Lob des Laien

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I

Im Zentrum dessen, was sich im Internet-Zeitalter zu einem waschechten Kulturkampf ausgeweitet hat, steht das Verhältnis von Laien- und Expertentum. Der FDP-Chef Christian Lindner bescheidet ungeduldige Jugendliche mit dem Hinweis, sie mögen die Durchführung klimarettender Maßnahmen mal lieber den Fachleuten überlassen und erntet dafür überwiegend Kritik. Der Journalismus fühlt sich aus nicht von der Hand zu weisenden Gründen durch Freizeitschreiber*innen bedroht, die in Weblogs, Tweets und Facebook-Einträgen die Information ihrer Mitmenschen übernommen haben. Jeder nur denkbare Interessens- und Kenntnisbereich wird in den sozialen Medien inzwischen von allen möglichen Leuten kommentiert, die niemals ihre Qualifikation dafür unter Beweis stellen mussten. Und dabei geht es häufig hart zur Sache: Offenbar neigt eine Kommunikation, die nicht face to face abläuft, zu sehr schneller Eskalation, eines der Resultate besteht in der berüchtigten hate speech. Sie haben den einstmals mit utopisch-demokratischen Hoffnungen belegten virtuellen Raum des WWW in den Augen mancher Skeptiker in eine kommunikative Jauchegrube verwandelt.

II

Aber es ist wie immer: Alles hat seine zwei Seiten, im übrigen ja auch auf Facebook und Twitter. Laien können ganz anders, ja sie können sogar zu einem wertvollen Bestandteil wissenschaftlicher Forschung werden. Dazu qualifiziert sie zweierlei: Erstens die große Anzahl von ihnen, über die man bei geschickter Organisation verfügen kann, und zweitens ihre Anwesenheit an den unterschiedlichsten Orten, was insbesondere bei den empirisch-beschreibenden Wissenschaften von Wert ist. So werden Laien in sogenannten crowdsourcing-Portalen im Internet zu Helfern bei der Klassifizierung von Galaxien („galaxy zoo“) oder machen medizinisch relevante Vorschläge für die Faltung von Proteinen („foldit“). Manchmal aber transkribieren sie auch einfach nur schwer entzifferbare Handschriften (eine Domäne der Älteren, die noch Sütterlin gelernt haben), obwohl dies zunehmend von Computern selber übernommen werden kann. Das Stichwort für diese wachsende Macht der Rechner, menschliche Einsichtsfähigkeit zu ersetzen, ist natürlich „Künstliche Intelligenz“. Selbst die Kunstgeschichte, die zwar nicht unbedingt durch die Komplexität ihres Forschungsgegenstandes, aber doch sehr wohl durch die Exquisitheit (und den Preis) ihrer Objekte von sich reden macht, kann produktiv auf Laienwissen zurückgreifen.

III

Was hier abläuft, ist erkenntnistheoretisch durchaus aufregend. Bei artigo etwa, einer crowdsourcing-Plattform zur Beschlagwortung von Kunstwerken, sind inzwischen mehr als 10 Millionen Annotationen eingegeben worden.  Nicht dass diese so sonderlich tiefschürfend wären oder kunsthistorisches Expertenwissen ersetzen könnten. „Rot“, „Musiker“, „Leuchter“, „Mann“, „Querflöte“, „Piano“, „Sofa“ wird bei einem Bild wie Adolph Menzels „Flötenkonzert“ getagged. Aber es muss etwas mit Emergenz zu tun haben, wenn die Kombination solcher Begriffe zu Ergebnissen führt, die weit über die schlichte Summierung der Teile hinausgehen und z.B. häufig eine ziemlich unmittelbare Einsicht in die Stilstufe des beschriebenen Kunstwerkes erlauben. Ja, eventuell ist es sogar so, dass die Zusammenschau der Begriffe erkenntnisreicher ist als der einzelne Begriff, ist doch z.B. sehr die Frage, ob die Piano-Annotation eine musikhistorisch präzise Beschreibung des bei Menzel gemalten  Instruments darstellt. Aber auch damit ist das Ende der Fahnenstange längst nicht erreicht. Mit einer Software, die die vergebenen Begriffe in gerichtete Vektoren umrechnet, können Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerken bestimmt werden. Eine einzige will ich hier kurz beschreiben und damit meine Behauptung von der aufregenden erkenntnistheoretischen Dimension der Verfahrensweise zu belegen versuchen. Jacques Louis Davids berühmter “Tod des Marat” aus dem Jahr 1793, eine Ikone der Kunst der Französischen Revolution, hat in artigo 223 individuelle Annotationen erhalten. Ein Vektor-basierter Vergleich dieser tags, der auf unterschiedlichen mathematischen Grundlagen durchgeführt werden kann,  zeigt die Werke, die dem Bild am ähnlichsten sind. Auf der Basis von Suchwortdichte und Entropie, zwei mathematisch definierten Messverfahren, zeigt sich an der Spitze mit 87 Prozent Ähnlichkeit das gleiche Bild, aber in einer anderen Reproduktion. Das wird nicht verwundern, ist aber in der Anwendung, z.B. für die Organisation von Bilddatenbanken, durchaus lukrativ. Interessanter dann die folgenden Werke: Das nächstähnliche ist eine konkurrierende Marat-Repräsentation von Joseph Roques, deren Ähnlichkeitsstatus nicht nur über den auch dort vergebenen Namen des Marat erstellt wird, sondern über die statistisch ausgewertete Kombination aller Annotationen. Das daraufhin folgende “Bildnis eines Schriftstellers” kann dann einen Hinweis auf die Bedeutungssphäre von Davids Marat liefern, der ja als radikaler Revolutionär das Volk mittels seiner Schriften aufpeitschte. Das Gleiche gilt für manches Weitere, was hier in der Ähnlichkeitsfolge zu sehen ist. Immerhin könnte Francisco Goyas „Gaspar Melchor de Jovellanos“ die Affinität zweier vereinsamter, aber revolutionär gesinnter Menschenfreunde andeuten, Gustave Courbets „Verwundeter“ auf die Opferbereitschaft des Intellektuellen verweisen und Artemisia Gentileschis “Judith tötet Holfernes” einen ikonographischen Resonanzraum bezeichnen, auf den sich auch Davids Bild bezieht. Alle drei genannten Autor*innen tauchen in der Liste der ähnlichsten Werke auf. Die meisten von ihnen liegen in historischer Nähe zu David, aber – siehe Artemisia Gentileschi – eben auch nicht alle. Gerade deren Judith-Bild aber verweist auf die ikonographische Tradition des Davidschen Marat, der ja ebenfalls von einer Frau umgebracht wurde. Eine allzu enge Orientierung am revolutionären Gegenstand selber hätte diesen Bezug wohl erst einmal übersehen.

IV

Das, was die Laienphantasie hier liefert, erweist sich gerade deswegen als wertvoll, weil sie ihren  Gegenstand nur umschreibend und nicht benennend aufspießt, weil sie Assoziationen liefert und nicht kunsthistorische Fakten. Weil sie, pointiert gesagt, vom Objekt wenig Ahnung hat und dafür umso unbeschwerter hinsieht. Anstatt – wie es der Experte wohl machen würde – von vorneherein einen engen Möglichkeitsraum der Vergleichbarkeit aufzuzeigen, der ikonographisch und/oder chronologisch eng beieinander läge, sehen das Laien unverkrampfter und finden lockerere Bezüge. Das ähnelt den „weak ties“, die Nick Granovetter in einem berühmt gewordenen Artikel für die informationstheoretisch wichtigeren gehalten hat, diese aber auf die Netzwerke von Personen bezog. [1. Nick Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78/6 (Mai 1973), 1360-1380]

Metaphorisch beschrieben, nähert sich der Laie seinem Gegenstand distanziert, der Experte fokussiert, der Laie unverkrampft, der Kenner präzisionsgeleitet. Dieser idealtypische Gegensatz spielt in der Hirnforschung dort eine Rolle, wo von primärem und sekundärem Bewusstsein die Rede ist. Primär ist der onto- und phylogenetisch frühe Zustand von „Wilden“ und Kindern, deren Bewusstsein von hoher Entropie bestimmt ist, bei der Problemfokussierung weniger stark, dafür bei der Phantasieentwicklung umso potenter ist. [2. Robin L. Carhart-Harris u.a.: The entropic brain: a theory of conscious states informed by neuroimaging research with psychedelic drugs, in: Frontiers in Human Neuroscience, 8 (2014), S. 1-22] Die Kognitionspsychologin Alison Gopnik formuliert das so: „Ähnelt die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen einem Scheinwerfer, so erinnert sie beim Baby eher an eine Rundumleuchte. Anstatt einen ganz bestimmten Aspekt ihrer Welt zu erfahren und alles Weitere auszublenden, scheinen Babys alles ganz intensiv auf einmal wahrzunehmen.“ [3. Alison Gopnik: Kleine Philosophen. Was wir von unseren Kindern über Liebe, Wahrheit und den Sinn des Lebens lernen können. Berlin: Ullstein 2010 (zuerst 2009), S. 50] Dem noch nicht so sehr den Notwendigkeiten des Alltags verpflichteten Gehirn des modernen Erwachsenen, das schnell eindeutige Entscheidungen treffen muss, steht das weniger entwickelte Hirn des Frühmenschen und des Kindes gegenüber, das in Dingen Zusammenhänge sieht, die über das Antrainierte hinausgehen. Was ist das anderes, als das Angebot des Ähnlichkeiten berechnenden Computers, der dort Zusammenhänge entdeckt, wo sie sich das auf das Gängige fokussierte Bewusstsein des Erwachsenen nicht erwartet?

V

Besonders interessante Beobachtungen für unseren Gegenstand haben sich in der Hirnforschung dort ergeben, wo diese die Wirkungen bewusstseinserweiternder Drogen erforscht. [4. Vgl. zum Folgenden Michael Pollan: Verändere dein Bewusstsein: Was uns die neue Psychedelik-Forschung über Sucht, Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt. Frankfurt: Antje Kunstmann 2019, vor allem S. xx] Dazu gehören vor allem das LSD und das Psylocybin, welches als psychotroper Wirkstoff in den berühmten „magic mushrooms“ enthalten ist. Beide Drogen bewirken eine Steigerung der Entropie im Gehirn, was hier positiv zu verstehen ist, weil es neue Kombinationsmöglichkeiten erlaubt, wie sie in den computergesteuerten Ähnlichkeitsanalysen ebenfalls vorliegen. Beide reduzieren die Ich-Steuerung im Gehirn und lösen den Tunnelblick auf, der die Problemlösungskompetenz im Alltagsleben überhaupt erst ermöglicht, aber schöpferische Leistungen, welche darüber hinausgehen, eher behindert. Nicht durch Zufall hat etwa Steve Jobs im LSD ein Mittel zur Kreativitätssteigerung gesehen.

Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Leistung des Laien bleibt in dieser Perspektive eine komplementäre. Erkenntnis erwächst hieraus erst, wenn die Assoziation in Wissen umgewandelt wird, die Andeutung in Erkenntnis. Das ist eine Leistung des Experten, der auf die Anregung des Laien aber vielleicht weniger herabschauen sollte als üblich. Im Grunde wird hier übrigens angedeutet, worin man den Beitrag der sogenannten „digital humanities“ sehen könnte, zu denen ja auch das Internet-basierte artigo gehört: Als eine Verfahrensweise, die in ihrer nivellierenden Betrachtungsweise von Massendaten die Gopniksche Rundumleuchte realisiert, bereitet sie erst einmal das Feld der Erkenntnismöglichkeiten auf. Menschliche Intelligenz beleuchtet dann dieses Feld mit dem Scheinwerfer des Begriffs. Es bleibt eine spannende Frage zukünftiger Erkenntnistheorie, ob diese Fähigkeit jemals von Computern einzuholen sein wird.