehlgeleiteten Motiven, Veränderungsbedürfnissen und Problemlö-sungsanstrengungen unterhalb der Schwelle nationalsozialistischer Weltanschauungspolitik, die in den Nationalsozialismus eingegangen sind und ohne die seine zeitweilig so hohe Zugkraft gar nicht zu verstehen wäre. Die Schwierigkeit der Historisierung der nationalsozialistischen Zeit besteht vor allem, immer noch, darin, dies zusammenzusehen und gleichzeitig auseinanderzuhalten: das Nebeneinander und die Interdependenz von Erfolgsfähigkeit und krimineller Energie, von Leistungsmobilisation und Destruktion, von Partizipation und Diktatur. Hier liegt auch im besonderen Maße die Kluft zwischen den Befunden der historischen Einzelforschung und dem geschichtlichen Gesamtbild der NS-Zeit.

Erstere hat im Laufe der Zeit zahlreiche innere Widersprüche des Nationalsozialismus herausgearbeitet und beleuchtet: die Diskrepanz zwischen der normativen und der realen Verfassung, zwischen dem Harmonisierungsund Ordnungsanspruch des Führerprinzips und seiner tatsächlich desorganisierenden polykratischen Wirkung; die unterschiedlichen Bereiche und Ebenen der administrativen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Entwicklung im Dritten Reich mit ihren jeweiligen Spielräumen, Eigengesetzlichkeiten und Anverwandlungen der NS-Ideologie; die Multikausalität und Improvisation von Entscheidungsprozessen, die qualitativ zu unterscheidenden Phasen der Struktur und Politik des Regimes, die heterogene Durchsetzungsfähigkeit und Dichte seiner Herrschaft, populistische Sensitivität neben brachialer Gewalt; die vielfältigen Formen der Assimilation von Repräsentanten und Institutionen des Dritten Reiches an ihnen vorgegebene Interessen, Traditionen und Einstellungen etc.

Die Ergebnisse der Einzelforschungen in den letzten zwanzig Jahren haben sich gleichwohl, das zeigen auch die historiographischen Gesamtdarstellungen, noch nicht in eine »neue Sachlichkeit« des Gesamtbildes und der Geschichtsschreibung umsetzen lassen. Aus der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur ist noch keine Geschichte der nationalsozialistischen Zeit geworden. In der Historiographie dominiert noch immer der übermächtige Eindruck des katastrophalen Endes und Endzustandes. Er wird a posteriori auch als roter Faden zur Erklärung der Motive, Instrumente und Etappen des Nationalsozialismus, seiner Entwicklung und Herrschaft eingesetzt. Es regiert noch immer stark die Vorstellung vom systematischen Charakter, der kalkulierten Stufenfolge und weltanschaulichen Zielgerichtetheit einer machiavellistisch mit verteilten Rollen arbeitenden Herrschaft unter der alles dominierenden Führungsfigur Hitlers. Um den Gegensatz und die Spannung zwischen bilanzierend-retrospektiver und von der Zeit her denkender historisierender Darstellung zu verdeutlichen, sind wir auf punktuelle Einzelbeispiele angewiesen.

Die große Zahl inzwischen vorliegender lokal- und regionalgeschichtlicher Untersuchungen über den Aufstieg der NSDAP zur Massenbewegung vor 1933 hat das Bild dieses Vorgangs stark differenziert und vor allem die Motivation der damals von der NSDAP angezogenen »Massen« genauer erkennbar gemacht. Dabei zeigt sich u. a.: Was im nachhinein oder auf der Ebene der Reichsstatistik als »massiver Erdrutsch« des parteipolitischen Gefüges, als »katastrophaler Zusammenbruch« vor allem des politischen Liberalismus oder als »wüste Radikalisierung« der politischen Auseinandersetzungen (sprunghaftes Ansteigen der politischen Gewalttätigkeiten) erscheint, stellt sich meist viel weniger dramatisch dar aus der Nahoptik der ländlichen oder kleinstädtischen provinziellen Milieus, in denen die NSDAP sich zuerst die meisten Stimmen holte. Der »Liberalismus« auf dem Lande z. B., in Gestalt ursprünglich liberaler Bauernvereine (wie in Schleswig-Holstein), war oft schon lange vorher brüchig und zu Beginn der Agrarkrise 1928 fast überall zugunsten von nervösen bäuerlichen Interessenparteien verschwunden.

Es zeigt sich ferner: Die nationalsozialistische »Infiltration« oder »Macht- übernahme« in vielen ursprünglich liberalen provinziellen Interessenorganisationen war häufig verbunden mit der Ablösung alter Verbandshonoratioren, mit einer Verjüngung der Führung und Verstärkung der Repräsentanz bisher nicht adäquat vertretener sozialer Teilgruppen (z. B. der Kleinbauern, der Landhandwerker u. a.). Vor allem ergibt sich, wie unterschiedlich das politisch-soziale Profil der NSDAP von Fall zu Fall beschaffen war, wie stark dem jeweiligen Milieu angepaßt und wie sehr der Führerwille von oben nur in Bewegung setzen konnte, was unten sehr konkret motiviert war durch zum Teil schon lange aufgestaute, infolge der Wirtschaftskrise aber reizbarer, abrufbarer gewordene soziale Ängste und Veränderungsungeduld. Die manipulative Fähigkeit der NS-Propaganda konnte nur ansprechen, was schon vorhanden war an potentieller Mobilität, an latenten Bedürfnissen, aus verkrusteten sozialen Verhältnissen oder der Vormundschaft alter sozialer Autoritäten auszubrechen.

Das bedeutet – verallgemeinert – auch: Wenn der Nationalsozialismus in der Wirtschaftskrise imstande war, fast alle diejenigen Unzufriedenen hinter sich zu scharen, die von der marxistischen oder sozialistischen Ideologie oder vom politischen Katholizismus aus konfessionellen oder traditionellen Gründen nicht erreichbar waren (nicht nur im unteren Mittelstand und Landvolk, sondern, wie gerade neuere Forschungen zeigen, in beträchtlichem Maße auch in der nicht organisierten Arbeiterschaft und im gehobenen Bürgertum), so war das auch eine Antwort auf manche in der Weimarer Republik unterbliebene gesellschaftliche Reform, eine Reaktion auf die Fortschreibung der seit der Kaiserzeit immer noch stark ständisch verfaßten deutschen Gesellschaft, ein Stück nachgeholter sozialer bürgerlicher Revolution, wenn auch mit rückwärts gewandter Ideologie.

Es bedeutet ferner: Die vage populistische Attraktivität des Nationalsozialismus ist viel höher einzuschätzen als die ideologische Indoktrination seiner sozialen Massenbasis. Und nicht zuletzt wegen dieser populistischen Zugkraft vermochte er sich in der Endphase der Weimarer Republik durchzusetzen. Vom Blickpunkt vieler seiner Wähler und Anhänger war er keine Radikalbewegung, ganz und gar in Gegensatz zum sozialen Volksstaat der Weimarer Republik, sondern eher ein Mittelweg zwischen Demokratie und obsolet gewordenem konstitutionellem Obrigkeitsstaat, zu dem Brüning oder Papen zurücklenken wollten.

Das Bild einer weltanschaulich fanatisierten, dem politischen Irrationalismus und der Hitler-Hypnose gänzlich verfallenen »Masse«, das nicht zuletzt infolge der NS-Propaganda entstanden ist, wird aus solcher Sicht stark korrigiert und eingeschränkt. Sowohl vor 1933 wie später auch im Dritten Reich gründete die Massenbasis des Nationalsozialismus nicht oder nur in geringem Maße in der Übereinstimmung mit dem Kern der Weltanschauung Hitlers, die den Zeitgenossen von damals gar nicht voll erkennbar und vor allem auch im Hinblick auf ihre Konsequenzen nicht absehbar war. Sie gründete vielmehr auf den gleichzeitigen, logisch und politisch zwar widersprüchlichen, aber real nebeneinander existierenden elementaren Protektions- und Mobilisationsbedürfnissen gerade im Mittelstand, für die der Nationalsozialismus mit seiner Mischung von Aufstiegs-, Wiedergesundungs- und Erneuerungsparolen instinktsicher zugleich eine sozial-konservative Legitimation und dynamisierende Evokation lieferte.

Und das Dritte Reich hielt schließlich mit den tausendfachen kleinen und großen Führerpositionen, die es zu vergeben hatte, auch sehr reale Spielräume bereit, in denen junge dynamische Kräfte aus dem Mittelstand sich im harten Konkurrenzkampf mit anderen »Führern« bewähren, ihre Energie und Improvisationsfähigkeit erfolgreich einüben konnten, wobei ihnen aber durch das politische Regime auch genügend Rückversicherung und Risikogarantie gewährt wurde. Das Weltanschauliche, auch in Gestalt des rassetheoretischen Selektionsprinzips, das hierbei zur Legitimation herhalten mußte, war oft nur Überbau. Wichtiger, historisch durchschlagender war der neue hier herangezüchtete Sozialtyp des nationalsozialistischen »Sonderführers«, Prototyp des politisch protektionierten unselbständigen Unternehmers mit großen Vollmachten. Er gedieh im Dritten Reich auf allen Stufen der Gesellschaft, war fast zu allem zu gebrauchen, brachte dann aber auch gute Voraussetzungen mit für neue Bewährung und Karriere unter den sozusagen frühkapitalistischen Bedingungen des Wiederaufbaus und Gründungsbooms nach der Währungsreform.

Die Rückprojektion der katastrophalen Bilanz der Weltanschauungspolitik des Regimes und ihre Übereinstimmung mit den stereotyp festgehaltenen rasse- und raumpolitischen Wahnideen Hitlers legt es nahe, auch die Dynamik des Dritten Reiches primär weltanschaulich zu erklären. Gegenüber dieser nur scheinbar plausiblen Sicht rückten die mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Detailstudien das große Gewicht der sozialen Schubkräfte in den Vordergrund, aber auch ihre hinter das Dritte Reich zurückgehenden Gründe und ihre darüber hinausreichende Wirkung. Die Erhellung der sozialen Dynamisierungsfunktion des Nationalsozialismus unterschlägt keineswegs die moralischen Auswirkungen des weltanschaulichen Normensystems des Dritten Reiches. Sie fügt aber das scheinbar nur NS-Spezifische ein in die weitere Perspektive periodenübergreifender Veränderungen der deutschen Gesellschaft.

Nehmen wir den Bereich Widerstand und Verfolgung im Dritten Reich. Das lehrhafte Bedürfnis, gerade in bezug auf diese Thematik eindeutige Bilder und Maßstäbe zu schaffen, hat vielfach zu unhistorischer Monumentalisierung wie zur Ausklammerung von Tabu-Zonen besonders beigetragen. Das aus legitimatorischen Gründen auch außerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung von den politischen Kräften der Bundesrepublik besonders gern in Anspruch genommene »Vermächtnis« gerade des konservativen Widerstandes gegen Hitler verbarg oft, daß die verfassungspolitischen, nationalund außenpolitischen Vorstellungen der meisten Repräsentanten dieses Widerstands mit dem gewandelten Selbstverständnis der Bundesrepublik wenig gemein hatten. Solche historische »Entdeckung« führte deshalb fast stets auch zu Kontroversen, an denen sich der Gegensatz von authentischer historischer Rekonstruktion und Pädagogisierung des Widerstandsthemas exemplarisch enthüllte. Zur Verdeutlichung greifen wir ein jüngstes Beispiel heraus, das sich zur schematischen Gegenüberstellung dieser Aspekte besonders anbietet.

Als führender Repräsentant konservativen Widerstandes gegen Hitler rangiert seit langem der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler. Die große Biographie Gerhard Ritters hat ihm ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt und dargestellt, daß Goerdeler 1937 auch aus Protest gegen die Kulturschande der Entfernung des Mendelssohn-Denkmals vor dem Leipziger Gewandhaus sein Oberbürgermeisteramt in der Stadt niederlegte. In einer kürzlich abgeschlossenen Untersuchung über die Haltung des deutschen Widerstandes zur Judenpolitik des NS-Regimes fand der Historiker Christof Dipper, gestützt auf untrügliche Dokumente, heraus, daß Goerdeler in den ersten Jahren des Dritten Reiches mit den begrenzten gesetzlichen Maßnahmen zur Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben und selbst mit dem Grundgedanken der Nürnberger Gesetze von 1935 im wesentlichen übereingestimmt hatte. Wie so manchem Nationalkonservativen, nicht nur in Deutschland, schien Goerdeler die Revision des staatsbürgerlichen Gleichheitsgrundsatzes und die Zielsetzung einer Reduzierung der Rechte und der Freiheiten der jüdischen Minderheit nicht abwegig. Die Dokumentation dieser historischen Tatsache, ausgebreitet mit dem Unterton moralischer Entrüstung, ist von namhaften Gegnern des Nationalsozialismus und Verehrern Carl Goerdelers ebenso entrüstet als Schmähung des Ansehens dieses Mannes empfunden worden.

Das Beispiel zeigt: Für die statuarische moralisch-politische Erinnerung, die Vorbilder zeigen will und dabei auch monumentalisieren muß, ist die Unterscheidung zwischen dem nationalsozialistischen und dem »anderen Deutschland« schwer entbehrlich. In historischer Perspektive verschwimmt diese Schwarz-Weiß-Optik. Aus ihr ergibt sich, daß fast aller Widerstand in der NS-Zeit genaugenommen nur zeitweilig und partiell war und häufig verbunden mit passivem Geschehenlassen, partieller Affirmation oder gar aktiver Beteiligung an den Zwecken des Regimes. Unter dem Aspekt der späteren Entwicklung der nationalsozialistischen Judenpolitik muß die anfängliche zeitweilige Unterstützung des Nazi-Antisemitismus durch einen Mann wie Carl Goerdeler als eines jener typischen, entscheidenden und nicht mehr revidierbaren Versäumnisse der frühen konservativen Partner des Nationalsozialismus angesehen werden. In historischer Perspektive bildet die konkrete Zeitphase der ersten Jahre des Dritten Reiches, die damalige Nicht-Vorhersehbarkeit der künftigen mörderischen Radikalisierung der antijüdischen Maßnahmen und der auch qualitativen Strukturveränderung des Regimes ein wesentliches Moment zum Verständnis der Fehleinschätzung oder auch des Fehlverhaltens. Goerdelers später unter Beweis gestellte, mit dem Leben bezahlte moralische Leistung begründet sich in solcher Sicht gerade auch aus seiner Fähigkeit, sich durch Irrtümer hindurchzuarbeiten.

Schließlich ein letztes Beispiel zur Kennzeichnung unseres Problems: Seit einer Reihe von Jahren hat in der Zeitgeschichtsforschung das Interesse für die Entwicklung der Sozialpolitik in der NS-Zeit deutlich zugenommen und die lange Zeit nur institutionengeschichtliche und sozusagen herrschaftstechnische Analyse der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und ihrer sozialpolitischen Propaganda hinter sich gelassen. Im Kontext dieser Wissenschaftsentwicklung referiert Marie-Luise Recker in ihrer Habilitationsschrift über die nationalsozialistische Sozialpolitik während des Zweiten Weltkrieges ausführlich den Plan einer künftigen allgemeinen Volksversicherung, der im Auftrag der Deutschen Arbeitsfront 1941/42 erarbeitet wurde. Nur ein Plan, gewiß, aber mit Grundgedanken (z. B. der staatlichen Renten-Garantie und der dynamischen Rentenanpassung), die später wiederkehrten und die Sozialversicherungs-Gesetzgebung der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren zu einer bedeutenden Errungenschaft machten. Ebenso bemerkenswert ist, daß der DAF-Plan fast zeitgleich mit dem britischen Beveridge-Plan zustande kam, der gedanklichen Grundlage der wohlfahrtsstaatlichen Reform der britischen Labour-Regierung nach dem Kriege. Es scheint evident: der Urheber des DAF-Plans, darunter Experten in dem 1935 gegründeten Arbeitswissenschaftlichen Institut der DAF, die meist erst nach 1933 der NSDAP beigetreten waren, verfolgten mit dem Plan gewiß auch das Ziel nationalsozialistischer Systemerhaltung, aber sie folgten dabei letzten Endes vor allem den nicht NS-spezifischen, schon aus den Jahren 1914 bis 1918 bekannten sozialpolitischen Geburtshilfe-Zwängen des Krieges. Auch auf angrenzenden Gebieten des Sozialrechts (Verbesserung des Jugendschutzes, Angleichung des Sozialstatus von Angestellten und Arbeitern) erbrachte der Zweite Weltkrieg in Deutschland einen Schub progressiver sozialpolitischer Neuerungen trotz der eher manipulativen und repressiven Funktionen der DAF.

Das Beispiel zeigt: Nicht alles, was sich in der NS-Zeit ereignete und historisch bedeutsam war, diente nur den diktatorischen und inhumanen Herrschaftszielen des Regimes. Die zum Teil auch in der Geschichtswissenschaft noch immer bestehende Tendenz, alle in die NS-Zeit fallenden Veränderungen, etwa auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Rechts, gänzlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion für die Stabilisierung dieser Herrschaft zu interpretieren, zwingt sozusagen noch nachträglich auctfi die vor- und außernationalsozialistischen Bestände deutscher Geschichte unter das Diktat der Nazi-Herrschaft und schottet die zwölf Jahre nach vorn und hinten hermetisch ab. Die Schändlichkeit, die im großen die Bilanz dieser Epoche ausmacht, kann nicht bedeuten, daß den vielen sozialen, wirtschaftlichen, zivilisatorischen Wirkungskräften, den zahlreichen Modernisierungsbestrebungen ihre geschichtliche Bedeutung allein durch die Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus genommen wird.

Statt der pauschalen moralischen Absperrung der Hitler-Zeit ist eine Entschlackung unseres eingefahrenen Begriffs- und auch Sprachinstrumentariums vonnöten, eine historische Befreiung auch mancher ereignis- und personengeschichtlicher Perspektiven aus dem Zwangskorsett der Vorstellung von einer alles erfassenden Gewaltherrschaft. Vor allem muß eine periodenübergreifende Betrachtung des ganzen neuzeitlichen deutschen Geschichtsraums entwickelt werden, in dem sich auch der Nationalsozialismus abgespielt hat. In solcher erweiterten Perspektive wird in mancher Hinsicht der Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte neu zu bestimmen sein. Es werden schon lange vorher angelegte problematische Modernisierungstendenzen und Sozialpathologien sichtbar werden, die, im Nationalsozialismus legitimiert und zusammengerafft, in äußerste Gewaltsamkeit umschlugen. Mit solchem Blick wird es aber auch möglich sein, manche der bislang tabuisierten historischen Nachwirkungen der NS-Zeit in der gesellschaftlichen oder rechtlichen Verfassung der Bundesrepublik kritisch, aber ohne pauschale Denunziation in den Blick zu nehmen.

Man kann nicht gleichzeitig die Blockade des deutschen Geschichtsbewußtseins durch den Nationalsozialismus bedauern und an seiner Abriegelung gegenüber geschichtlichem Verstehen festhalten. Die »Normalisierung« unseres Geschichtsbewußtseins kann auf die Dauer die NS-Zeit nicht aussparen, kann nicht nur um sie herum erfolgen. Auch die Pauschaldistanzierung von der NS-Vergangenheit ist noch eine Form der Verdrängung und Tabuisierung. Sie kann, je länger desto mehr, gar den Eindruck eines kompensatorischen Alibis für den restaurierten Historismus auf den wieder »heilen« Gebieten machen, die vor oder hinter der nationalsozialistischen Vergangenheit liegen. Auflösung dieser Blockade zugunsten einer moralischen Sensibilisierung der Historie überhaupt, gerade aufgrund der Erfahrung des Nationalsozialismus – das ist der Sinn dieses Plädoyers für seine Historisierung.