• Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus

    Wie historisch ist der Nationalsozialismus vierzig Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches; blockiert Hitler noch immer den Zugang zur deutschen Geschichte; was heißt das: vergangene Geschichte? Solche Fragen, leicht zu vermehren, richten sich nicht nur an den Historiker. Sie berühren individuelle und kollektive Geschichtserinnerung, rechtliche Festschreibung der Vergangenheitsbewertung, politische Pädagogik, zeitgeschichtliche Medien-Publizistik mit allen ihren Eigengesetzlichkeiten. Und diese Fragen nur zu stellen, hat fast etwas politisch Verdächtiges, denn der Nationalsozialismus als Negativ-Maßstab der politischen Erziehung, als Gegenmodell von Recht, Freiheit und Friedensordnung, scheint unverzichtbar für die Orientierung und Begriffswelt der Gegenwart. Dem steht gegenüber, daß die Moralität der Betroffenheit von der NS-Vergangenheit sich mittlerweile stark erschöpft hat. Sie hat durch neue weltgeschichtliche Gewalt- und Katastrophenerfahrungen an Singularität eingebüßt und ist inzwischen vielfach zu einem etablierten Set ebenso risikoloser wie vager Gesinnungsbekenntnisse ohne moralische Kraft geworden. Das zur Stereotopie verflachte Diktum der »nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« kann wohl nur durch stärker differenzierende historische Einsicht auch moralisch neu erschlossen werden. Deshalb erscheint das schon gewandelte und sich wahrscheinlich weiter ver- ändernde Verhältnis von Moralität und historischem Verstehen auch als der eigentliche Sinn und Angelpunkt der Frage, wie vergangen, wie geschichtlich der Nationalsozialismus inzwischen geworden ist.

    Der Nazi-Schock besteht weiter

    »Die Faszination der wenigen verrückten Jahre wird vielleicht eines Tages dahinschwinden, aber dieser Tag ist noch nicht in Sicht.« Die Bemerkung stammt nicht von einem deutschen Beobachter der zeitgeschichtlichen Literatur- und Medienproduktion in der Bundesrepublik, sondern von dem amerikanischen Historiker Istvan Deak, ausgelöst durch die stattliche Zahl allein in englischer Sprache neu erschienener Fachliteratur über den Nationalsozialismus (The New York Review of Books, 31. Mai 1984). Mit Selbstverständlichkeit nennt Deak als Grund für die erstaunliche Literaturfülle den »noch immer nicht überwundenen Zivilisationsschock«, den die nationalsozialistischen Massenverbrechen auslösten. Das gilt nicht nur für Israel, sondern auch für die Großstädte der amerikanischen Ostküste, wo Hunderttausende von Emigranten und Überlebenden der Hitlerzeit aus Mittel- und Osteuropa Zuflucht fanden. Aber nicht nur die Opfer halten die Erinnerung wach. Die unerhörte Suggestions-, Mobilisations- und Leistungskraft des nationalsozialistischen Deutschland, das Image der Erfolgsfähigkeit alten oder neuen faschistischen Potentials ist präsent. Zur Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus gehört auch die Sensibilität und Hypersensibilität des Faschismusverdachts in der Gegenwart, der sich angesichts vielfältiger verwandter Erscheinungsformen totalitärer Manipulation, ideologischer Gewaltlegitimation oder irrationaler Protestbewegungen aufdrängende Eindruck: »still, the thing exists« (Istvan Deak). Widersprüchlichkeit und scheinbare Unvereinbarkeit vieler Züge und Erscheinungsformen des Nationalsozialismus haben ein übriges getan, um die Diskussion, aber auch die Suggestion aufrechtzuerhalten. Die verwirrende Sprach- und Geistesverfassung jener »rechtschaffen verfolgenden Unschuld«, die im Frühjahr 1933 mit den Aktivisten der nationalsozialistischen Machtergreifung auf den Plan trat, gab damals schon Karl Kraus das Bild vom Hexensabbat einer »Dritten Walpurgisnacht« ein. Die pseudoreligiöse Ergriffenheit, mit der die »Unperson« Hitler große Teile des deutschen Volkes einschließlich seiner gebildeten Schichten jahrelang in den Bann schlug, trieb nicht nur deutsche Nachkriegshistoriker auf den erklärungs-ohnmächtigen Ausweg dämonologischer Deutung. Am rational nicht Reimbaren entzündete sich Syberbergs quälende Film-Neuschöpfung des Dritten Reiches mit den phantasmagorischen Stilmitteln künstlerischer Bild-, Wort- und Musikmontage. Auf intellektueller Ebene führte die aus moralischem Abscheu und Gewaltfaszination gemischte Nachwirkung zum Begriff der faschistischen Ästhetik (Susan Sontag), auf subkultureller Ebene zu der weltweit verbreiteten Groschenliteratur über das Dritte Reich und zu dem regelrechten Genre des Nazi-Abenteuerfilms. Die Wirkungen des Kulturschocks haben sich auch in dieser Weise verselbständigt, in der Massenproduktion von Zerrbildern über das Dritte Reich, gegen die Historiker mit ihrer geringeren Resonanz kaum aufzukommen vermögen. Die Beschäftigung mit der NS-Zeit war nie nur eine deutsche Sache, und sie läßt sich auch nicht allein von deutscher Seite und auf deutsche Weise bestimmen. Das Besondere an unserer Situation ist die Notwendigkeit und Schwierigkeit, den Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte einzuordnen. Vierzig Jahre Abstand haben dabei, so scheint es auf (lesen ...)