Waldgang mit Ramelow

I

Moritz Rudolph ist ein fleißiger Autor – kaum hatte ich die Information, der Weltgeist sei im Grunde ein Lachs, verdaut, erschien im Aprilheft des Merkur ein neuer Essay von ihm, über „Thüringen als politisches Formproblem“. Als jemand, der in Eisenach geboren wurde und in Weimar aufwachsen musste, war ich sofort interessiert. 

Tatsächlich ist es beachtlich, wie es Rudolph gelingt, aus eher banalen Realitäten à la „Thüringen ist ein Transitland“ Erkenntnisse für seine Theorie von Thüringen zu destillieren. So kann er über den Thüringer berichten:

„Weil der Thüringer all diese Gedankenstränge, die ihm andauernd ins Land getragen werden und ihm schlaflose Nächte bereiten, irgendwann auch zur großen Synthese bündeln will, gibt er sich nicht mit der eleganten Oberflächlichkeit einer kurzen Begegnung zufrieden und stößt zu dem vor, was darunterliegt. Der Thüringer entwickelt dadurch ein Interesse an der Grübelei, an der Wesensschau und wird zum Metaphysiker.“

Führt man diese These mit der Pressemitteilung vom 21. Januar 2020 des Thüringer Landesamtes für Statistik zusammen, lebten etwa am 30. September 2019 in Thüringen 2.134.393 Millionen Metaphysiker. [1. Vgl.: https://statistik.thueringen.de/presse/2020/pr_017_20.pdf] Seitdem sind sicherlich einige von ihnen gestorben und ein paar neue dürften auch geboren sein. Jedoch hängt das Metaphysikum nicht nur an der Lage, denn die „Metaphysik ist eine Angelegenheit des Waldes“. Der Wald ist dabei auch der Hort der Subversion, denn: „Was man in stiller Waldeseinsamkeit kontemplativ vielleicht erfasst, lässt sich nicht kommunizieren oder gar praktisch umsetzen, ohne die gesamte Ordnung umzustürzen“.

Vergleich dazu:

Der Widerstand des Waldgängers ist absolut, er kennt keine Neutralität, kein Pardon, keine Festungshaft. […] Der Waldgänger kennt eine neue Einsamkeit, wie sie vorallem die satanisch angewachsene Bosheit mit sich bringt – ihre Verbindung mit der Wissenschaft und dem Maschinenwesen, die zwar kein neues Element, doch neue Erscheinungen in die Geschichte bringt (Jünger, Der Waldgang).

Überhaupt gibt es einige weitere Passagen, die sich ähneln. Bei Rudolph heißt es, dass die Thüringer Hinwendung zur Metaphysik „von seinen vielen Hügeln und Wäldern, die ihm als Mythenspeicher und Garanten der Einsamkeit dienen“  begünstigt werde. Jünger schreibt:

Die Lehre vom Walde ist uralt wie die menschliche Geschichte, ja älter als sie. Sie findet sich bereits in den ehrwürdigen Urkunden, die wir zum Teil erst heute zu entziffern verstehen. Sie bilden das große Thema der Märchen, der Sagen, der heiligen Texte und Mysterien.

Beide Figuren, Rudolphs Thüringer wie Jüngers Waldgänger, sind also durch den Bezug auf das Metaphysikum des Waldes, „des Mythenspeichers“ bzw. des Themas der Mysterien, definiert. Und wie auch Jüngers Widerstandskämpfer geht es dem Thüringer Rudolphscher Prägung um Großes:

Thüringens Gang aufs Ganze produziert eine Unzufriedenheit mit dem politischen Normalfall, der eben nicht nach letzten Geheimnissen sucht, sondern sich um deren Wahrung bemüht. Eine solche Politik, die ums Absolute allenfalls herumschleicht und sich ansonsten zur Kunst des Machbaren erklärt, interessiert die Thüringer daher nicht, sie lassen als Kunst nur gelten, was der Sache auf den Grund geht, während sie sich aus dem Machbaren nicht viel machen.

Dumm nur, dass die Politik den Thüringer partout nicht in Ruhe lassen will. Deswegen lässt sich das Land „irgendwann widerwillig darauf ein und sucht schmollend nach etwas, das das Feld, auf das es keine Lust hat, wenigstens beschädigen kann“. Und sogar die Thüringerin taucht dann auf und muss irgendwann „entnervt einsehen, dass ihr Land kein harmonisches Gefüge oder wenigstens ein Weimarer Kulturstaat ist, sondern ein Gebilde, in dem Macht, Interesse, Taktik und Legitimität zählen“. Dieses Missfallen am Politischen kennt laut Rudolph zwei Modi: „Kontemplation und ruckartig[e] Opposition, die fast immer unüberlegt ausfällt und einer Authentizitätslaune folgt“. Besonders das letztere steht jeglichem politischen Pragmatismus entgegen – oder, in Rudolphschen Worten: „Weil es aufs Ganze geht, das das Absolute ist, sprengt es alle politischen Formen, die man ihm gibt“.

II

Doch warum wählen diese metaphysischen Radikalen dann ausgerechnet Bodo Ramelow? Auch Rudolph sieht dieses Problem und findet folgende Antwort, die ich hier in Gänze zitieren will:

Gerade weil Thüringen politisch zwischen Rückzug und Ordnungssprengung schwankt, lässt es sich von Zeit zu Zeit auf die gemütlichsten Verteidigerinnen des Status quo ein – auch weil es eine historische Angst vor der eigenen Courage entwickelt hat und sich in manchen Zeiten an das Schreckliche der Unruhe erinnert.

Spannenderweise sieht er jedoch in Ramelow einen Bruch. Thüringen, das erste Bundesland der Berliner Republik, „hat im vergangenen Jahr antibonnisch gewählt wie noch nie ein Land zuvor[, denn w]eit über die Hälfte der Stimmen vereinen AfD und Linke auf sich; zusammen haben sie eine Blockademehrheit, an der die alte politische Arithmetik scheitert, weil beide eine andere Republik wollen“.

Bei Höckes AfD – ob sie nun, wie Rudolph impliziert, wirklich „jenen nationalen Sozialismus will, für den der NSU noch in den Untergrund gehen musste“, oder sich doch eher an Mussolini orientiert, ist an dieser Stelle ein vernachlässigbares Detail für die Extremismusforschung – liegt dies klar auf der Hand. Ob jedoch Bodo Ramelows Linkspartei „die derzeitige politische Form des gesellschaftlichen Materials mit dem Ziel der Abschaffung einiger Privilegien“ verneint, ist fraglich. Ihre Suche „nach einem Weg, Thüringens Drang zum Absoluten in der Politik vielleicht doch noch glücklich ausgehen zu lassen“ gestaltet sich zumindest, wenn sie stattfindet, so lautlos, dass sie sogar in landespolitisch gut informierten Kreisen kaum jemandem aufgefallen ist. Vielleicht hat der Weltgeist sie alle in Verwirrung gebracht und ihre Perzeptionen gehemmt, so wie der Herr das ägyptische Herr in Exodus, 14 24-25, wurde Bodo Ramelow – und, von den SED-Vergleichkrakeelern im bürgerlichen Lager mal abgesehen, sein Landesverband – doch bislang vor allem als Pragmatiker beschrieben. Sogar die Neue Zürcher Zeitung charakterisiert ihn als Ministerpräsidenten mit „beschränktem Bürgerschreckpotenzial“. [2. https://www.nzz.ch/international/bodo-ramelow-die-linke-kriselt-doch-er-ist-beliebt-in-thueringen-ld.1514821]

Rudolphs Erzählung liegt also quer zum Mainstream. Dies macht sie einerseits interessant, aber auch gleichzeitig des Obskurantismus verdächtig. Um ihre Qualität als Beschreibung der Thüringer Realität zu prüfen, lohnt sich, die Figur Ramelows und ihr Wirken genauer in den Blick zu nehmen.

III

Sicherlich lässt sich nicht die ganze Thüringer Linkspartei durch den Ministerpräsidenten beschreiben. Gleichwohl wird jedoch beides oft synonym betrachtet. Auch bei der Thüringer Linkspartei selbst. Bei der letzten Landtagswahl lautete ihr Slogan „Bodo oder Barbarei“. Ein Wahlplakat zeigte den Ministerpräsidenten, aber nicht das Parteilogo. Dazu der Text: „Willkommen in Thüringen. Abenteurer, Frauen, Freunde, Kinder, Lehrerinnen, Rückkehrer, Schutzbedürftige, Touristen, Unternehmer. Bodo Ramelow“. Oder ein anderes, etwas inhaltlicher, aber auch ohne Parteilogo, dafür mit dem Spitzenkandidaten an einem See: „Was ein Mensch braucht. Respekt, Wohnung, gute Arbeit, Rente, Sicherheit, Natur, Solidarität, Zeit. Bodo Ramelow“. Bei einigen Plakaten versteckte sich Die Linke allerdings nicht, etwa auf jenem großformatigen roten, auf dem neben dem Schriftzug der Partei noch groß der Slogan: „Bodo Ramelow!“ prangte. Nehmen wir also die Propaganda beim Wort und setzen Partei und Ministerpräsident mal in eins. Wer ist Bodo Ramelow, was will er, was tut er?

Was man allgemein weißt: Wie viele in der Thüringer Politik wurde er nicht im Bundesland geboren. Ramelow stammt aus Hessen. Er ist Gewerkschaftler, Legastheniker und Pilzsammler. Im Gegensatz zur Mehrheitsbevölkerung – und erstrecht zur Mehrheit seiner Partei – ist Ramelow, der Lutheraner, religiös gebunden. Darüber hinaus ist er mit einer italienischen Adeligen verheiratet und besitzt einen Hund namens Attila. Seine gesamte politische Karriere hat er darauf hingearbeitet, Ministerpräsident Thüringens zu werden, und es ist ihm gelungen. Ramelow geht in der Rolle des Landesvaters auf. Sein politisches Programm ist dabei nicht einfach nur moderat, sondern vollkommen handzahm. „Er lebe in einer kapitalistischen Welt, er sei nicht angetreten, um sie abzuschaffen, er wolle die Wirtschaftsordnung regulieren“, zitiert ihn die NZZ gleichsam als Fazit ihres Porträts. Zu dieser Politik der kleinsten Schritte passt auch die staatstragende Form, die Ramelow wählt. So wählt er stets den Kompromiss: „Er stimmte für die Pkw-Maut, weil ihm dafür der CSU-Bundesverkehrsminister eine elektrifizierte Bahnstrecke in Thüringen versprach“ (Zeit), wählte einen AfD-Landtagsvizepräsidenten, nachdem Höckes Fraktion „die Blockade der Wahlausschüsse von Richtern und Staatsanwälten aufgegeben hatte“ (Spiegel), und forderte eine neue Nationalhymne mit einem  „neuen Text, der so eingängig ist, dass sich alle damit identifizieren können und sagen: Das ist meins“ (MDR).

Moritz Rudolph interpretiert dies so, dass die Linkspartei Ramelowschen Typs „selbst […] diese Öffnung wohl noch nicht [ist], aber unter allen Parteien ist sie für die Öffnung am offensten und hält damit den Kontakt zur Realtranszendenz“. Ich hingegen glaube: Dieser Kaiser ist nackt – und seine Partei ähnelt der Grünen, der, in Rudolphs eigenen Worten, „aufgemöbelten Ersatzlösung“ für CDU und SPD: „bonnrepublikanisch und konservativ sind auch sie, wie der Spiegel Ende 2019 festgestellt hat“.

IV.

All jene, welche sich von Bodo Ramelow einen Schritt hin zum Sozialismus oder in metaphysische Höhen erhofften, muss ich also enttäuschen. Ramelow ist so sehr Sozialist wie Johannes Kahrs, wenn über die Präambel eines neuen SPD-Parteiprogramms abgestimmt wird. Diejenigen jedoch, die solide, langweilige Mitte-links-Politik im Sinne des Seeheimer Kreises wollen, sind in Thüringen bei der Linkspartei am besten aufgehoben. Denn die ZEIT weiß zu berichten: „Während Ramelow präsidierte, versuchte sie sich mit SPD und Grünen am Umbau der Gesellschaft, mit einem Landesprogramm hier und einem Vergabemindestlohn dort.“

Insgesamt ist die rotrotgrüne Landesregierung eine der langfristigen Reformen und keineswegs der Revolution. Sie regiert ein Land, in dem ich geboren wurde, in dem ich lebe, und auf das Moritz Rudolphs Erzählung nicht passt. Feststeht für mich jedenfalls, dass mit ein, zwei weiteren solchen Regierungen die Linkspartei ihr Ziel, vom deutschen Bürgertum so geliebt wie die SPD zu werden, definitiv eines Tages erreichen könnte.