Leserbrief zu Aleida Assmann: „Polarisieren oder solidarisieren?“
Verehrte Frau Prof. Assmann,
vielen Dank für Ihren neuen Beitrag zur erweiterten Debatte um Achille Mbembe im neuen Merkur. Ich habe Ihre Interventionen von Beginn an verfolgt und schätze diese sehr, zumal die Position der jeweiligen SprecherInnen leider immer wichtiger wird. Nicht alle können und wollen sich in diesem Klima der zunehmenden Verdächtigungen frei äußern.
Eine Frage zu Ihrer Textpassage über die „Entstehung einer neuen Antisemitismus-Definition“: Wenn Definitionen so zustande kommen, wie Sie im Merkur beschreiben, was ist dann das Wesen einer Definition? Kann jede/r (Individuum wie Institution) Definitionen neu zusammensetzen? Sie schreiben: „Dabei ist das erste Beispiel in die Kerndefinition mit aufgenommen, allerdings ohne den einschränkenden Zusatz.“ Sind Definition fortwährend fluid?
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in ihrer Entschließung ‚Kein Platz für Antisemitismus‘ vom 19.11.2019 zentrale Teilen wörtlich aus der Resolution ‚Gegen BDS und jeden Antisemitismus‘ im Rahmen der Ersten Deutsch-Israelischen Studierendenkonferenz übernommen hat. An einer wichtigen Stelle hat die HRK zwar eine wesentliche inhaltliche Änderung vorgenommen. Hier wird aus „Dabei spielt der israelbezogene Antisemitismus eine herausragende Rolle.“ (JSUD et al.) im Text der HRK: „Dabei wird auch der israelbezogene Antisemitismus berücksichtigt.“ Trotzdem fragt man sich, wieso ein Gremium, das sich nun in besondere Weise mit Fragen nach Abschreiben und Plagiaten beschäftigt, einen Beschluss als Grundlage nutzt, den sie zwar zu Beginn nennt (Die Mitgliederversammlung der HRK unterstützt die Resolution „Gegen BDS und jeden Antisemitismus“ des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft…“), aber nicht an den jeweiligen Stellen als Textübernahmen ausweist? Das Verb „unterstützen“ deutet an dieser Stelle aus meiner Sicht wenig daraufhin, dass im Folgenden ganze Formulierungen aus eben dieser Resolution stammen. Des weiteren gibt es mehrere „Umschreibungen“ im HRK-Text sowie den Einsatz von Synonymen, um den Text sozusagen zu „adaptieren“ oder minimal umzuschreiben; wie zB:
– aus „zur Identifikation“ bei den StudentInnen wird bei der HRK: „zum Erkennen“
– aus „an allen Universitätsstandorten“ wird „an allen Hochschulstandorten“
– aus „In unseren Organisationen“ macht die HRK „In ihren Institutionen“. Weitere Stellen sind dagegen wörtlich beibehalten, andere sind auch ganz weggelassen – dies muss man auch erwähnen. Ich führe dies hier nur aus zu der Frage: Wie entstand die neue Antisemitismus-Definition? Die Links zu beiden Texten füge ich bei:
JSUD et al: https://www.fzs.de/positionen/feminismus-antidiskriminierung/gegen-antisemitismus/
Fazit: Ich kann dies nicht als Antisemitismus-Definition in einer „neuen, heute üblichen Variante“ verstehen, wie Sie schreiben. Es ist vielmehr Teil der forcierten diskursiven Verschiebung, die Sie analysieren, und die bei der HRK offenbar Wirkung gezeigt hat. Zu den StudentInnen sage ich: Chapeau! Aber die HRK hätte sich m.E. die Mühe machen müssen, einen eigenen politischen Entschliessungstext zu formulieren. So sieht aus meiner Sicht die von Ihnen angesprochene Genese aus, die vielmehr eine Vermischung von Definition und verkürzten Beispielen ist, als dass sie eine neue Definition darstellen würde.
Mit besten Grüßen und Wünschen für 2021
Prof. Dr. Sonja Hegasy
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