Nachgefragt: Ute Sacksofsky zu ihrer Rechtskolumne zur Glaubensfreiheit

In ihrer Rechtskolumne im Februarheft (hier bis Ende des Monats frei lesbar) setzt sich Ute Sacksofsky kritisch mit jüngeren Urteilen zur Glaubensfreiheit auseinander. Wir sahen an manchen Stellen Klärungsbedarf – und haben deshalb per Mail drei Zusatzfragen gestellt.

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Merkur: In Ihrer Kolumne rekapitulieren Sie, dass das Recht auf Glaubensfreiheit in Deutschland nach gängigem Rechtsverständnis die Freiheit beinhaltet, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“. Zugleich beklagen Sie, dass dieses Recht nicht für alle Gläubigen in gleicher Weise gilt. Fundamentalistische Minderheiten etwa, können vor deutschen Gerichten in der Regel mit weniger Entgegenkommen rechnen als Angehörige der großen Kirchen. Täuscht der Eindruck, oder liegt dieser Ungleichbehandlung eine stillschweigende Unterscheidung zwischen (legitimer) Religionsgemeinschaft und (illegitimer) Sekte zugrunde? Ist denn eine solche Unterscheidung überhaupt eine juridisch belastbare Kategorie? Und falls nicht: Wie kann dann zwischen berechtigten und unberechtigten Berufungen auf das Recht auf Glaubensfreiheit unterschieden werden?

Ute Sacksofsky: Dies ist in der Tat der zentrale Punkt meiner Kolumne: Eine Unterscheidung zwischen (legitimer) Religionsgemeinschaft und (illegitimer) Sekte verkennt den fundamentalen Gehalt der Glaubensfreiheit. Die Glaubensfreiheit überlässt es den Einzelnen zu entscheiden, welcher Religion sie angehören möchten, und zwar auch, welcher konkreten Ausprägung einer Religion. Umgekehrt formuliert: Dem Staat ist es untersagt, Religionen inhaltlich zu bewerten. Der Staat darf nicht die eine Religion für „gut“, die andere für „schlecht“ befinden; dementsprechend „gehört“ tatsächlich jede Religion  zu Deutschland. Die grundsätzliche Prüfung, ob sich eine Berufung auf die Glaubensfreiheit durchzusetzen vermag, hängt davon ab, ob die Gründe ausreichen, die zur Beschränkung der Glaubensfreiheit angeführt werden. Hier anerkennt die Verfassung nur solche Gründe, die ihrerseits eine verfassungsrechtliche Basis haben und zudem hinreichend gewichtig sind. Gibt es solche Gründe nicht, setzt sich die Glaubensfreiheit von Sekten-Mitgliedern genauso durch wie die von Anhängern des religiösen Mainstream. Dass die Gerichte dies teilweise anders handhaben und sich bei Anhängern kleinerer religiöser Strömungen mit weniger guten Gründen zufrieden geben, ist nicht akzeptabel.

Nach dem Rechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts fordert die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, anders als etwa in Frankreich, keine strikte Trennung von Staat und Kirche. Sie „gebietet“ vielmehr „in positivem Sinn“, den „Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern“. Wie Sie in Ihrer Kolumne zeigen, lassen sich Entscheidungen wie das viel diskutiere „Kopftuchurteil“ aus dem Jahr 2003 auf dieser Grundlage nicht widerspruchsfrei begründen. Hielten Sie es für sinnvoll, die Interpretation des Neutralitätsgebots zu revidieren und wenn ja, in welcher Weise?

Eine Revision des Verständnisses der religiösen Neutralität des Staates ist nicht mein Anliegen. Im Gegenteil: Ich würde gern am überkommenen deutschen Verständnis der Neutralität festhalten, da es dem Inhalt der Glaubensfreiheit besser gerecht wird als eine völlige Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat in ihrem Buch Liberty of Conscience herausgearbeitet, dass eine strikte Trennung von Religion und Staat zu einer Benachteiligung von Gläubigen gegenüber Atheisten führt. Drastisch ist bei einem solchen strikten Trennungsmodell aber auch die Ungleichbehandlung von Religionen. Es gibt Religionen, die von ihren Gläubigen bestimmte Praktiken erfordern, die im Alltag sichtbar sind, wie etwa Gebetszeiten oder eine bestimmte Art der Haartracht oder Kleidung. Andere Religionen hingegen kennen keine solchen Vorschriften.

Es liegt auf der Hand, dass ein Gebot, Religion nicht im öffentlichen Raum sichtbar zu machen, für den zweiten Typ von Religionen deutlich weniger problematisch ist. Für die meisten christlichen Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise ist ein Verbot, religiöse Symbole in der Schule zu tragen, schlicht irrelevant, da sie gar nicht auf die Idee kommen, solche Symbole tragen zu wollen (oder gar zu müssen). Hinzu kommt natürlich, dass die deutsche Gesellschaft auf die Bedürfnisse von Christen eingerichtet ist. Der Sonntag ist als Tag der Ruhe gesetzlich geschützt; auch müssen Christen nicht darum kämpfen, an Ostern oder Weihnachten feiern zu können. Für Sabbat oder Freitagsgebet sieht das anders aus, ebenso für nichtchristliche Feiertage oder heilige Zeiten (etwa den Ramadan).

Sie gehen auch mit der Burka-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte scharf ins Gericht. Als juristische Laien hat uns diese Abfertigung nicht recht überzeugt, da sie auf das Argument in der Sache gar nicht eingeht, sondern es bei der Kritik daran bewenden lässt, die angekündigte „genaue Prüfung“ sei unterblieben. Wie stehen Sie denn in der Sache zu dem Urteil, das ja auch vielfach kritisiert wurde, weil es ein Recht der Gesellschaft konstruiert, in einem „das Zusammenleben erleichternden Raum der Begegnung“ zu leben – der durch das Tragen der Burka offenbar zerstört würde?

Gerichtliche Entscheidungen funktionieren so, dass zunächst ein Prüfungsmaßstab aus dem anzuwendenden Grundrecht abgeleitet wird, der allgemein festlegt, unter welchen Bedingungen eine Beeinträchtigung der grundrechtlichen Freiheit gerechtfertigt werden kann. Diesen Prüfungsmaßstab wendet das Gericht dann auf den konkreten Fall an und klärt damit, ob ein Verstoß gegen ein Menschenrecht vorliegt oder nicht. Über den genauen Inhalt dieser Maßstäbe und auch ihre Anwendung kann man juristisch oft streiten. Aus juristischer Perspektive unstreitig stellt es aber einen gravierenderen handwerklichen Fehler dar, wenn ein Gericht einen Prüfungsmaßstab aus einer Norm ableitet, diesen dann aber bei der weiteren Prüfung gar nicht einhält.

Genau darum geht es aber beim Burka-Urteil des EGMR. Der Gerichtshof prüft, welche Gründe eine Einschränkung der Religionsfreiheit (und des Rechts auf Achtung des Privatlebens) rechtfertigen. Eine Vielzahl von Gründen, die die französische Regierung vorgebracht hatte, lehnt das Gericht als unzureichend ab, so dass die Entscheidung zunächst ganz traditionell und juristisch sauber daherkommt. Dann aber wird alles anders. Unter der Rubrik „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ hält es der Gerichtshof für möglich, dass die „Barriere, die gegenüber anderen durch einen das Gesicht verbergenden Schleier errichtet wird“ als „Angriff auf das Recht anderer verstanden werden <kann>, in einem sozialen Raum zu leben, der das Zusammenleben erleichtert“. Die Annahme eines solchen Rechtes wirft die Idee der Glaubensfreiheit um Jahrhunderte zurück. Die „gute Policey“ des Absolutismus durfte alle möglichen Regelungen erlassen, um „das Zusammenleben zu erleichtern“, etwa den Stand des Einzelnen schon an den Kleidern erkennbar zu machen oder zu limitieren, wie viel für Feste ausgegeben werden durfte. Der liberale Freiheitsbegriff dagegen lässt staatliche Regelungen eigentlich nur dann zu, wenn dies gerade zum Schutz der Rechte Anderer und nicht nur zur „Erleichterung des Zusammenlebens“ erforderlich ist.

Auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist offenbar nicht ganz wohl bei der Sache, denn er kündigt – wegen der „Dehnbarkeit des Begriffs des Zusammenlebens“ – eine „genaue Prüfung“ an, ob ein Burka-Verbot in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Nach alledem wäre zu erwarten gewesen, dass das Gericht genauer hinsieht, welche Gründe Frankreich vorbringen kann, um die behauptete Notwendigkeit des Burka-Verbots zu rechtfertigen. Genau an dieser Stelle bricht der Gerichtshof aber mit seiner angekündigten gründlichen Prüfung dieser Gründe ab und akzeptiert einfach den Vortrag der französischen Regierung. SEXLVIV.COM Inhaltlich ist ein Recht auf „Erleichterung des Zusammenlebens“ aber nicht nachvollziehbar. Das große Versprechen der Grund- und Menschenrechte ist es, die Freiheit der Einzelnen zu garantieren – auch und gerade, wenn der Mehrheit bestimmte Verhaltensweisen nicht gefallen. Zur Beschränkung von Freiheit muss daher mehr angeführt werden als nur, dass eine Handlung nicht der Erleichterung des Zusammenlebens nutzt. Um ein – bisher unbekanntes – „Recht auf Erleichterung des Zusammenlebens“ zu begründen, hätte das Gericht präzise bestimmen müssen, was genau der Inhalt dieses Rechts denn sein soll. Dies tut der Gerichtshof nicht – und es wäre wohl auch kaum gelungen. Weder existiert ein Recht, mit fremden Leuten im öffentlichen Raum in der Weise kommunizieren zu wollen, wie man es sich selbst wünscht, noch gibt es ein Recht, vom Anblick anderer verschont zu bleiben. Im freiheitlichen demokratischen Staat mutet das Recht den Einzelnen zu, dass sie andere ertragen und Vielfalt aushalten müssen. Das gilt auch gegenüber Frauen, die Burka tragen.