Nach der Zäsur. Versuch eines vorausschauenden Rückblicks auf die documenta 15

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[Dies ist die Vorabveröffentlichung eines Texts, der in der Märzausgabe des Merkur, # 898, erscheint.]

Unter dem Eindruck des terroristischen Massakers in Südisrael und seiner Folgen hat die hinter der Kasseler „Weltkunstschau“ documenta stehende gGmbh am 17. und 18. November 2023 ein Symposium über deren fünfzehnte Ausgabe abgehalten.[1] Im Jahr 2022 sei diese, so der Ankündigungstext, zum „Brennpunkt einer Debatte über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ geworden. Die Konferenz, die lange vor dem 7. Oktober vom documenta-Institut unter der Leitung des Soziologen Heinz Bude konzipiert worden war, hatte sich ursprünglich das Ziel gesetzt, von der documenta 15 aus auf ihre Nachwirkungen in Kunst, Politik und Öffentlichkeit zu schauen – man könnte also sagen: einen vorausschauenden Rückblick auf sie zu wagen. Der heute vielleicht gewagt klingende Titel der Veranstaltung: „Die documenta fifteen als Zäsur?“

Verschärfung des Meinungsklimas

Dass aber auch für die documenta weniger ihre heiß debattierte Ausgabe von 2022, sondern vielmehr die jüngsten Ereignisse in Israel und Palästina zu einer Zäsur geworden sind, hatte sich bereits im unmittelbaren Vorfeld des Symposiums abgezeichnet – genauso wie der Umstand, dass sich die zugrundeliegenden Probleme und ihre Verhandlungsweisen dennoch nicht geändert haben. Aus der Findungskommission für die künstlerische Leitung der documenta 16 war am 10. November 2023 zunächst die israelische Künstlerin Bracha L. Ettinger zurückgetreten. Ettingers Bitte, angesichts des jüngsten Gaza-Kriegs den Findungsprozess zu verlangsamen, um ihr eine weitere Teilnahme zu ermöglichen, hatte die Geschäftsführung, die schon mit ihrer Besetzung am Anfang der letzten documenta nicht durch Umsicht aufgefallen war, mit Verweis auf organisatorische Gründe abgelehnt.

Zwei Tage nach Ettinger war auch der indische Dichter und Kurator Ranjit Hoskoté zurückgetreten, weil er es seinerseits gegenüber der Geschäftsführung ablehnte, sich von den Inhalten einer Petition zu distanzieren, die er 2019 unterzeichnet hatte. Die Petition mit dem Titel BDS India, von der Süddeutschen Zeitung am 9. November 2023 zu öffentlichem Bewusstsein gebracht, hatte unter anderem den Zionismus „eine rassistische Ideologie“ genannt, die einen „siedlerkolonialistischen Apartheidstaat“ verlange. Die Petition war etwa von Kulturstaatsministerin Claudia Roth als „ganz klar antisemitisch“ eingeschätzt worden, Hoskoté beharrte dagegen auf der Unterscheidbarkeit von Antizionismus und Antisemitismus.

In jedem Fall war man damit zurück in jenen Problemkreis gelangt, der schon die deutsche Debatte um die documenta 15 unter der künstlerischen Leitung des indonesischen Kollektivs ruangrupa bestimmt hatte – nämlich: wie (israelbezogener) Antisemitismus zu erkennen und mit der breiten Unterstützung für die antiisraelische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) in der globalen Kunstszene umzugehen ist. Hatte die Debatte um die fünfzehnte Ausgabe der documenta noch nicht dazu geführt, dass ihre weitere Ausrichtung ernsthaft infrage gestanden hätte, so war dieser Punkt dann aber einen Tag vor dem Symposium erreicht, als schließlich auch die vier restlichen Mitglieder der Findungskommission zurücktraten.

Seit der documenta 15 herrsche, so einer der von ihnen für diesen Schritt angeführten Gründe, ein „emotionales und intellektuelles Klima“ in Deutschland, das nach seiner jüngsten Verschärfung nicht mehr daran glauben lasse, dass dort noch „Raum […] für einen offenen Austausch von Ideen und die Entwicklung komplexer und nuancierter Ansätze in der Kunst“ sei – und darin konnte man auch manche Reaktionen ruangrupas auf die vielen Antisemitismusvorwürfe nachhallen hören, die sie als Bemühungen einer letztlich rassistischen Zensur gebrandmarkt hatten.[2] Umso gespannter durfte man sein, ob auf dem Symposium auch eine nochmalige Verschärfung des Meinungsklimas in Deutschland festgestellt werden würde und wie sich die dort angestellten Betrachtungen der documenta 15 dazu verhielten.

Blickverengung

Zuvorderst beschäftigten natürlich auch das Symposium die Folgen des Hamas-Terrors, es befasste sich vor allem mit den diskursiven Verwerfungen, die ihm gefolgt waren, und erst nachgeordnet mit der documenta 15. Heinz Bude, der die vier Gesprächsrunden moderierte, führte ihre vorgesehenen thematischen Rahmungen, die zur Nachbetrachtung der letzten documenta unter vier unterschiedlichen Rezeptionsaspekten angehalten hätten, jeweils erst gar nicht aus. Die personelle Zusammensetzung der Podien, die schon vor dem 7. Oktober 2023 festgesetzt worden war, könnte man dagegen als hellsichtiges Statement begreifen. Auf der Bühne diskutierten allein deutsche und deutsch-israelische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – mit einer Ausnahme: dem Österreicher Thomas Macho. Der „Globale Süden“ war nur als Begriff anwesend, dessen Unzulänglichkeit festgestellt wurde. Und Vertreter der globalen Kunstszene suchte man in den Gesprächsrunden ebenfalls vergebens.

Damit war die Befassung mit der documenta 15 einstweilen nicht nur allein den Wissenschaften überantwortet. Mit der Zusammensetzung der Podien schien die Veranstaltungsorganisation zugleich das Repräsentationstableau in den traditionellen Segmenten der deutschen Öffentlichkeit unmittelbar nach den Gräueltaten der Hamas vorausgeahnt zu haben, wo etwa gerade palästinensische Stimmen kaum zu Wort kamen und sich angesichts reihenweise verbotener Demonstrationen, verschobener Preisverleihungen, abgesagter Veranstaltungen und eines sich gegen sie verallgemeinernden Antisemitismusverdachts auch gar nicht mehr äußern wollten, wie die Journalistin Elisabeth von Thadden berichtet hat.[3]

Schon der Fall Hoskoté hatte im Vorfeld des Symposiums neuerlich Rufe laut werden lassen, der Antisemitismus-Skandal auf der documenta 15 müsse nun endlich aufgearbeitet werden. Es liegt allerdings immerhin schon der Abschlussbericht des von der documenta eingesetzten Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung vor, das eine nicht immer einhellige Einschätzung zu vier inkriminierten Ausstellungsstücken abgegeben und organisatorische Reformen angeregt, aber eben auch festgestellt hatte, ihr Arbeitsauftrag habe sie nicht zur Erforschung der öffentlichen Auseinandersetzung um die documenta 15 in ihrer gesamten Breite angehalten, die etwa auch teils von „rassistischen Untertönen“ durchzogen gewesen sei.[4]

In ihren Eröffnungsreden erinnerten die verantwortlichen Personen, allen voran die hessische Wissenschaftsministerin Angela Dorn, an die documenta 15 dann allein als Menetekel eines grassierenden Antisemitismus – Dorn eignete sich eine Bemerkung Fritz Bauers über die Auschwitz-Prozesse an und erkannte in der vorangegangenen Kunstschau nur die Spitze eines Eisbergs, der der gesellschaftliche Antisemitismus sei.

Wie die Zusammensetzung der Podien erahnen lässt, war dies schon vor den Gräueltaten der Hamas der leitende Blick zurück auf die documenta 15. Und unter ihrem unmittelbaren Eindruck und der danach hierzulande nochmals konkreter gewordenen Bedrohung jüdischen Lebens ist er auch doppelt nachvollziehbar. Aber deswegen nicht weniger verengt. Geschäftsführer Andreas Hoffmann kündigte an, dass die Zeit, bis der Findungsprozess neu aufgesetzt sei, nun dafür genutzt werden müsse, das durch die antisemitischen Verfehlungen verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen und sich von jeglicher Form des Antisemitismus konsequent zu distanzieren.

Zu diesem Zweck trug Hoffmann dem Symposium auf, inmitten einer polarisierten Debatte – was die wohl gängigste Beschreibung des gegenwärtigen Zustands öffentlicher Meinungsbildung und insbesondere der Antisemitismusdebatten der jüngeren deutschen Geschichte ist – neuen Raum zu schaffen. Er stimmte also der Einschätzung der zurückgetretenen Findungskommission zu und hoffte doch auf ihre Widerlegung. Aber was, wenn gerade der unerlässliche Kampf gegen jede Form von Antisemitismus in der Weise, wie er gegenwärtig in Deutschland geführt wird, selbst ein Polarisierungsmoment der öffentlichen Debatte ist, weil er eindeutige Urteile und schnelle Verurteilungen verlangt, zu Unterstellungen verleitet (gerne auch gegenüber linken Jüdinnen und Juden) und eine argumentative Auseinandersetzung verhindert?

Tränen und Blut

Tatsächlich wurde das Symposium zu einem Dokument der nochmaligen Verschärfung der deutschen Debattendynamik unmittelbar nach dem Hamas-Massaker. Und doch eröffnete es, zumeist über den Umweg einer Befassung mit der documenta 15, auch Möglichkeiten, diese Debattendynamik zu reflektieren und sich von ihr zumindest ein Stück weit zu distanzieren. Diese Doppelbewegung von Reproduktion und Reflexion prägte bereits das erste Gespräch, das Heinz Bude unter dem Titel „Deutsche Deutungskonflikte?“ mit zwei wichtigen Protagonisten der Debatte um den vorangegangenen Antisemitismusskandal und seiner von der documenta selbst organisierten Aufarbeitung führte: Meron Mendel und Nicole Deitelhoff. Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor für Soziale Arbeit, war nach Entdeckung des ersten antisemitischen Bildinhalts auf dem Werk People‘s Justice zunächst als externer Berater in der Antisemitismusfrage hinzugezogen worden, aber wegen mangelnder Kommunikationsbereitschaft von Direktion und künstlerischer Leitung bald wieder zurückgetreten. Inzwischen leitet er gemeinsam mit Bude ein vom hessischen Wissenschaftsministerium finanziertes Forschungsprojekt, das durch Interviews, Medienanalyse und Gruppendiskussionen herausfinden will, warum die Debatte um die documenta 15 so polarisiert und festgefahren gewesen sei.

Hatte das deutsche Feuilleton den virulenten Antisemitismus nach dem 7. Oktober mit Vorliebe auf Seiten „der Linken“ verortet, so schloss Mendel an diese Debattenlage an, ohne es sich aber mit dem Antisemitismusvorwurf zu leicht zu machen. Den 7. Oktober beschrieb er als Moment der Wahrheit, der offengelegt habe, dass auf der politischen Linken, zu der sich Mendel selbst rechnet, ein bedeutender Teil nicht zu moralischem Universalismus fähig sei. Wie schon die documenta 15 gezeigt habe, hänge dieser Teil nämlich einem gegenüber der Realität unempfindlichen Denkschema an – Israel als Staat weißer Kolonisatoren, demgegenüber die Palästinenser als unterdrückte Indigene – und konnte deswegen den Hamas-Terror nicht beim Namen nennen und keine Empathie für seine Opfer zum Ausdruck bringen.

An empfindlicher Stelle hielt Mendel dann aber seinerseits den moralischen Universalismus hoch: Mit Blick auf eine am Anfang der Veranstaltung abgehaltene Schweigeminute für die Opfer und Geiseln der Hamas, die die im Familien- und Bekanntenkreis betroffene Kuratorin Sari Golan aus Ramat Gan in einem berührenden Grußwort angeregt hatte, bekannte Mendel, er hätte sie allen unschuldigen Opfern der jüngsten Gewalt, einschließlich den palästinensischen, gewidmet. Auch wenn Mendel ein Eintreten für das Selbstverteidigungsrecht Israels oder für einen sofortigen Waffenstillstand unter Verweis auf das humanitäre Völkerrecht auf dem Symposium noch beiderseits als „kindisch“ abtun konnte, so begründet sich die zweite Position, die nicht nur auf der globalen Linken inzwischen zur Mehrheitsmeinung geworden sein dürfte, doch zweifellos durch einen moralischen Universalismus. Ein Reflex in seinem Geist mag tatsächlich bei zu vielen im Angesicht der Gräueltaten der Hamas ausgeblieben sein, wie Mendel beklagte. Aber am Universalismus – und das lehrt der weitere Verlauf der globalen Debatte um den Gaza-Krieg – scheiden sich nicht die Positionen, sondern es werden konkurrierende Ansprüche auf ihn erhoben, mit situativ dann jeweils unterschiedlichen politischen Konsequenzen.

Jene undogmatische Konfrontationsfreude, die Mendel zu einer einzigartigen Stimme in deutschen Antisemitismusdebatten macht, brachte er dann aber wieder in seiner Betrachtung der schrittweisen Auflösung der Findungskommission zur Geltung: Bei Bracha Lichtenberg Ettinger habe die Geschäftsführung Empathie vermissen lassen, wohingegen am Beginn des Falls Ranjit Hoskoté ein Compliance-Vergehen gestanden habe, da er seine Unterschrift unter die BDS-Petition trotz ihrer offenkundigen Relevanz für die documenta-Organisation nicht angegeben habe, was die Frage, ob sie antisemitisch gewesen sei, unerheblich werden lasse. Mit dieser Einschätzung opponierte Mendel letztlich ein weiteres Mal gegen den gegenwärtigen Vormarsch dessen, was Bude einen „polizeilichen Begriff des Antisemitismus“ genannt hatte.

Zugleich erinnerte Mendel aber daran, dass der Meinungsdruck in deutschen Kultureinrichtungen im Moment nicht nur von der deutschen Politik, sondern – in gegenläufiger Richtung – auch von der internationalen Kunstszene hochgehalten werde, wie inzwischen die Berliner Antisemitismus-Klausel und die internationale Strike-Germany-Kampagne haben greiflich werden lassen. Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftsprofessorin und Vorsitzende des Expertengremiums der documenta 15, registrierte ebenfalls eine außerordentlich aufgeheizte Debattenlage, in der jede angeführte Begründung sofort in Zweifel gezogen werde. Damit stimmte Deitelhoff der Rücktrittsbegründung der Rest-Findungskommission in Teilen zu, um ihr dann sogleich, gleichsam als anschauliches Beispiel für das deutsche Meinungsklima, im Widerspruch zum Wortlaut ihrer Begründung zu unterstellen, sie hätte die Forderung erhoben, „ein bisschen Antisemitismus“ zuzulassen, „damit die Kunst frei diskutieren kann“.

Dass diese Unterstellung ihren Sinn aus einem logischen Widerspruch bezieht, der für deutsche Antisemitismusdebatten geradezu definierend ist, wurde offenbar, als Deitelhoff vom unstrittigen Postulat, die Ablehnung von Antisemitismus sei Voraussetzung für die Teilnahme an der öffentlichen Diskussion, zur relativierenden Einsicht gelangte, dass gerade hinsichtlich des israelbezogenen Antisemitismus die Grenze zur legitimen Israelkritik nicht a priori gesetzt, sondern jedes Mal wieder am konkreten Fall gezogen und überprüft werden müsste. Wenn diese Grenze aber nicht von vornherein feststeht und auch nicht einfach zu ziehen ist, wie könnte ihre Anerkennung in Bezug auf den israelbezogenen Antisemitismus dann Voraussetzung für die Teilnahme an der öffentlichen Debatte sein?

Das zentrale analytische Problem, das gegenwärtige Antisemitismusdebatten gerade auch in Deutschland aufwerfen, dürfte daher auch weiterhin sein, dass zum einen Israelkritik Antisemitismus verdeckt oder auf Umwegen verbreiten kann, sich zum anderen aber auch Antisemitismusvorwürfe einer konkreten und nachvollziehbaren Grenzziehung entschlagen und allein darauf abzielen können, Israelkritik zu delegitimieren.[5] Es handelt sich beiderseits um potentiell strategische Verfahren der Kritik – und dieses Problem müsste wohl auch erst zur Gänze begriffen werden, bevor an die Schaffung neuen Raums in diesen Debatten überhaupt zu denken ist.

Auf die Frage, welches normative Projekt Israelis und Palästinenser wieder zusammenbringen könne, antwortete Deitelhoff, sie sehe gegenwärtig keines – die zynische Antwort sei, es müsse erst genug Blut vergossen werden, um eine gemeinsame Zukunft wieder in Angriff nehmen zu können. Diese Antwort hat ihre historische Referenz in den Worten des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin, der den Eintritt in den Osloer Friedensprozess 1993 mit der Erkenntnis begründet hatte, dass „genug Blut und Tränen geflossen“ seien, bevor er 1995 von einem jüdischen Rechtsextremisten erschossen wurde.

Zwar könnte es dennoch überraschen, dass einer der führenden deutschen Friedens- und Konfliktforscherinnen nicht viel mehr einfiel, als das weitere Blutvergießen abzuwarten. Doch auch damit fügte Deitelhoff sich passgenau in den Stand der öffentlichen Meinungsbildung in Deutschland unmittelbar nach dem Hamas-Massaker ein. Danilo Scholz und Per Leo haben in ihren halbprivaten Gegenöffentlichkeiten auf Facebook fortlaufend kritisiert, dass sich die deutsche Debatte, gerade im internationalen Vergleich, durch die eingefahrene Gewohnheit ausgezeichnet hat,  sich nicht für die jüngste Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts zu interessieren.[6] Unter dem anhaltenden Schock des 7. Oktober scheiterte die deutsche Öffentlichkeit auch deswegen dann so eklatant daran, einen politischen Umgang mit den Widersprüchen der  weiteren Eskalation jenes Konflikts zu finden – Hamas-Terror und Siedlergewalt, unentwegte Angriffe auf Israel, verschleppte Geiseln und nicht hinnehmbares Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung, auf keiner Seite regierende Kräfte, die zu einer Zwei-Staaten-Lösung willens und fähig wären.  Einem politischen Umgang mit diesen Widersprüchen meinte man durch Bekenntnisse zur Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson ausweichen zu können, was aber auf eine weitgehend passive Haltung gegenüber dem weiteren Blutvergießen und seinen Folgen für die deutsche Gesellschaft hinausgelaufen ist.[7]

Grenzen der Ambiguitätstoleranz

Aufgrund der krankheitsbedingten Absage Armin Nassehis führte Bude das zweite Gespräch, das sich eigentlich um die „documenta als Ausstellungs- und Medienereignis“ hätte drehen sollen, allein mit dem Antisemitismusforscher Klaus Holz. Ausgehend vom Taring-Padi-Banner People’s Justice, das auch die stereotype Darstellung eines „Finanzjuden“ samt Vampirzähnen und Hut mit SS-Runen beinhaltet hatte, befasste sich Holz mit dem Stalinismus als ideologisch-agitatorischer Möglichkeitsbedingung für die Aufnahme derartiger Antisemitismen in ein Werk indonesischer Kunstschaffender. Mit seinem dichotom antiimperialistischen Weltbild, in das auch der Nahostkonflikt einsortiert wurde, laste der Stalinismus noch heute wie ein Fluch auf der Linken. Hatte Holz damit auf eine Geschichte der von Mendel zuvor angeprangerten Denkschablone hingewiesen, so betonte er aber auch, dass es dann gerade der Einsatz der postkolonialen Theorie gewesen sei, derartige Dichotomien zu überwinden. Darauf aufbauend müsse es einer universalistischen Linken heute gelingen, den Kampf gegen den Antisemitismus mit dem Kampf gegen den Rassismus zu verbinden.

Auf die Debatte um die documenta 15 brachten ihn dann aber erst die Fragen aus dem Publikum zurück. Holz, einer der Erstunterzeichner der Jerusalem Declaration on Antisemitism von 2021, welcher von Verfechtern der IHRA-Definition nachgesagt wird, Israelhass vom Stigma des Antisemitismus befreien zu wollen, bemängelte vor allem einen Mangel an hermeneutischer Redlichkeit bei der damaligen Erhebung von Antisemitismusvorwürfen und nahm davon auch die Antisemitismusforschung nicht aus. Gleichzeitig rief Holz aber auch in Erinnerung, dass es zu den einzelnen antisemitischen Verdachtsfällen viele differenzierte Debattenbeiträge gegeben habe, bevor diese im Zuge der voranschreitenden Positionsverhärtung immer weniger geworden seien.

Seit dem Überfall der Hamas würden manche Akteure inzwischen kaum mehr zwischen berechtigter Israelkritik und Antisemitismus unterscheiden wollen, was Holz auf das nicht auflösbare Problem zurückführte, dass Antisemitismusdebatten von gegenläufigen Moralvorstellungen und politischen Interessen bestimmt würden. Deswegen gab er dem Findungsprozess für die künftige documenta auch die Frage mit auf den Weg, welche Ambivalenzen man im Rahmen eines moralischen Universalismus zulassen könne, wenn es um die Unterscheidbarkeit von israelbezogenem Antisemitismus und legitimer Israelkritik geht.

„Ambiguitätstoleranz“ war auch eine der zentralen Forderungen des Soziologen Natan Sznaider gewesen, als er im Februar 2023 auf einer Nachbereitungskonferenz zur Kontroverse um die documenta 15 an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg gesprochen hatte.[8] In Sznaiders Beiträgen zur dritten Gesprächsrunde, die er mit Bude und Macho bestritt und die eigentlich der Unterscheidung von legitimer und illegitimer Israelkritik gewidmet war, zeigte sich, wie sich unter dem Eindruck des Hamas-Terrors Positionen verändern und verhärten konnten. Sznaider rückte nun von seiner noch während der documenta 15 vertretenen Einschätzung ab, wonach etwa People‘s Justice hätte stehen bleiben sollen, weil Antisemitismus in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft nicht abbaubar sei und es Kunstwerke ermöglichen würden, ihn und seine Darstellungsformen zu konfrontieren.

Jetzt sei aber „aus einer Spielerei tödlicher Ernst“ geworden, denn die postkolonialistischen Theorien würden nun eine Formwandlung des Antisemitismus sichtbar machen und zum Ausdruck bringen, dass die Juden als weiße Kolonisatoren „ausgemerzt werden müssen“ (ein Bezug dieser Aussage könnten antisemitische Mordaufrufe an US-amerikanischen Universitäten sein, aber Sznaider konkretisierte ihn, wie so oft, wenn über „den Postkolonialismus“ gesprochen wird, nicht).

Als Bude zumindest bemerkte, dass man noch gar nicht „über die Palästinenser gesprochen“ habe, und die Frage aufwarf, wie man denn nun über sie reden solle, ob sie, wie es die normale Rede wolle, „auch Opfer“ seien, bekräftigte der aus Tel Aviv zugeschaltete Sznaider, dass Israel noch immer jeden Tag am 7. Oktober aufwache. Es gebe dort zwar auch Menschen, die die Situation schon anders betrachten könnten, aber gegenwärtig sei für ihn, nicht zuletzt aufgrund unmittelbarer persönlicher Betroffenheit, „Mitgefühl außerhalb der Grenzen der Gemeinschaft fast schon unmöglich“. Und damit war auch das vorläufige Schlusswort gefallen, da sich auf dem Podium niemand mehr fand, der den moralischen Universalismus und die grenzüberschreitende Empathie hochhalten wollte, wie es Meron Mendel noch am Vortag getan hatte.

Konkurrierende Expertisen

Im Mittelpunkt stand die documenta 15 dann erst im letzten Gespräch. Darin bot die auf Antisemitismustheorie und jüdische Religionsphilosophie spezialisierte Literaturwissenschaftlerin Yael Kupferberg zunächst wichtige Differenzierungen für den Blick zurück auf die Debatte um den Antisemitismusskandal von 2022 an. Vom Skandal zu unterscheiden sei die Skandalisierung, die in der deutschen Medienöffentlichkeit primär von Reduktionen auf moralische Positionen bestimmt gewesen sei und vorrangig eine normative Ablehnung der antisemitischen Darstellungen zum Ausdruck gebracht habe. Als Jüdin bedürfe sie auch der Normativität, aber als Intellektuelle, so Kupferberg, einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, die im Wissen um die unweigerliche Präsenz des Antisemitismus der Frage nachgehe, wie antisemitische Darstellungen entstanden seien, warum sie auftauchen, und dadurch auch erst die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Verständigung darüber schaffen, ob und mit welcher Kontextualisierung sie ausgestellt werden sollen. Obwohl Kupferberg also an der Position festhielt, die Sznaider zuvor aufgegeben hatte, bekannte auch sie, vor dem 7. Oktober habe sie die vergangene documenta „nicht schockiert. Mich schockiert sie jetzt.“

Die Historikerin Maria Neumann, die am documenta-Institut angestellt ist und im Rahmen ihrer Forschung viele Interviews mit Mitgliedern der Kasseler Stadtgesellschaft geführt hat, reicherte Kupferbergs begriffliche Unterscheidungen dann auch stellenweise mit empirischen Erkenntnissen an. Ein Antisemitismusskandal sei es vor allem für die überregionalen Medien gewesen, für die Kasseler Stadtgesellschaft dagegen vor allem der Skandal eines Eingriffs in die Kunstfreiheit, der die globale Kunstszene, welcher sie im steten Rollenwechsel zwischen Gast und Gastgeberin sehr nahe gekommen war, abzuschrecken drohte und sogar die weitere Ausrichtung der documenta am Standort Kassel gefährdete (wörtlich zitierte sie aus ihren Interviews gröbste Antisemitismen).

Heinz Bude versuchte noch, analytisch nachzuschärfen, als er den Kasselern attestierte, von der Debatte um die letzte documenta gekränkt worden zu sein – und die Kränkung sei ja bekanntlich der Kern des Ressentiments. Tatsächlich wurden im Verlauf der Konferenz immer wieder dissidente Stimmen aus dem Publikum laut, die, zumeist der Kasseler Stadtgesellschaft angehörig, Bude dafür angingen, dass er sich selbst gern beim Reden zuhöre, und mit bisweilen rabiat vorgetragenen Gegenexpertisen aufwarteten.

Ohne belastbare und nachvollziehbare Empirie läuft aber gerade auch der Gebrauch des in Antisemitismusdebatten so verbreiteten Vokabulars der Psychologie Gefahr, lediglich eine intellektualistische Überlegenheitsgeste zu sein. Und Bude bemerkte selbst, dass es womöglich über das Ziel hinausschieße, mit den in Teilen anwesenden Bürgern Kassels unaufgefordert und einseitig einen „therapeutischen Diskurs“ zu führen. Im Sinne einer Schlussfolgerung forderte er dann aber doch für die Zukunft einen souveräneren Umgang der Kasseler Stadtgesellschaft mit ihrer Weltkunstschau, eine künstlerische Leitung, die sich nicht rein affirmativ zu den unterschiedlichen Tendenzen in der globalen Kunstszene verhalte – und eine nächste documenta, die reflektiere, dass die Welt eine andere geworden sei.

Die Möglichkeit eines anderen vorausschauenden Rückblicks

Damit war die Frage allerdings noch immer nicht geklärt, wie man in dieser Welt auf die vorangegangene documenta zurückblicken soll. Es gibt gute Gründe, sich ihrer, wie es auf diesem von der documenta selbst organisierten Symposium vornehmlich getan wurde, als Antisemitismusskandal zu erinnern, der erst jetzt in seiner gesamten Tragweite begreiflich wird. Als Vorzeichen eines sich ausbreitenden Judenhasses. Als die erste Krähe – ein Bild aus der Eröffnungsszene von Alfred Hitchcocks Die Vögel, auf das Nils Minkmar rekurrierte –, die die baldige Ankunft des todbringenden Krähenschwarms ankündigt, aber erst dann als jenes Vorzeichen verständlich wird.[9]

In dieser teleologischen Betrachtungsweise geht aber etwas Entscheidendes verloren. Vor kurzem hätte es noch absurd geklungen, aber vor dem Hintergrund unserer Gegenwart erscheint die Debatte um die documenta 15 nun wie eine beinahe besonnene Auseinandersetzung. Als Kunstwerke, die mal klarere, mal weniger klare Fälle von (israelbezogenem) Antisemitismus zur Schau stellten, hatten die damaligen Streitgegenstände gegenüber der gegenwärtigen Gewalt in Nahost und ihren gesellschaftlichen Folgen in Deutschland den Vorteil, dass sie jene reflexive Distanz erlaubten, die Yael Kupferberg heute weiterhin einzunehmen forderte.

Und in einer Gegenwart, in der die postmigrantische Gesellschaft bedroht scheint, wäre es daher womöglich auch dienlicher, aus einer solchen reflexiven Distanz, die mehr als bloß die immergleiche Polarisierung erkennen kann und sich mit keiner Position moralisch identifiziert, auch auf die damalige Debatte um die documenta 15 zu schauen (der Frage Machos, ob er die Diskussion auf dem Symposium schon mit vorläufigen Erkenntnissen seines Forschungsprojekts bereichern könne, wich Bude leider aus). In der Debatte um die documenta 15 zeigte sich weder allein die Schablonenhaftigkeit mancher Antisemitismusvorwürfe noch allein die Reflexhaftigkeit mancher Abwehr dagegen, sondern beides zugleich, aber stets auch, woran Klaus Holz erinnert hatte, differenzierende Beiträge, die der Polarisierungsdynamik, vielleicht vergeblich, entgegenarbeiten. Wäre es nicht auch möglich, einen kritischen Blick zurück auf die documenta-Debatte zu werfen, der eine Distanzierung von jenen argumentativen Schablonen und Reflexen erlaubt und zugleich die Erinnerung an die differenzierenden Beiträge rettet?

In einem der wichtigsten dieser Beiträge, bezeichnenderweise ein ungehaltener Vortrag auf einer abgesagten Konferenz mit dem Titel „We need to talk“, hatte die Künstlerin Hito Steyerl darauf hingewiesen, dass Antisemitismus und Rassismus auf der documenta seit Anfang der 2000er unter dem Einfluss postkolonialer Theorie vor allem als außerdeutsche Phänomene verhandelt wurden und gerade auch in dieser Externalisierung die vorübergehende Begeisterung der Deutschen für diese Theorie begründet lag – der Kontext sei stets König gewesen, nur eben nicht der deutsche.[10]

Heute fühlt sich Hito Steyerl nicht nur an die falsch verstandene Palästina-Solidarität mancher Achtundsechziger, sondern auch an den Radikalenerlass erinnert und rät der documenta eine Konzentration auf vermittelnde Positionen, die sich im Wissen, dass die Kunst in einer Welt der Polykrise keine unbeteiligte Beobachterin mehr sein kann, dennoch der Frage entschlägt, welche Seite Recht hat.[11] Wenn in ihrem Sinn der deutsche Kontext wieder in den Mittelpunkt gerückt werden muss, dann wäre auch die Debatte um die documenta 15 als Dokument deutscher Debattenkultur zu betrachten, als Dokument, wie in der deutschen Öffentlichkeit noch vor kurzem Antisemitismus und Rassismus verhandelt und zum Ausdruck gebracht wurden, als Dokument, wie mit (jüdischer) Diversität in Deutschland umgegangen wurde.

Und wenn es im Sinne Steyerls gegenwärtig um die Stärkung vermittelnder Positionen geht, dann müsste die Debatte um die documenta 15 im gleichen Zug als Moment in Erinnerung gerufen werden, in dem produktiver Streit noch möglich war – und zwar in dem Maß, wie sich die deutsche Öffentlichkeit dabei einer größeren Diversität an Stimmen öffnen oder sich zumindest mit ihnen konfrontieren musste, ein argumentativer Austausch zwischen traditionellen und sozialen Medien stattfand und die Fragen von Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Diversität an konkreten Gegenständen und überschaubaren Vorgängen verhandelt wurden, im argumentativen Ringen um eine der politisierten Gegenwartskunst angemessene Kunstkritik und eine richtige Bestimmung der Grenzen ihrer Freiheit.

 

[1] Das Symposium wurde aufgezeichnet  (www.youtube.com/watch?v=mYT0CPu4k0Q; https://www.youtube.com/watch?v=NWHLNyplon8).

[2] Simon Njami/Gong Yan/Kathrin Rhomberg/María Inés Rodríguez, Documenta Resignation Letter. In: e-flux vom 16. November 2023 (www.e-flux.com/notes/575919/documenta-resignation-letter).

[3] Elisabeth von Thadden, Das Ringen um Worte. In: Zeit vom 23. Oktober 2023.

[4] Nicole Deitelhoff u.a., Abschlussbericht des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen vom 2. Februar 2023 (www.documenta.de/files/230202_Abschlussbericht.pdf).

[5] Vgl. Doron Rabinovici/Natan Sznaider, Neuer Antisemitismus: Verschärfung einer Debatte. In: Christian Heilbronn u.a. (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Berlin: Suhrkamp 2019.

[6] www.facebook.com/danilo.scholz; Per Leo, Israel und Palästina im deutschen Herbst. In: Merkur-Blog vom 9. November 2023 (www.merkur-zeitschrift.de/2023/11/09/israel-und-palaestina-im-deutschen-herbst-facebook-oktober-november-2023/).

[7] Vgl. Ralf Michaels, #Staatsräson. Zum Gebrauch des Begriffs nach dem 7.Oktober. In: Geschichte der Gegenwart vom 22. November 2023 (geschichtedergegenwart.ch/staatsraeson-zum-gebrauch-des-begriffs-nach-dem-7-oktober/).

[8] Alexander Kraus, Kontroverse documenta fifteen – Hintergründe, Einordnungen und Analysen. Tagungsbericht. In: H-Soz-Kult vom 3. April 2023 (www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-135179).

[9] Nils Minkmar, Kunst am Nullpunkt. In: SZ vom 20. November 2023.

[10] Hito Steyerl, Kontext ist König, außer der deutsche. In: Zeit vom 3. Juni 2022 (www.zeit.de/kultur/kunst/2022-06/documenta-15-postkoloniale-theorien-kunst-kontextualisierung).

[11] Hito Steyerl, „Kunst hat ihre Unschuld verloren“. In: Deutschlandfunk Kultur vom 17. November 2023 (www.deutschlandfunkkultur.de/starkuenstlerin-hito-steyerl-zur-documenta-wie-umgehen-mit-dem-antisemitismus-dlf-kultur-86149b01-100.html).