Verhasste, geliebte Technokratie

Widerstand und Bürgerlichkeit im post-Flüchtlingskrisen-Deutschland: Die Aktion „Flüchtlinge fressen“ des Zentrums für Politische Schönheit

Im frühsommerlichen Berlin-Mitte hat jüngst das Aktionskunst-Kollektiv „Zentrum für Politische Schönheit“ (ZPS) [1. Zum Zentrum für Politische Schönheit und seinen Aktionen: www.politicalbeauty.de] ein Gesellschaftsstück mit dem Titel „Flüchtlinge fressen“ zur Aufführung gebracht, das für viele Uneingeweihte eine Rolle vorgesehen hatte. Über knapp zwei Wochen hinweg trotteten vier Tiger in einer eigens am Maxim-Gorki-Theater errichteten Arena umher; Schaulustige kamen zusammen, vor allem auch, weil die syrische Schauspielerin May Skaf angekündigt hatte, sich von diesen Tigern fressen zu lassen, falls die Bundesregierung nicht einem vom ZPS gecharterten Flugzeug, das mehr als 100 asylberechtigte Kriegsflüchtlinge sicher von der Türkei nach Deutschland bringen sollte, die Einreise erlaubte. Während die meisten Feuilletons in diesem offenherzigen Erpressungsversuch sogleich eine makabre Instrumentalisierung von Flüchtlingsleid erkennen und Tierschützer auch das Leid der Tiger nicht unbeklagt lassen wollten, brachte die Fraktion der Linken im Bundestag artig einen Antrag auf Abschaffung des von der Aktion ins Visier genommenen § 63 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes ein. Dieser Paragraph setzt eine EU-Richtlinie um und belegt Verkehrsunternehmen mit empfindlichen Strafen, wenn sie Reisende ohne Aufenthaltstitel nach Deutschland befördern. Nachdem die Regierungsmehrheit den Antrag auf Abschaffung dieses sogenannten Beförderungsverbots der parlamentarischen Liturgie gemäß zurückgewiesen hatte, tat das Bundesinnenministerium schließlich den Initiatoren der Aktion auch noch den Gefallen, den angekündigten Freitod in der Tiger-Arena als „geschmacklose Inszenierung“ zu werten – was den tatsächlichen Zynismus des von der Regierung in Kauf genommenen Massensterbens im Mittelmeer vollends hervorkehrte.

Das Mittelmeer als Ort des Überlebenskampfes unzähliger Geflüchteter, in struktureller Analogie dazu ein Tigerkäfig samt einer Schauspielerin, die sich fressen lassen will, und dazwischen eine Staatstechnokratie, die sich zu einem potentiell rechtsdurchbrechenden Rettungsflug, und ein Publikum, das sich zu dem gesamten Schauspiel verhalten muss – die komplexe Inszenierung kehrte die gesellschaftlichen Spannungsmomente der Gegenwart hervor und wurde zugleich von ihnen getragen. An ihrem Ende stand aber kein Akt, der diese Spannungen zum Bersten gebracht und die gesellschaftliche Wirklichkeit verändert hätte, sondern vielmehr eine Abwicklung in letztlich doch zu erwartenden Bahnen. Der deutsche Staat brachte die Betreibergesellschaft des gecharterten Fluges dazu, von ihrem Vertrag mit dem ZPS zurückzutreten. Und das ZPS brachte daraufhin die Aufführung zu einem Ende im Sinne der Kunst: Am Gorki-Theater verlas May Skaf einen „Brief der Tiger an die menschliche Bevölkerung“, in dem den Tieren unterstellt wurde, sich nicht an der menschlichen Logik des Tötens beteiligen zu wollen. Die Tiger sagten also den Freitod ab und forderten stattdessen das Publikum auf, sich des Problems anzunehmen. Doch wie die Politik, die in ihrer technokratischen Effizienz die unmenschliche Rechtsordnung aufrecht erhielt, und die Kunst, die ihre Aufführungen zu einem politisch ungefährlichen Ende brachte, blieben auch die Zuschauer ihrer Handlungslogik treu und sprangen nicht in den Käfig, um sich an May Skafs Statt fressen zu lassen, sie formten auch kein neues aktivistisches Kollektiv, sondern sie betrachteten die Abwicklung des Schauspiels nachdenklich und gingen anschließend nach Hause.

 

Deutschland, post-Flüchtlingskrise

Ein Gesellschaftsstück war „Flüchtlinge fressen“, weil darin repräsentative Politik und politischer Aktivismus, Zynismus und Moral, Zuschauen und Tat auf eine Weise in Beziehung gesetzt wurden, die mehr über die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart verrät, als sich zunächst erahnen lässt. Was sich zumindest umstandslos erahnen lässt, ist, dass es sich bei dieser gesellschaftlichen Realität um eine post-Krisen-Konstellation handelt. Deren Vorgeschichte ab dem Sommer 2015 kann als eine Krise, als eine zur Entscheidung drängende Situation harter Alternativen, verstanden werden, weil sich darin die Flüchtlingspolitik von einem Randthema zu einem die deutsche Gesellschaft strukturierenden Moment gewandelt hat. Den ankommenden Geflüchteten widerfuhr genauso die tatgewordene Solidarität der unzähligen Freiwilligen, auf die sie an den Grenzübergängen, in den Notunterkünften und den Asylbewerberheimen trafen, wie sich auf sie die Angst, der Hass und die Minderwertigkeitskomplexe all der Frustrierten, Zurückgelassenen und Ewiggestrigen kaprizierte – zunächst noch indirekt, im Internet und bei Demonstrationen, aber bald schon mit Tötungsabsicht, als rassistische Gewaltwelle.

Es muss als erster Schritt in die dauerschwelende Nach-Krise angesehen werden, dass dieser gesellschaftliche Grundkonflikt, vereinfacht gesprochen: internationalistische Solidarität oder nationalistische Abschottung, von der repräsentativen Politik im Verbund mit den Massenmedien schnell auf den Gegensatz zwischen Merkels optimistischem Moralismus der helfenden Hand und Seehofers pessimistischen Realismus der Kapazitätsgrenzen reduziert wurde. Obwohl Merkel schon im Juli 2015 bei einer Bürgersprechstunden, als sie einem schluchzenden libanesischen Flüchtlingskind, das seine Abschiebung fürchtete, zunächst ins Gesicht sagte, dass nicht jeder in Deutschland bleiben könne, um es dann noch ungelenk zu tätscheln, die Gesamtsituation treffend dargestellt hatte, blieb dann aber doch nur ihr „Wir schaffen das“ im politischen-medialen Gedächtnis. Das eigentliche Drama daran ist, dass Merkel mit ihrem dürren Moralismus tatsächlich zur Repräsentantin des vielgestaltigen Lagers internationalistischer Solidarität aufstieg – auch, weil diesem ein einendes Bewusstsein für den politischen Gehalt seiner Handlungen fehlte. Demgegenüber hob auf der Gegenseite mit der erstarkenden AfD und der Pegida-Bewegung ein völkisch-rassistischer Kanon an, der nicht nur Seehofer-CSU zu immer neuen Eskalationen veranlasste und die Grenzen des öffentlich Sagbaren allmählich verschob, sondern vor allem auf bürokratischem Wegen Eingang in das Staatshandelns fand – Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, Massenabschiebungen, usw. usw.

Die Konstellation der post-Flüchtlingskrisen, die sich mit dem EU-Türkei-Deal vollends manifestiert hat, zeichnet sich also durch eine sterilisierte Debatte in der Öffentlichkeit aus, in der sich Moralismus und Realismus bewegungslos gegenüberstehen, während auf technokratischen Wege fortwährend eine neue politische Wirklichkeit im Sinne der zweiten Position geschaffen wird. Dass nun immer wieder Nachrichten kursieren, wonach türkische Soldaten an der Grenze zu Syrien bisweilen Flüchtlinge erschießen und somit eine Forderung der AfD nach Schutz der deutschen Grenzen mit Waffengewalt, über die in der Krise noch große Empörung herrschte, mittelbar zur deutschen Regierungspolitik geworden ist, stört im post-Flüchtlingskrisen-Deutschland aber kaum mehr jemanden. Es scheint fast, als wären alle politischen Kräfte dankbar über die Verschnaufpause, die der Deal mit Erdogan gewährt.

 

(Un-)Zeitgemäße Kritik

An diesen Zuständen lässt sich natürlich öffentlich Kritik üben. Das Beispiel der radikalen Linken zeigt aber, dass nicht jede Form der Kritik in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation gleichermaßen Gehör findet. Wo massenhafte Abschiebungen zur Normalität geworden sind und aufgrund der schieren Anzahl mit den etablierten Strategien nicht mehr verhindert werden können, ist „Bleiberecht für alle“ ein hohler Slogan. Wo Hunderte Flüchtlingsunterkünfte aus dem Boden schießen, ist die Erkämpfung einzelner Freiräume allenfalls noch eine Fußnote der infrastrukturellen Umwälzung. Militante Aktionen von Geflüchteten selbst, wie Besetzungen oder Hungerstreiks, können vielleicht einen zeitweiligen Aufenthaltstitel für die kämpfenden Individuen mit sich bringen, gesellschaftliche Kämpfe im eigentlichen Sinne, also Politik eines Kollektivs jenseits persönlicher Betroffenheit, sind sie aber nicht. In dem Rahmen, den die normalisierte Abschottungspolitik vorgibt, praktiziert die radikale Linke zwischen Hamburg und Lesbos zwar täglich internationalistische Solidarität, als effektive Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen existiert sie im post-Flüchtlingskrisen-Deutschland aber eigentlich nicht mehr.

Im Gegensatz dazu gelingt es dem ZPS mit seinen Aktionen, eine Form der Kritik zu artikulieren, die verfängt, die mediale Aufmerksamkeit generiert und nicht unter den bekannten Rubriken verbucht werden kann. Egal ob Grenzzäune in Bulgarien mit Bolzenschneidern angegriffen oder Gräber für die Mittelmeertoten direkt vor dem Bundestag ausgehoben wurden – stets gelang es dem ZPS, ein vielschichtigeres und vor allen Dingen kräftigeres Echo zu erzeugen, als es für jegliche no border-Demonstration der radikalen Linken auch nur denkbar wäre.

Es wäre aber wohl ein Missverständnis, wenn man die Effektivität dieser Skandalisierungen der europäisch-deutsche Untätigkeit im Angesicht der humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer als kontingenten Erfolg eines kreativen Aufschreckens der narkotisierten Öffentlichkeit lesen würde. Anhand von „Flüchtlinge fressen“ kann man vielmehr nachvollziehen, dass sich diese Effektivität wohl eher aus einer eigentümlichen Resonanz der Inszenierung mit der deutschen Gegenwart speist, und zwar Resonanz verstanden als ein sich verstärkendes Miteinander-Schwingen. Die Kritik des ZPS fügt sich nahtlos in das politische Spiel der post-Flüchtlingskrise ein, indem sie sich gänzlich auf die Seite des Moralismus schlägt und ihn bis zur letzten Konsequenz durchdekliniert. Die Tiger-Arena wies die Wirklichkeit als moralischen Skandal aus, machte das unbeteiligte Beobachten des Massensterbens im Mittelmeer selbst durch eine strukturelle Analogie sichtbar, ohne aber autonomen Kriterien der Kritik an diese Wirklichkeit anzulegen oder gar eine politische Handlung zu vollziehen, die tatsächliche eine andere Wirklichkeit herbeiführen könnte.

Kunst muss nicht politisch sein. Und in der Tat sind die Aktionen des ZPS in einem strengeren Sinn nicht politisch, sondern nur Vortäuschung eines politischen Anspruches, der letzten Endes Moralismus im Gewande der Kunst bleibt. Die Selbstdeklaration als Kunst stellt die Durchführbarkeit der Aktion, ihre Rezeption in den Medien und ihre Anschlussfähigkeit an den politischen Betrieb genauso sicher, wie sie für ihre Folgenlosigkeit bürgt. „Flüchtlinge fressen“ verdeutlichte dies auf eindrückliche Weise: Käfig, Ankündigung des Freitods und anberaumter Rettungsflug wurden als Teil einer Kunstaktion ausgewiesen, wodurch – so zumindest die Hoffnung – keine rechtlichen Konsequenzen für die Ausführenden zu befürchten waren.

Mit alldem kam die Aktion natürlich in größtmögliche Nähe zu einer politischen Tat, zu einer Herausforderung des herrschenden Rechtssystems. Letzten Endes blieb es aber dann doch bei deren bloßer Andeutung. Dass die Staatsbürokratie den Rettungsflug verhinderte, machte zum einen deutlich, dass die Zuspitzung der Gemengelage zu einer fingierten Entscheidungsfrage über Moral und Zynismus – Leben retten oder untätig zusehen – wahrscheinlich nie das Problem traf. Das Problem ist nicht der Zuschauer, dem seine eigentliche Moral nicht mehr erinnerlich ist, sondern eine gezielte und strategisch durchgeführte Politik. Eine Kunst, die sich in der oberflächlichen Konfrontation mit der Technokratie zuvorderst ihrer eigenen moralischen Überlegenheit vergewissert, trifft das Problem nicht, sondern reproduziert nur jenen sterilen Konflikt, der die Öffentlichkeit ohnehin schon prägt. Und zum anderen war es sogar das Eingreifen der Staatsbürokratie, dem die Kunst die Möglichkeit verdankte, die Aktion in ihrem eigenen Sinne zum Ende zu bringen, mit dem Flug auch den tatsächlichen Überlebenskampf in der Arena abzusagen und stattdessen eine Brief der Tiger an die Menschheit zu verlesen. Das erwartbare Handeln der Technokratie ist in dieser Form der Kritik bereits eingepreist und notwendiger Bestandteil der Inszenierung.

 

Bürgerlichkeit und Widerstand

Eine Kritik des Staates unter moralischen Gesichtspunkten, die seit der Aufklärung das Gebot der Stunde ist, bleibt daher eine zutiefst bürgerliche Strategie, die sich in das Gegebene einschmiegt, anstatt Fragen zu stellen, die dieses Gegebene unterwandern könnten – was etwa der Fall wäre, wenn Flucht und Vertreibung als Frage der globalen Politischen Ökonomie verhandelt werden würden. Wie Cesy Leonard, eine Protagonistin des Zentrums, bekräftigt, sei sie aber weder links noch Aktivistin. Die Zentrummitglieder sähen sich vielmehr alle „als Humanisten.“

Wahrscheinlich ist eine solche Selbstpositionierung heute unerlässlich, um Gehör in der Öffentlichkeit zu finden. Sie nimmt die Kategorien dankbar an, die ihr die aufgeklärte Politik bietet, verzichtet auf Begrifflichkeiten, die Herrschaftsverhältnisse klären könnte, und übersetzt gesellschaftliche Konflikte in Fragen von Moral und Schuld. Als polemisch-humanistische Aktionskunst enthebt sie diese Kritikform aber dann doch der Notwendigkeit, politische Konsequenzen haben zu müssen, und entspricht damit wiederum der Virtualität ihrer moralistischen Ausgangsposition. In dieser Form ist sie die zeitgemäßeste Gesellschaftskritik. Konkurrenz machen ihr nur die gleichfalls polemischen Pseudo-Systemgegner von Pegida und AfD, auf deren Spaziergängen, Demonstrationszügen und Facebook-Seiten sich jetzt sogar der deutsche Kleinbürger endlich einmal im aktiven Widerstand gegen eine Diktatur wähnen kann, obwohl er doch nur wieder seinen tiefsitzenden Rassismus herausbrüllt und einen stärkeren Staat ersehnt.

Bei aller Polemik gegen den Staat bleibt dieser für das ZPS doch der Adressat seiner moralischen Apelle. Darüber hinaus mussten seine Vertreter sogar als Interpreten für die gesamte Aktion herhalten. Im Rahmen von „Flüchtlinge fressen“ veranstaltete das Zentrum einen „Salon zur letzten Schönheit“, in dem regelmäßig Intellektuelle, Politiker, Literaten und andere Denker dazu aufgefordert wurden das Geschehen auszudeuten. Bei der letzten Veranstaltung traf dort Philipp Ruch, Chefunterhändler des Zentrums, und, als Autor des politischen Manifests Wenn nicht wir, wer dann? auch dessen Cheftheoretiker, auf Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, mittlerweile aber vor allem als streitlustiger ZEIT-Kolumnist allseits bekannt. (Hier ist das Gespräch nachzuhören.)

Ruch, der in seiner vom Feuilleton fast einhellig als antimodernistischem Pamphlet verunglimpften Schrift die Idee eines moralisch schönen, heroischen Menschen gegen deren Verächter aus Wissenschaft und Technik verteidigt, versuchte in dem Gespräch dem unorthodoxen Staatsbediensteten Fischer eine juristische Rechtfertigung für den angekündigten Rettungsflug zu entlocken. Fischer bekundete zwar als Privatmann seine Sympathie für das Vorhaben, aber riet davon ab Verfassungsorgane zu nötigen, weil dies strafbar sei – und im Übrigen wäre die Abschottungspolitik auch durch Mehrheiten gedeckt. Eine Situation, in der die rechtliche Ordnung der Bundesrepublik gefährdet und somit ein Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes geben sei, wollte Fischer ebenfalls nicht erkennen. Zum Abschluss der Aktion aber, als das Innenministerium den Flug schon verhindert hatte, stellte Ruch dann noch eine künftige Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Aussicht – und trieb damit die Widersprüche seiner Kunstform auf die Spitze, die sich nicht entscheiden kann, ob sie Teil oder Gegner des Staatstheaters ist.

Eine neue Gemeinschaft?

Im Gespräch mit Thomas Fischer meldete sich dann aber noch Yasser Almaamoon zu Wort, ein weiterer Mitarbeiter des Zentrums, der vor drei Jahren als syrischer Kriegsflüchtling nach Deutschland gekommen war. Er hasse alle deutschen Ämter und liebe dafür die Menschen in Deutschland umso mehr, so Almaamoon, er frage sich jedoch, wann all die geflüchteten Neuankömmlinge endlich als Teil der Gesellschaft akzeptiert würden, wie also die Teilung in ein „wir“ und „die Flüchtlinge“ überwunden werden könne.

Unabhängig von der kruden Antwort des Staatsdiener Fischers – bei aller Sympathie könne eine sofortige Integration nur durch einen Diktator (er sagte tatsächlich: wie Assad) verwirklicht werden – kehrte die Frage selbst die tatsächlich Problematik der Krise hervor, die auch schon Christoph Menke jüngst im Merkur beschrieben hat: Wie lässt sich, jenseits der vermeintlichen Alternativen des moralischen Imperativs der Offenheit und des territorialen Imperativs der Abschottung, Gemeinschaft so neu leben, dass sie alle Individuen als soziale Anteile umfasst?

Diese Problematik hatte sich fortwährend um die Aktion „Flüchtlinge fressen“ zusammengeballt, ohne dass sie aber in deren Inszenierungsweise reflektiert worden wäre. Im Zuge der zwei Wochen hatte sich nämlich immer wieder eine vielfältige, vornehmlich aus jungen Menschen bestehende Menge am Gorki-Theater zusammengefunden, die geradezu darauf zu warten schien, Teil einer den status quo aufbrechenden Aktion und damit auch selbst zu einer politischen Gemeinschaft zu werden. Als die Inszenierung schließlich ihrem Ende zuging, wurde klar, dass sich die moralisierende Kritik zwar den Staat als ihren Hauptadressaten auserkoren hat, ihr einzig effektiver Ansatzpunkt jedoch nur das vereinzelte, betrachtenden Individuum sein kann. Die ergreifende, aber nichtsdestoweniger von einer Schauspielerin vorgetragene Rede forderte die Anwesenden zum Handeln auf, Ruch sprach anschließend sogar noch davon, die historische Ungerechtigkeit, die durch das Beförderungsverbot und das gesamte europäische Asylrechtsregime tagtäglich begangen werde, in das Gewissen des Publikums einbrennen zu wollen. Anstatt dieser bunten Ansammlung von Menschen, von denen viele ohnehin schon im humanitären Kampf gegen das Leid der Geflüchteten aktiv sind, einen Hinweis zu geben, wie sie sich dieses Problems annehmen sollten, hatte die moralisierenden Kritik nur eine weitere Beschwerung ihres Gewissens zu bieten. Doch auch darin blieb die Inszenierung von „Flüchtlinge fressen“ symptomatisch für das post-Flüchtlingskrisen-Deutschland: Sie brachte Menschen im Namen der Flüchtlingspolitik zusammen, aber wusste selbst nicht, dass sie ein Antwort auf die Frage geben müsste, wie es unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich wäre, eine neue Gemeinschaft zu schaffen.

Georg Simmerl promoviert am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin zur Diskursgeschichte transnationaler Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit.