• Überlegungen zu Tschernobyl

    Bei Christa Wolf fällt das Weltgeschehen insoweit mit dem Privaten zusammen, als sich das eine im anderen spiegelt. So heißt es in Störfall: »Da du nicht fragen kannst: Die Art Strahlen, lieber Bruder, von denen ich rede, sind gewiß nicht gefährlich. In einer mir unbekannten Weise durchqueren sie die verseuchten Luftschichten, ohne sich anzustecken. Das Fachwort ist: kontaminieren.«1 Die Parallelisierung von Strahlenbehandlung und Kernkraft als Formen ziviler Nutzung der Radioaktivität ergänzt die Ich-Erzählerin in der Folge um eine Gleichsetzung von militärischer Verwendung und Atomenergie: »Nicht unvorbereitet, doch ahnungslos werden wir gewesen sein, ehe wir die Nachricht empfingen. War uns nicht, als würden sie uns wiedererkennen? Ja, habe ich eine Person in mir denken hören, warum immer nur die japanischen Fischer. Warum nicht auch mal wir.« (mehr …)

  • Ökologie und Radikalität. Anmerkungen zur „Letzten Generation“

    Der historische Vergleich erfreut sich im politischen Diskurs großer Beliebtheit. In den seltensten Fällen bricht sich dabei eine besondere Geschichtsbegeisterung Bahn, in aller Regel geht es vielmehr um die Gegenwart. Sehr häufig dient der Verweis auf die Historie dazu, Traditionslinien zu konstruieren. Ein rezentes Beispiel für diese Strategie ist etwa die Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 8. März 2022 vor dem britischen Unterhaus, in der er Churchills berühmte Durchhalterede We Shall Fight on the Beaches zitierte und sich damit, durchaus nicht ohne Erfolg, in dessen Nachfolge stellte.

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  • Waldgang mit Ramelow

    I Moritz Rudolph ist ein fleißiger Autor – kaum hatte ich die Information, der Weltgeist sei im Grunde ein Lachs, verdaut, erschien im Aprilheft des Merkur ein neuer Essay von ihm, über „Thüringen als politisches Formproblem“. Als jemand, der in Eisenach geboren wurde und in Weimar aufwachsen musste, war ich sofort interessiert.  (mehr …)
  • Der blinde Fleck. Weimar und seine Peripherie

    Am nördlichen Ende der Belvederer Allee liegt ein verwilderter Friedhof. Das Gras steht kniehoch. Vom Frühling bis tief in den Herbst hinein ist alles schreckendurchwuselt: Thettigonia viridissima, die ich sofort erkenne, und Chorthippi, die der Laie meist nicht exakt bestimmen kann, umspringen die Grabsteine. Einige Inschriften kann ich mühselig entziffern. „Gawril Alexejewitsch Frolow, 1911 bis 1946.“ „Iwan Ruibin, 1918 bis 1945.“ Auf anderen prangen nur noch beschädigte Fotografien. Die Witterung hat die Namen aus dem Stein gewaschen. (mehr …)