Der Lappen muss keineswegs um jeden Preis hoch …

.Eröffnungsstatement zum Kongress „Vorsicht Volksbühne“, 15. Juni 2018

… zumindest nicht, wenn Theater mehr sein soll als Dienstleistung. Dafür stand die Volksbühne. Um deren Zukunft zu verhandeln, bedarf es jetzt der offenen Auseinandersetzung über ihr ästhetisches Profil, ihre Bedeutung und auch ihren Stellenwert in der Neuausrichtung derzeitiger Kultur- und Stadtpolitik. Grundfragen sind, wer an dieser Auseinandersetzung überhaupt beteiligt wird und inwiefern sie an die realen Entscheidungsprozesse gekoppelt ist: Wer spricht? Wer entscheidet?

Meine Zusage zu dieser Veranstaltung ist nicht der Anmaßung geschuldet, im Namen von 40.000 Leuten zu sprechen, die ich gar nicht kenne. Vielmehr scheint es mir in Absprache mit einigen, die die Petition mit initiiert haben, notwendig, Transparenz und eine öffentlich moderierte Beratung der Politik einzufordern. Und das gilt auch und gerade für die jetzige Übergangsphase. Mir ist durchaus klar, wie schwierig die momentane Situation für alle Beteiligten ist. Dieser Kongress mit Statements und Podiumsdiskussionen mag daher als Stimmungstest für die Politik dienen. Aber was er nicht ersetzen kann, ist eine nachhaltige, für alle Akteurinnen und Akteure offene, prozessuale Entscheidungsfindung. Ohne die Einberufung einer gänzlich anders ausgerichteten Beratungskommission bleibt es bei einer Alibiveranstaltung, die eher zur Entpolitisierung des Konflikts als zu einer tragfähigen Lösung beiträgt.

Natürlich ist es toll, dass Leute aus den Gewerken eingeladen wurden und auch von Staub zu Glitzer, die an der inzwischen vom Staatsschutz kriminalisierten Besetzungsinszenierung im September letzten Jahres beteiligt waren. Denn die einen müssen sinnvollerweise in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, die anderen haben die Frage, für wen diese Stadt und damit auch diese Bühne eigentlich da sein soll, performativ gestellt. Dass nun diejenigen aus dem alten Westen fehlen, die für die komplette Missachtung künstlerischer Arbeit und lokaler Strukturen verantwortlich sind, namentlich der Regierende Bürgermeister, war ohnehin erwartbar. Dass aber auch sämtliche betroffenen Künstlerinnen und Künstler abgewinkt haben, ist symptomatisch; denn zum einen fühlen sich viele in der jetzigen Situation übergangen, zum anderen profilieren Einladungspolitik und Format dieses Kongresses vor allem bislang weitgehend unbeteiligte Akteure.

Der Protest gegen die Zerstörung der Volksbühne wurde nicht vom Deutschen Bühnenverein getragen, sondern von der Stadtgesellschaft, vom Publikum – von Leuten, denen es um spezifische Produktionsprozesse und Ästhetiken geht, und von jenen, die sich dagegen wehren, dass ihre Stadt (völlig egal, woher sie ursprünglich kommen) ausverkauft wird. Diesen synergetischen Impuls im Streit um die Volksbühne mitzunehmen, wäre die Chance für eine Kulturpolitik, die sich dem Vorwurf postdemokratischer Hinterzimmerentscheidungen stellt und die Öffentlichkeit anders einbindet. Es ginge also um eine Politik, die in anderen Formaten und mit mehr Zeit die Voraussetzungen für einen ergebnisoffenen Prozess schafft – und zwar bevor weitere zentrale Entscheidungen getroffen werden. Und vielleicht wäre es ja zudem an der Zeit, sich vonseiten der Politik bei den betroffenen Künstlerinnen und Künstlern zu entschuldigen.

Mein Job hingegen ist es auch, die Forderungen der Petition selbstkritisch zu hinterfragen. Diese sollte in der vergangenen Spielzeit eine letzte Geste sein, um dem Desaster der Politik etwas entgegenzusetzen, ohne diese zur Entscheidungsinstanz in ästhetischen Fragen zu machen. Daher lag der Fokus auf Schauspiel, Ensemble und Repertoire als bisheriger Kernbestimmung der Volksbühne. Allerdings ging es darum, mit Blick auf diese Spielstätte produktionsorientierte, kollektive Arbeitsprozesse und ein nachhaltiges Experimentieren mit szenischen Formen zu verteidigen, die nicht einfach unsere Sehgewohnheiten bedienen. Es ging um die Auseinandersetzung mit konkreten Raumbedingungen, darum, die Spieler als eigenständige und kollektiv agierende Künstlerinnen und Künstler einzubeziehen und durch die Form hindurch die Frage nach dem gesellschaftlichen Reflexionspotenzial von Theater beziehungsweise nach dessen Relation zur Öffentlichkeit zu stellen. Nun aber kann die zunächst strategisch notwendige Forderung nach Schauspiel, Ensemble, Repertoire potenziell der bloßen Legitimation des Betriebs dienen.

Wie sich der Presse entnehmen ließ, wurde bereits über die kommissarische Intendanz bis 2020, Neueinstellungen und Gastspiele entschieden. Gerade angesichts bereits abgeschlossener Verträge für anstehende Gastspiele wüsste ich gerne, ob die genannten Namen als Notprogramm oder als neues Profil der Volksbühne gedacht sind, die sich dann vom BE, vom DT oder der Schaubühne nicht weiter unterscheiden würde. Und zudem wüsste ich gern, ob die Spielerinnen und Spieler, die von der alten Volksbühne durch deren Reprofilierung verdrängt wurden, überhaupt gefragt werden, ob sie wieder dort spielen wollen. Anstelle der erwarteten temporären Wiederaufnahmen von Produktionen nämlich, die für die Volksbühne und ihren spezifischen Bühnenraum erarbeitet wurden, soll beispielsweise eine gerade von der ARD in einem flankierenden Fernsehspiel promotete Passepartout-Produktion gezeigt werden. Es handelt sich um eine auf Verkäuflichkeit und Marktförmigkeit angelegte Inszenierung, die bereits getingelt ist und die ein entsprechendes Erfolgsrezept hat: politischer Aufmerksamkeitstrigger, leicht finanzierbares Solo, kommensurables Schauspiel, transportables Bühnenbild. In ihrer Betriebsmäßigkeit scheint mir eine solche Bespielung der Volksbühne um einiges weiter von deren bisherigem ästhetischen Profil entfernt zu sein als die Experimente mit einem posthumanen Konzepttheater in der letzten Spielzeit.

Um nun eine kritische Reflexion über Form und Funktion der Volksbühne, über Modelle, Strukturen, ästhetische Formen, und eine offene Diskussion hinsichtlich anstehender künstlerische Setzungen sicherzustellen, bedarf es keiner Alleinentscheider aus dem Feld der Politik oder der Geschäftsführung und auch keiner Findungskommission, die dank einer vorher bestimmten, einfach am Stadttheaterbetrieb orientierten Zusammensetzung erwartbare Ergebnisse produzieren würde. Wir brauchen stattdessen ein wirkliches Nachdenken über eine neue Volksbühne. Deshalb schlage ich erstens mehr Zeit für die zukünftige Intendanzentscheidung und zweitens die umgehende und überfällige Konstitution einer Art Beratungsgremium vor. Dieses soll maßgeblich auch Positionen berücksichtigen, die heute – neben den betroffenen Künstlerinnen und Künstlern – weitgehend fehlen: an der Auseinandersetzung längst beteiligte Intellektuelle oder Theaterwissenschaftler*innen, die Berliner Freie Szene, die die aus den Fugen geratene kulturpolitische Konstellation tangiert, unterschiedliche Sparten wie etwa den Tanz sowie Stadtsoziolog*innen und Aktivist*innen, die die Umgestaltung einer neuen Berliner Mitte und die Aftereffekte megalomanischer Dachmarkenkonzepte kritisch reflektieren. Unter Berücksichtigung der Mitarbeitenden an der Volksbühne soll diese Beratungsgruppe in den nächsten zwei Jahren ergebnisoffen einen Profilvorschlag erarbeiten und in vier Feldern arbeitsteilig tätig werden. Es geht also um eine Art 4-Punkte-Plan für einander ergänzende Arbeitsgruppen:

  1. Theaterrecherche (Bestandsaufnahme): Welche künstlerischen Arbeiten gibt es, mit denen sich an der Volksbühne eine Setzung vornehmen und ein eigenständiges Profil bilden ließe – und zwar auch jenseits des deutschen Horizonts, um Internationalität neu und anders als unter der Maßgabe von Citymarketing zu bestimmen?
  2. Ästhetik (Reflexion): Welche zeitgemäßen Formate stehen in der Tradition der Volksbühne und berücksichtigen ihre spezifische Struktur als Produktionshaus? Wie ließen sich nicht einfach „widerständige Stoffe“ (Klaus Dörr), sondern widerständige Formen auf der Höhe der Zeit bestimmen?
  3. Organisation: Wie könnte eine Volksbühne der 2020er institutionell aussehen? Wie ließe sich Intendanz jenseits großer Namen und überkommener Top-Down-Strukturen denken? Wie bestimmt man das Profil der einzelnen Volksbühnen-Spielstätten und entsprechende Zuständigkeiten? Welche spezifische Rolle könnten etwa der Prater, der Pavillon oder der grüne Salon neben der großen Bühne spielen?
  4. Politisches: Wie ließe sich ein eigenständiges, parallel laufendes Kongress- und Diskursprogramm konzipieren, in dem Aktivist*innen und Soziolog*innen städtische, gesellschaftliche Belange in einem eigenen Raum verhandelbar machen? Wie ließe sich die Volksbühne auch zu einem Aushandlungsort politischer Fragen machen – und zwar jenseits der Setzung von Spielplanthemen?

Die aus diesen vier Arbeitsgruppen bestehende Beratungskommission könnte die perspektivische Übergabe der Volksbühnenleitung und die zukünftige Profilbildung reflektieren, moderieren und vorbereiten und bereits jetzt zu interimistischen Programmentscheidungen beitragen.

Bei meinem Vorschlag geht es um die Volksbühne als ganz konkretes Theater mit seiner Riesenbühne, seiner Relation zu einem zunehmend den Marktbedingungen unterworfenen und zugleich umkämpften öffentlichen Raum, zu politischen Auseinandersetzungen vor Ort und zu einem seit den frühen 1990er Jahren gewachsenen, ästhetisch und politisch interessierten Publikum. Wenn wir heute tatsächlich an die Bedeutung und Geschichte der Volksbühne anknüpfen wollen, dann brauchen wir kein Theater der Funktionäre, sondern eines, das dazu beiträgt, nachzufragen, wem unsere Stadt gehört und was die Institution Theater – als Darstellungs- und sozialer Raum – jenseits der Bespaßung der bürgerlichen Mitte sein könnte.

Evelyn Annuß ist Theaterwissenschaftlerin und war die Initiatorin der Petition „Zukunft der Volksbühne neu verhandeln“, die mit mehr als 40.000 Unterschriften einiges Aufsehen erregt hat.