First we take Des Moines, then we take Concord (es darf mitgesummt werden)

3. Februar 2020, früher Abend. Ich sitze vor einem übergroßen Flachbildschirm in einem Hobbykeller im US-amerikanischen mittleren Westen. Nicht so weit entfernt also vom – ich benutze hier ein großes Wort – Geschehen. Das Fest beginnt gerade, die Chips liegen neben der Guacamole bereit und die ersten Kronkorken ploppen. Oben rechts am Bildschirm flackert ohne Unterlass ein kleines rotes Banner: CNN-live. Deshalb sind wir alle hier. Und es ist dieses Flackern, das bisher am Aufregendsten war (eben weil es gerade jetzt flackert). Denn ansonsten flackert nichts. Man sieht eine schlecht ausgeleuchtete Mehrzweckhalle, die Aula einer Mittelschule aus den 1960er Jahren vielleicht, ein Raum ohne Trost (no food, no booze, no music), den es wie diese weißen Plastikgartenstühle überall auf der Welt gibt. Menschen darin, nicht sehr viele – 100 oder 150, auf Grüppchen verteilt, in unaufgeregten und unhörbaren Gesprächen. Die Kamera steht einfach so mit herum, schnittlos und unbeweglich. Jemand schlurft weit hinten in ihr Schichtfeld, berührt eine anderen Person an der Schulter, die zwei Mittfünfziger umarmen sich. Gute Bekannte also. Näher an der Kamera taucht – das Wort ‚plötzlich‘ scheint mir wiederum unangebracht – ein älteres Pärchen auf. Sie hält ihm den Mantel hin, er findet sehr lange den rechten Ärmel nicht, ein Lächeln huscht über sein Gesicht als es gelingt. Das ist anrührend. An einem schlichten Holzpodium, links hinten, steht ein junger Mann im lindgrünen Pullover mit zerzaustem Haar, Papiere sortierend. Hin und wieder blickt er auf und ruft etwas in den halbleeren Saal hinein, den ich nicht überblicken kann. Manchmal bewegt sich jemand daraufhin auf ihn zu, aus den Grüppchen heraus (manchmal nicht), und reicht ihm ein einzelnes gelbliches Blättchen. Das Mikrofon fängt von irgendwo ein Lachen ein. Willkommen im Iowa Caucus! Hier wird die Politik noch im Dorf gemacht.

Um diese Unmittelbarkeit anzupreisen, wurde das Wort Caucus (so jedenfalls eine These zur Etymologie) aus der Sprache der amerikanischen Ureinwohner entwendet, gemahnt nostalgisch noch an die Stammesversammlung jener, die hier eher nicht dabei sind. Die Frau also, die ihrem Mann so aufmerksam in den Mantel hilft, der schlechtfrisierte Mann in Lindgrün oder derjenige, der sich dort im Mittelfeld in Freizeitkleidung auf den Sitzreihen rekelt, kurz: diese ganze schlecht versammelte, weitgehend weiße Mittelklasse – vor dem und auf dem Flachbildschirm muss man ergänzen –  das sagen uns diese Bilder: entscheiden Weltpolitik!

Das Verfahren ist ausgeklügelt (das ist dann ein Wort, das ganz gut passt). In 1678 solcher öffentlichen Orte (Bibliotheken, Schulen, Turnhallen) und auf 99 ‚Außenposten‘ in aller Welt, geöffnet für jene, die gerade nicht im Dorf sind (global Iowa), treffen sich Menschen zwanglos und: auch spontan. Noch am Abend des ‚Ereignisses‘, gerade noch versponnen mit dem Bierchen auf dem Küchenbarstuhl hockend, können sie plötzlich auffahren und entschlossen zur Turnhalle hinübergehen, um sich zu Demokraten zu erklären. Der Zugang ist beinahe so niedrigschwellig wie er hier aussieht. Sie suchen dann Gleichgesinnte, dort wo die im Werkraum der Schule gebastelten Schilder mit den Namen der Kandidaten: Bernie Sanders, Elisabeth Warren usw. hochgehalten werden, oder sie stranden als offiziell Unentschlossene zwischen den wehenden Bannern.

Die Runde wird eröffnet: man diskutiert und überzeugt sich bis die Glocke schellt (das ist kein Sprichwort, alles ist erst einmal wörtlich gemeint). Dann werden die Menschen unter den Schildern gezählt: eins, zwei usw. Unterstützergruppen, die unter einer vorbestimmten Zahl bleiben, lösen sich sofort widerstandlos auf. Die dort Zusammengefassten ordnen sich einer anderen Kandidatengruppe zu, suchen ein anderes Schild auf. Selbst die Unentschlossenen dürfen eine Gruppe bleiben, wenn sie die entsprechende Prozentzahl erreichen. Dann wird neu gezählt, und alles wieder gründlich auf diese gelblichen Blättchen notiert. Am Ende wird die Anzahl der Unterstützer – von Caucus zu Causcus und über mehrere Organisationsebenen (Bezirk, Stadt, Land) – auf Iowas festgelegte Zahl an Delegierten in der Nationalversammlung der Demokratischen Partei umgerechnet. Die Kandidaten erhalten die Anzahl von Delegierten, die proportional ihren Anhängern unter den Schildern entsprechen und die dann (hoffentlich!) am Ende auch für sie stimmen. Iowas Gesamtzahl ergibt sich aus der Bevölkerung und dem geschätzten Anteil demokratischer Wähler auf der Basis der letzten drei Wahlen. Aus Iowa kommen 41 und aus New Hampshire 24 von den insgesamt etwa 4000 Delegierten. Zum Vergleich: aus Texas sind es 228, aus Kalifornien 415, aus Virginia 99.

Iowa müsste der Sturm im Wasserglas sein. Aber Iowa ist zuerst dran. Denn Iowa mit seinem Caucus – in New Hampshire fand nur das allseits bekannte geheime Wahlverfahren statt – illustriert, dass Gesellschaft doch nur eine Versammlung von freien Individuen ist, dass Demokratie immer noch nur von unten kommt, dass auch lindgrüne Pullover Charme haben können und so weiter. Wenn die nette Frau, zur Erinnerung: die, die ihrem Mann in den Mantel half, sich nicht unter das Schild mit Amy Klobuchars Namen stellt, heißt das eben, dass dieser das ‚Momentum‘ fehlt. Das sagen jene flackernden Liveübertragungen, und indem sie es behaupten, wird es tatsächlich wahr. Auch Britische Naturfilme stehen im Ruf besonderer Unaufgeregtheit: die Kamera wird einfach vor den Bau des Bibers gestellt und eingeklappt nachdem der Biber kurz rausgekommen war. Dann läuft der Abspann und der Film gewinnt einen Preis. Aber der Biber bleibt Biber. Das will auch die Kamera zeigen (so sind sie eben, unsere Biber, kommen nicht mal raus!). Und das ist beim Caucus ganz anders; hier muss gezeigt werden, wie die Demokratie funktioniert, grass root und wirklich von unten. Nicht so gut also, wenn die Übertragung dann stockt, wie es in Iowa geschah. Der unendliche, weil ganz und gar unmessbare Abstand zwischen den Menschen in der Mittelschulaula und der Parteienpolitik wird auffällig.

Max Weber hat den Caucus mit Blick auf die Funktion des Parteiapparates ohne Umschweife so beschrieben: „Zur Massengewinnung wurde es notwendig, einen ungeheuren Apparat von demokratisch aussehenden Verbänden ins Leben zu rufen, in jedem Stadtquartier einen Wahlverband zu bilden, unausgesetzt den Betrieb in Bewegung zu halten.“ Er spricht davon, dass hier “der feste Glaube der Massen an den ethischen Gehalt [von] Politik” am Leben erhalten und ausgenutzt werde. Der Caucus, so ließe sich Weber paraphrasieren, hat den Vorteil, dass er nicht nur demokratisch aussieht, sondern sich auch noch so anfühlt, und das, obwohl die meisten Würfel schon gefallen sind.

Denn nicht nur weisen alle zwangslos Versammelten bereits eine seltsame Familienähnlichkeit auf (GET OUT!), wer dann im Caucus überhaupt zur Wahl steht, muss über erhebliche finanzielle, mediale und personale Ressourcen verfügt haben. Es geschieht nur scheinbar von selbst, dass die Stimmung am Ende so weiß und ganz am Ende wieder so anheimelnd männlich ist. Die Möglichkeiten nachträglicher Kontrolle sind auch nicht unerheblich. Immerhin gibt es über 700 sogenannte Superdelegierte (16% aller Delegierten), die direkt aus der Parteielite kommen („aus der Parteibürokratie“, würde Weber sagen). Deren Stimmen sind nicht an Kandidaten gebunden. Ab dem zweiten Wahlgang sind sie frisch dabei (bisher waren sie es sogar im ersten). Immerhin dürfen auch die anderen Delegierten ihre Kandidatenbindung ignorieren, wenn es im ersten Wahlgang nicht zur Mehrheit reicht. Und schließlich können auch jene Delegierten, deren Kandidaten aufgeben, soweit es diese im Nachlass nicht anders regeln, nach Lust und Laune stimmen (selten sind es allerdings Lust und Laune die entscheiden). Die Umrechnung von den Stimmen der Menschen in der Iowa-Schulaula auf ihre Delegierten funktioniert also ein bisschen wie Taschengeld: alles kann für Softeis ausgeben werden und der Spinat bleibt links liegen.

Jetzt ist es ein Uhr nachts. Die Auszählung der Stimmen liegt immer noch bei 0%, die Guacamolereste sind stark angetrocknet, die meisten der Flaschen und die craft-beer-cans sind schon im Recycling. Der Hobbykeller, in dem wir mittlerweile verstreut und müde herumlungern, wird vollends zum Spiegelbild jener Schulaula, die – hatte ich das gesagt – gar nicht so weit entfernt ist. Dann findet jemand in der Sofaritze eine Postkarte: eine Zeichnung, die das Weiße Haus zeigt mit einer großen amerikanischen Fahne im Hintergrund und einem Bernie Sanders, der auch ein selbstgebasteltes Schild hochhält: We all deserve a future! “Wo kommt das denn her?” fragt mich jemand. Das ist schwer zu erklären. Es ist von einem guten Freund, Tony, der in einem Hochsicherheitsgefängnis in Minnesota einsitzt, wahrscheinlich für immer. Die erste Bewährungsanhörung ist 2036, statistisch gesehen klappt es nicht vor der dritten (wenn überhaupt), also etwa 20 Jahre später. Dann ist er tot. Gefängnisinsassen können nicht wählen, dennoch hat er von seinen 0,25 (amerikanischen) Cents Stundenlohn mehr als 20 Dollars für Bernie Sanders gespendet. Schon zum zweiten Mal übrigens. Vor vier Jahren hat die Sanders-Kampagne die Spende nicht angenommen. Diesmal kam eine Dankeskarte, die hat er mir stolz geschickt. Alle nicken jetzt nachdenklich und anerkennend. So endet die Nacht doch noch ‚on a good note‘, wie man hier sagt.