Zwei Männer auf Reisen
Es ist die Zeit der Verlagsvorschauen – zweimal im Jahr veröffentlichen die Verlage ihr neues Programm. Sinn und Zweck dieser Verlagsvorschauen ist es nicht in erster Linie, das Lesepublikum über Neuerscheinungen in Kenntnis zu setzen, sondern vor allem den Handel und das Feuilleton zu informieren, was in den Regalen der Buchhandlungen stehen und besprochen werden sollte. Diese Vorschauen sind demnach nichts anderes als Werbung, ihr Ziel es ist zu vermitteln, welches Publikum durch ein bestimmtes Buch angesprochen werden soll – manche Verlage, wie der Steidl-Verlag, haben diese spezifische Form der Werbung schon beinahe zur Kunstform erhoben. Wie jeder Text kann auch eine solche Verlagsvorschau mit den Mitteln der Literaturwissenschaft analysiert werden. Gerade aus einer literatursoziologischen Perspektive lassen sich aus einer solchen Analyse Schlüsse ziehen, die auf aktuelle Trends hinweisen und etwas über den gesellschaftlichen Blick auf Literatur aussagen. Ebenso kann erkennbar werden, wie Bücher wahrgenommen werden sollen. Beispielsweise widmet der Verlag Luchterhand der Ankündigung des Romans Herkunft (Luchterhand 2019) von Saša Stanišić in der Vorschau sechs Seiten. Das ist nicht ungewöhnlich für den Titel eines bekannten Autors, von dem sich der Verlag hohe Absatzzahlen und viel Aufmerksamkeit erhofft. Auf beinahe jeder dieser sechs Seiten fällt der Begriff Heimat, des Weiteren wird oft Europa erwähnt. Der Verlag platziert den Roman in dem aktuellen Diskurs zum Heimatbegriff und zur Bedeutung Europas und verschafft ihm dadurch besondere Aufmerksamkeit. Eine genauere Betrachtung solcher Platzierungen und Framings kann also aufdecken, welchen Autor*innen besondere Aufmerksamkeit zukommen soll und in welchem kulturellen Diskurs der Verlag sie verorten möchte. Quantitative Analysen wiederum können eine Übersicht darüber bieten, wie divers Verlagsprogramme sind (beziehungsweise meist eher nicht). Bei einer Durchsicht der gerade erschienenen Verlagsprogramme für den Herbst fallen bei den Verlagen Schöffling & Co. und Tropen zwei Bücher ins Auge, deren Präsentationen besonders prestigeträchtig wirken.
Eine von zwei Doppelseiten (hier zur Verlagsvorschau)
Zwei Männer auf Reisen
Über Simon Strauß’ Römische Tage (Tropen 2019) heißt es in der Ankündigung:
Ein junger Mann kommt in die ewige Stadt, um die Gegenwart abzuschütteln. Er sucht einen eigenen Weg, fühlt fremde Zeiten in sich leben. In Rom erinnert er sich. In Rom verliebt er sich. In Rom trauert er. Er trifft auf außergewöhnliche Menschen und findet seine Aufgabe: Alles wahrnehmen, nichts auslassen.
Bereits der Begriff ewige Stadt ruft die kulturelle Bedeutung Roms in den letzten zwei Jahrtausenden auf. Durch die Omnipräsenz der Stadt in den Erzeugnissen der westlichen Kultur seit der Renaissance ist der Ausdruck heute das Signum für Rom als Hort europäischer Kulturgeschichte. Doch gerade für die deutsche Literatur hat Rom noch einen darüber hinausweisenden Stellenwert. Reist ein junger Mann nach Rom und schreibt ein Buch – die Fotos zeigen deutlich, dass auch Simon Strauß diese Reise unternommen hat –, nimmt er spätestens seit Goethes Italienreise über 200 Jahre deutsche Literaturgeschichte mit. Darauf weist auch die Ankündigung in der Überschrift hin: „Ein Sommer in Rom, 231 Jahre und acht Monate nach Goethe.“ Damit ist der Rahmen gesetzt, ein junger Schriftsteller auf den Spuren des größten deutschen Dichters in der Sehnsuchtsstadt Rom.
Ist dieser Bezugspunkt erst einmal aufgerufen, können nun die etwas leiseren Töne angeschlagen werden. In Goethes bekanntester Elegie auf die Stadt Rom, der fünften, heißt es: „Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir.“ Die fünfte Elegie ergibt sich so aus einem Zusammenspiel jener Vor- und Mitwelt. Die antike Vergangenheit und das Gegenwartserleben des lyrischen Ichs beeinflussen sich gegenseitig. Wie im Paratext zu Strauß’ Roman der gegenwartsflüchtende Protagonist „fremde Zeiten in sich leben“ fühlt, klingen auch hier Vergangenheit und Gegenwart an. Das Credo schließlich, das der Verlag dem reisenden Mann in Rom zuschreibt, „Alles wahrnehmen, nichts auslassen“, ist nichts anderes als die Zusammenfassung der fünften Elegie:
Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert,
Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir.
Ich befolge den Rat, durchblättre die Werke der Alten
Mit geschäftiger Hand täglich mit neuem Genuß.
Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt vergnügt.
Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens
Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab.
Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk’ und vergleiche,
Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand.
Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages;
Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.
Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Oftmals hab’ ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand,
Ihr auf den Rücken gezählt, sie atmet in lieblichem Schlummer
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins tiefste die Brust.
Amor schüret indes die Lampe und denket der Zeiten,
Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn getan.
(Johann Wolfgang von Goethe: Römische Elegien, 5)
Das lyrische Ich in Goethes Gedicht gibt sich nicht nur den antiken Ruinen hin, versteht den Marmor, wie es heißt, sondern es zählt auch „des Hexameters Maß“ auf den Rücken seiner Geliebten. Die genauere Inhaltsangabe des Romans schließlich öffnet mit der Erwähnung der „Verlorenheit der jungen Italienerinnen“, der „leuchtenden Paläste“, der „ausgelassenen Parties“ und „viel Müll“ noch weitere Türen in die kulturelle Auseinandersetzung mit Rom. Hier klingt Federico Fellinis cineastisches Rom des existenzialistischen Hedonismus in den antiken Ruinen an, das bis zum farbenprächtig mondänen Bilderrausch in Paolo Sorrentinos La Grande Bellezza (2013) reicht. Dass mit dem Hinweis auf ein mögliches Herzleiden auch noch Vanitas-Motive im Angesicht der dröhnenden Ewigkeit der Stadt angedeutet werden, die mit Thomas Manns Tod in Venedig (1911) und Wolfgang Koeppens Tod in Rom (1954) auf eine weitere Tradition der Verarbeitung italienischer Kultur in der deutschen Literatur verweisen, ist dann schon fast subtil gelöst.
Eine von zwei Doppelseiten
Mit „Verlust, Selbstverlust, Tod und Verortung in der Welt“ sieht sich auch Jan Wilm, der Protagonist in Winterjahrbuch des gleichnamigen Autors, – so die Ankündigung von Schöffling & Co. – konfrontiert, als er ein Jahr im kalifornischen Los Angeles verbringt. Während die Vorschau auf Strauß’ Roman ein traditionelles, bildungsbürgerliches Publikum anspricht, zielt die Vorabdarstellung des Debüts von Jan Wilm auf ein ebenso kanonaffines, aber der prestigeträchtigen amerikanischen Kultur zugewandtes Publikum. War amerikanische Kultur in bildungsbürgerlichen Kreisen lange nicht in der Form akzeptiert wie diejenige, die aus der vermeintlichen Wiege der westlichen Kultur in Mittel- und Südeuropa hervorging, kann sich die jüngere Generation dieser Kreise auf eine inzwischen hoch angesehene amerikanische Literatur berufen. Joan Didion, Thomas Pynchon und David Foster Wallace stehen unter anderen für eine intellektuell anspruchsvolle Literatur, die auch im eher konservativen deutschen Literaturfeuilleton Anerkennung erfährt. Der inoffizielle Nachfolger von David Foster Wallace im Schreiben komplizierter, hoch intellektueller Romane ist Joshua Cohen. Ebenjener Joshua Cohen ist nicht nur im gleichen Verlag wie Jan Wilm, sondern hat ihm auch einen Blurb geschrieben:
Was Uwe Johnson bei New York erreichte, ist Jan Wilm mit Los Angeles gelungen: Er hat sich die Stadt zu eigen gemacht. Sein Tagebuch-Roman ist ein Meisterwerk der Metafiktion, angetrieben von Metasehnsucht.
Die Linien und die Art und Weise, wie sie hier gezogen werden, sind bemerkenswert. Das Lob des amerikanischen Intellektuellen stellt zunächst implizite Verbindungen zu einer popkulturaffinen Hochliteratur her. Dadurch, dass Cohen Wilms Roman mit Uwe Johnson und dessen Darstellung von New York vergleicht, legitimiert sich Cohen nicht nur als Kenner deutscher Literatur, sondern stellt Wilm in eine Reihe mit einem anderen – inzwischen kanonisierten – Vertreter deutscher Amerikaliteratur. Indem Cohen den Titel der Jahrestage gar nicht erwähnt, wird deutlich, dass hier ein belesenes, im deutschen Kanon seit 1945 bewandertes Publikum angesprochen wird, das weiß, dass Uwe Johnsons vierbändiges Opus Magnum zu großen Teilen in New York spielt. Diesen Kennern wird auch das Prestige offenbar, das mit dem Vergleich mit einem der gewichtigsten Romanwerke der deutschen Nachkriegsliteratur verbunden ist. Diese Eingemeindung in einen Kreis progressiver, intellektueller Schriftsteller amerikanischer Prägung wird an die Gegenwart angebunden und erweitert durch einen Blurb von Christian Kracht, der nicht nur in Los Angeles wohnt, sondern durch seine mit amerikanischer Popkultur getränkten Romane die aktuelle Schnittstelle zwischen neuer deutscher Kanonliteratur und der amerikanischen Literatur ist. In diese Reihe „literarischer Riesen“ soll nun auch Jan Wilm gestellt werden.
In der Inhaltsangabe des Verlags nimmt sich Winterjahrbuch als die progressive, aber dennoch kanonbewusste Variante von Römische Tage aus. Auch hier reist ein „perspektivloser“ junger Mann – in diesem Fall Philologe – in eine Stadt, die einerseits eine (verhältnismäßig) lange Geschichte in der jeweiligen Kultur aufweisen kann, andererseits aber auch mit deren modernen Schattenseiten verbunden ist. Während Strauß’ Protagonist offenbar über die verschwundene Größe Roms und den Verfall sinniert, schreibt Wilm – so berichtet es der Verlag – in „einer Stadt, in der immer die Sonne scheint“, ein Buch über Schnee. Beide bewegen sich im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit im Kontrast von tiefer Einkehr und Ruhe und dem Trubel der großen Stadt. Während die Ankündigung Strauß aus den Tiefen des europäischen Bildungskanons raunen lässt, flottiert die Vorschau bei Wilm betont tiefsinnig frei auf amerikanischer Hochkultur.
Der Blick des reisenden Mannes
Mit den Präsentationen stellen Schöffling & Co. und Tropen die beiden Romane nicht nur in die bereits genannten Bezüge, sondern profitieren dabei auch vom Bild des reisenden Mannes in der Literatur. Der Mann, der aus den Fesseln der dräuenden Domestizierung ausbricht, um sich seiner selbst klar zu werden, ist ein literarisches Klischee. Schöffling & Co. und der Tropen Verlag wollen ihre beiden großen Neuerscheinungen des Herbstes in ebenjener Reihe verortet wissen. Je nach gesellschaftlicher Lage variieren Form und Ziel dieser Reisen. Goethe floh aus den Zwängen des Weimarer Hofes ins leidenschaftliche, sinnliche Italien; Thomas Manns Aschenbach brach aus dem Alltag aus und ging nach Venedig und Jack Kerouacs Protagonist in On the Road ließ das Haus seiner Tante hinter sich und zog gen Westen – um nur einige kanonisierte Beispiele dieses männlichen Reisens zu nennen.
Dieser Autor auf Reisen ist stets ein sehender Mann, der mit männlichem Blick die Umwelt erfasst. Laura Mulvey hat dafür in den siebziger Jahren in der Filmwissenschaft den Begriff male gaze eingeführt, der, kontrovers diskutiert, auch über das Medium Film hinaus Wirkung gezeigt hat. Der Begriff beschreibt die männliche, objektivierende Sichtweise auf Frauen in Filmen durch die Perspektive der Kamera, doch auch für beinahe jedes andere Medium kann er fruchtbar gemacht werden. Beschrieben wird dieser male gaze in zwei Formen der freudianischen Scopophilie, der ästhetischen Befriedigung durch den Anblick schöner Dinge und Menschen. Die Scopophilie ist in ihrer extremen Form der Voyeurismus, die Erregung durch das Beobachten erotischer Situationen, und in einer weiteren Spielart der Narzissmus, die Liebe zum eigenen Abbild. Schon Goethe betrachtet die römischen Frauen als Objekte seiner Begierde und ähnlich klingt das auch in der Ankündigung von Römische Tage: „Er taucht ein in eine Welt voller Gegensätze: die Verlorenheit der jungen Italienerinnen und die schwindende Bedeutung der alten Intellektuellen.“ Auch bei Jan Wilm scheint die Fokussierung eines weiblichen Gegenübers eine wichtige Funktion einzunehmen, in der Vorschau wird eine verlorene Frau erwähnt. Narzisstisch ist der männliche Blick auf literarischer Reise, weil er meist auf eine Kultur gerichtet ist, in der der Mann sich selbst gespiegelt sieht. Und dafür sorgen hier insbesondere die Verlagsvorschauen. Auf dem Autorenfoto von Strauß in der Ankündigung blickt der Autor über die Kamera hinweg in die Ferne – im Kontext der Stadt Rom geht dieser Blick auf die antiken Überreste, in denen er seine eigene Kultur und sich gespiegelt sieht. Jan Wilms ‚Blick‘ auf den Schnee im Kontext der Stadt Los Angeles ist, folgt man der Vorschau des Verlags, subtiler narzisstisch. In dem Zitat aus dem Roman, das die Ankündigung begleitet, heißt es: „Die Einsamkeit der Schneeflocke? Jede ist verurteilt, allein durch die Wolken zu schneien.“ Darin steckt der Blick des Erzählers auf sich selbst in der amerikanischen Metropole: Der „perspektivlose Philologe“ auf intertextueller Sinnsuche im Taumel der Promi-Metropole Los Angeles ist nichts anderes als eben jene Schneeflocke – genauso fehl am Platz und genauso bedeutungsaufgeladen.
Aus den Ankündigungen in der jeweiligen Vorschau lässt sich ablesen, in welchem Segment die Verlage diese beiden Romane platziert wissen wollen. Die Autoren werden in zwei große intertextuelle Referenzrahmen gehoben, die sich teilweise überschneiden. Der Tropen Verlag umstellt Römische Tage mit Phrasen und Bildkompositionen, von denen die meisten auf die oben gezeigte Linie einer traditionellen bildungsbürgerlichen Italiensehnsucht verweisen, Schöffling & Co. tut dasselbe mit der linksintellektuellen Variante davon bei Winterjahrbuch. Die genaue Ausdifferenzierung entlang bestimmter Codes und das implizite Aufrufen bestimmter Referenztexte zeigt, wie exakt Verlage ihr bevorzugtes Publikum für einen bestimmten Roman anvisieren. Mit der paratextuellen Montage aus Text und Bild wird versucht, die Rezeption der Romane in einem bestimmten intellektuellen Kontext zu lenken, der Prestige verleiht, was wiederum zu Besprechungen in Feuilletons und zu Aufmerksamkeit bei bestimmten literaturaffinen Leser*innengruppen führt.
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