Der blinde Fleck. Weimar und seine Peripherie

Am nördlichen Ende der Belvederer Allee liegt ein verwilderter Friedhof. Das Gras steht kniehoch. Vom Frühling bis tief in den Herbst hinein ist alles schreckendurchwuselt: Thettigonia viridissima, die ich sofort erkenne, und Chorthippi, die der Laie meist nicht exakt bestimmen kann, umspringen die Grabsteine. Einige Inschriften kann ich mühselig entziffern. „Gawril Alexejewitsch Frolow, 1911 bis 1946.“ „Iwan Ruibin, 1918 bis 1945.“ Auf anderen prangen nur noch beschädigte Fotografien. Die Witterung hat die Namen aus dem Stein gewaschen.

Auffällig ist die Uneinheitlichkeit: Bei einigen ist der Rang angegeben, bei Iwan Ruibin nicht – dafür jedoch der Hinweis auf seine Ethnizität: „Russe“. Andere Grabsteine sind große Stelen, die von weit mehr als zehn Namen bedeckt sind, auf einem findet sich oberhalb der traurigen Dopplung des Jahres 1945 eine geschwungen-georgische Inschrift.

In Mittelpunkt des ganzen Ensembles findet sich ein Obelisk mit Hammer und Sichel. Jedes Jahr lässt sich hier, einige Wochen nach dem Tag der Befreiung, eine einzelne, verdorrte Rose mit Kranz bewundern. „Vom Oberbürgermeister der Stadt Weimar“. Wenn dann gerade kein Auto die Allee herabdonnert, kann man ein Springbrunnenplätschern hören, untermischt mit Probetönen aus dem Musikgymnasium, hören. Beim Blick nach oben, über die Friedhofsmauer, direkt auf das klassische Ensemble: Schloss Belvedere.

Mit verschobener Tonalität setzt sich dieser morbide Charakter auch in der Innenstadt fort. „Zwischen manchen Häusern nur lässt es sich unbemerkt atmen und ich halte mich an der Erde fest und hole Luft… Goetheplatz, Herderplatz, Geleitstraße, Heinestraße, Theaterplatz, Steubenstraße, Schubert- Ecke Hegelstraße und ich atme aus“. (Nancy Hünger, Deshalb die Vögel. Instabile Texte)  Die Straßennamen zeigen nur die Oberfläche der Geschichte, denn das Areal, von dem ich hier spreche – man könnte es auch anders begrenzen –, beginnt am Neuen Museum und Gauforum, verläuft weiter am Bauhausmuseum und am Goetheplatz vorbei zum Theater und geht über Wittumspalais und Schillerstraße bis zu den Parkgrenzen: an der Universität, am Schloss gegenüber dem Residenzcafé, an der Anna-Amalia-Bibliothek. Jede Station ist dabei mit mindestens einem historischen Ereignis verknüpft. Ich denke etwa an den Theaterplatz. Das Theater selbst steht an der Stelle des alten Höfischen – und markiert dabei zugleich den Ort der Nationalversammlung von 1919. Direkt davor befindet sich, 1907 in Anwesenheit des Kaisers eingeweiht, Rietschels Denkmal. Die zwei Fixsterne der Klassik, vom Bildhauer in der Größe vereinheitlicht, schauen hier direkt auf die alten Wagenremise, die seit 2019 nicht mehr das Bauhaus-Museum, sondern das Haus der Weimarer Republik beherbergt. „Überall gerinnt die Stadt zur Insel, immer nur einen Sprung über den Bürgersteig entfernt, in Anekdoten, die unentwegt raunen von jenen ganz verlorenen Tagen.“ (Nancy Hünger)

Alles fokussiert sich auf einen einzigen Namen. Sein Schatten verschluckt sogar Schiller. In den touristischen Geschäften um den Marktplatz herum sind nicht Bauhauslampen, da zu teuer, der Verkaufsschlager, sondern Ginkgo-Blätter oder Türschilder, auf denen steht: „Hier war Goethe nie.“ Der Faust steht immer auf dem Spielplan des Theaters. Gleichzeitig erschöpft sich die öffentliche Beschäftigung mit ihm zumeist im Biografischen, etwa wenn die Entstehungsgeschichte der Felsentreppe im Park an der Ilm erzählt wird: Im Januar 1778 stürzte die junge Christiane Henriette von Laßberg an dieser Stelle in den Fluss. Da sie dabei angeblich eine Ausgabe des Werthers bei sich trug, wird bis heute von einem Selbstmord aus unglücklicher Liebe ausgegangen. Goethe habe in der Folge, als Erinnerung an die Unglückliche, die Felsentreppe, auch Nadelöhr genannt, anlegen lassen. An genau demselben Fluss, auf dem er wenig später mit Carl August zusammen Schlittschuh gelaufen sei – im Sommer hätten sie dafür, zur großen Aufregung der Weimarer Gesellschaft, das Nacktbaden zelebriert. Diese Rezeption Goethes als Bürgerschreck ist dabei besonders bezeichnend für die Weimarer Stadtgesellschaft von heute. Sie gibt sich liberal gegenüber Eskapaden junger Menschen – und regt sich gleichzeitig auf, wenn im Sommer die Partys im C-Keller zu laut sind oder auf dem Wielandplatz junge Menschen sich zum Biertrinken treffen. „Jemand flüstert mir beiläufig von der poetischen Existenz, doch ich verstehe nicht, ich weiß nur, hier komme ich niemals und nirgends an, nicht in meinem unsinnigen Zimmer, nicht in dieser unsinnigen Stadt.“ (Nancy Hünger) Goethe lässt man so etwas durchgehen, weil er tot ist und die Grenzen der eigenen Liberalität nicht mehr austesten kann.

Selbstverständlich ist die Idealisierung Goethes kein Weimarer Phänomen, sondern eines des ganzen deutschen Sprachraums. So ist es kaum verwunderlich, dass sich Thomas Bernhard mit seinen letzten Worten aktiv auseinandersetzte. Im Band Der Stimmenimitator findet sich folgende, Behauptung betitelte Geschichte: „Ein Mann aus Augsburg ist allein deshalb in die Augsburger Irrenanstalt eingeliefert worden, weil er sein ganzes Leben behauptet hatte, Goethe habe als letztes mehr nicht! und nicht mehr Licht! gesagt, was allen mit ihm in Berührung gekommen Leuten mit der Zeit und auf die Dauer derartig auf die Nerven gegangen sei, daß sie sich zusammengetan hatten, um die Einweisung dieses auf so unglückliche Weise von seiner Behauptung besessenen Augsburgers in die Irrenanstalt zu erwirken. Sechs Ärzte hätten sich geweigert, den Unglücklichen in die Irrenanstalt einzuweisen, der siebte habe eine solche Einweisung sofort veranlaßt. Dieser Arzt ist, wie ich aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfahren habe, dafür mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet worden.“

„Wenn ihr wissen wollt, wie der Weg vorwärts geht, dann lest Goethes ‚Faust‘ und Marx‘ ‚Kommunistisches Manifest‘.“ Dieses Zitat Walter Ulbrichts ziert bis heute ein Wandgemälde im ehemaligen Wilhelm-Ernst-Gymnasium am Herderplatz, das wegen der Sanierung des Rathauses am Markt seit 2015 auch als Amtssitz des Oberbürgermeisters fungiert. Es entstammt einer Rede aus dem Jahre 1958 und ist hierbei kein Einzelfall. Vielmehr stellt Goethe einen zentralen Bezugspunkt in der Kulturpolitik der DDR da: „Unter dem Titel ,Unser Goethe‘ umriß Lukács in seiner Festrede im ,Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‘ am 31. August 1949 eine marxistisch-leninistische Anschauung, die von nun an wissenschaftlich und kulturpolitisch verbreitet werden sollte. Goethe war für ihn ,der lebendige Prometheus, der Lichtbringer, der freilich in der deutschen Misere oft an Felsen geschmiedet, oft von den Geistern der Reaktion zerbissen wurde.‘ Diese Geste der unkritischen Verehrung korrespondierte mit dem statuarischen Bild, das Becher in seinem Vortrag ,Der Befreier‘ im Deutschen Nationaltheater Weimar aus Anlaß des gleichen Jubiläums – des 200. Geburtstages Goethes – vertrat. Für Lukács wie für Becher war Goethe eine fast zur Ikone stilisierte Kultfigur.“  1

Das Phänomen eines Staatsgoethe ist freilich kein reines DDR-Phänomen. In der ersten deutschen Republik wurde um Goethe ein „Geist von Weimar“ gegen den militaristischen Potsdams beschworen, im NS-Staat versucht, die Figur des Faust zu arisieren, und auch heute noch ist Goethe ein Fixpunkt der deutschen Kulturpolitik. So steht auf dem Theaterplatz Rietschels Denkmal immer noch wie ein Totem, dem schon lange der Geist entwichen ist, als Objekt allgemeiner Verehrung. Bereits mehrfach konnte ich abends, nach Theateraufführungen, herausgeputzte Schulklassen auf Kursfahrt beim Rätseln beobachten, wer von den beiden Heroen nun wer sei. Ein sicherer Hinweis darauf, dass es mit der Klassikerpflege nicht mehr weit her ist. Aufgrund ihrer „Privatisierung“ ist dies nur folgerichtig – in einer pluralistischen Demokratie ist ein Staatsdichter nicht vorgesehen, der Kultus muss zivilgesellschaftlich erhalten werden. An die Stelle staatlicher Festlichkeit, Jubiläen mal außen vor, muss also bildungsbürgerliche Selbstvergewisserung treten. Kurzum: Wer Goethe zitiert, war mal Gymnasiast.

Oft ist seit dem Aufkommen der AfD und den damit verbundenen Polarisierungen von Weimarer Zuständen die Rede. Strenggenommen bedeutet die Furcht vor Weimarer Zuständen aber nichts, als froh zu sein, nicht Ende der Zwanziger bzw. Anfang der Dreißiger zu leben. Dabei lohnt eine Beschäftigung mit der ersten Republik sehr wohl, denn ich glaube, dass die Weimarer Republik in zahlreichen Dingen weiter war als unsere heutige. Um dies zu sehen, darf man sie jedoch nicht von hinten, sondern muss sie von vorne betrachten. Der Start in die Republik war auch der in die Moderne: Abschaffung der Adelsprivilegien, Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz, Betriebsräte, das Wahl- und Arbeitsrecht der Frau. Freilich gab es damals wie heute eine gender pay gap, doch war die Bundesrepublik lange Jahre rückständiger in Sachen Gleichberechtigung – so war es jeder Frau ohne Probleme möglich, im Jahre 1925 ein Konto zu eröffnen. Fünfundzwanzig Jahre später musste sie, zumindest als Westbürgerin, ihren Gatten darum bitten. Die Bundesrepublik begann mit Rückschritten – die Weimarer mit einem gigantischen Sprung nach vorn. Vor hundert Jahren war die Politik ein Experimentierfeld, in einer Republik ohne Phlegma. Die Parteien stritten um die Gesellschaft der Zukunft, der Reichskunstwart gestaltete die republikanische Ästhetik dazu.

Überhaupt, der ästhetische Aufbruch: die Stadt Weimar kann sich zumindest mit dem Bauhaus schmücken – selbst wenn weite Teile der im betreffenden Museum ausgestellten Exponate erst aus der Dessauer Zeit stammen. Auf anderen Gebieten spielte die Klassikerstadt eine geringere Rolle, während etwa in Berlin etwas Neues begann: „Das Nationaltheater habe er, Goethe, ruiniert, so Riemer, soll Goethe gesagt haben, überhaupt habe er, Goethe, das deutsche Theater zugrunde gerichtet, aber darauf kommen die Leute erst in frühestens zweihundert Jahren“ (Thomas Bernhard, Goethe schtirbt): Piscator, Bronnen, Brecht. Was sich mit Wedekinds Dramatik und dem Expressionismus bereits ankündigt hatte, vollzog sich nun in der anderen Gesellschaft: die Erneuerung der deutschen Bühne in Abkehr von der Tradition, für die eben Goethe zuallererst und daneben noch Schiller stand. Wenig verwunderlich ist es, dass diese Entwicklung bei den Bildungsbürgern wenig Anklang fand. Die alten Eliten fanden sich sowohl gesellschaftlich als auch ästhetisch unter Beschuss. Die kulturelle Landschaft war ganz und gar modern geworden, wie in ganz Europa und auch in den USA, und mit dieser Umwälzung traten auch neue Formen auf: Collage in bildender Kunst wie in der Literatur, Fotografie als Kunstform und selbstverständlich auch die neuen Massenmedien, Rundfunk und Film.

All diese Formen dominierte die Avantgarde, die per Definition eine kulturelle Elite ist, und mit ihrer Hilfe drängte sie die alte Elite aus dem Kaiserreich in die Opposition zum neuen Staat. Dabei wurde die Kultur der Weimarer Republik nicht unbedingt von Republiktreuen geschaffen, sondern gerade auch von den Rändern aus, links Brecht, rechts Jünger – und auch die Bauhäusler, die  sich in Weimar in teils starker Opposition zum etablierten Stattbürgertum und -adel befanden, waren keineswegs alle Republikaner im Sinne der Verfassung. Johannes Itten zum Beispiel, der den legendären Vorkurs konzipierte, war ein exzentrischer Esoteriker mit protofaschistischen Tendenzen. Jedoch teilen die marxistischen Spötter, nüchternen Reaktionäre und schwärmerischen Mazdaznan-Jünger, die die Avantgarde jener Jahre formieren, drei bedeutsame Gemeinsamkeiten: zum einen das Gefühl einer neuen Zeit, zum anderen die Opposition zu den alten Mächten, zu guter Letzt eine Ästhetik der Reduktion. Sowohl Brechts Bruch mit dem klassischen Illusionstheater, die klaren Linien der Breuerischen Stühle, als auch Jüngers kühle Schlachtbeschreibungen zeichnen sich durch einen Verzicht unnützen Dekors aus. Nicht nur die Ordnung, sondern auch der Pomp des Kaiserreichs hatte den Schützengraben nicht überlebt.

Nach Weimar kehrte diese ästhetische Megamanie früher zurück als in andere Gegenden. 1932 wurde Fritz Sauckel von der NSDAP zum sogenannten „leitenden Staatsminister“ der Thüringischen Landesregierung gewählt. Dieses Amt gab es eigentlich verfassungsmäßig gar nicht. Vielmehr wählte der Landtag die Landesregierung als Kollektivorgan, das dann nach §45 der Verfassung von 1921 aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden wählte, der „die Verhandlungen [leitet] und das Land nach außen [vertritt], soweit nicht ein Ministerium zuständig ist.“ Dieser Vorsitzende wurde oft als leitender Staatsminister bezeichnet. Im August 1932 fiel diese Wahl auf Fritz Sauckel. Weniger als ein Jahr später war dieses Amt unbedeutend geworden – und Sauckel Reichsstatthalter.

Es ist kein Geheimnis, dass die neuen Machthaber mehr dem Geschmack der Weimarer Bevölkerung entsprachen als die Republik. Auch Hitler selbst gefiel die Stadt an der Ilm, was seine häufigen Reisen hierher zeigten. Dass es den Nazis wichtig war, ihre Präsenz in der Klassikerstadt für alle Zeit zu markieren, zeigt bis heute sichtbar das Gauforum am Jorge-Semprún-, zuvor Karl-Marx- bzw. Adolf-Hitler-Platz. Es ist das einzige seiner Art und Herzstück der sogenannten „Modellstadt der Moderne“, zu dem noch das aus dem Kaiserreich stammende Neue Museum und das von der Süddeutschen Zeitung als „Sarkophag der Moderne“ bezeichnete Bauhausmuseum gehören. In seinem Nord- und auch im Südflügel sitzt das Landesverwaltungsamt, während sich im Ostteil, der ehemaligen „Halle der Volksgemeinschaft“, das größte Einkaufszentrum der ganzen Stadt befindet, dessen Tiefgarage direkt unter dem ehemaligen Aufmarschplatz liegt. „Für das Prestigeprojekt der Nationalsozialisten in Weimar, das Gauforum, musste der nördliche Teil der Jakobsvorstadt, insgesamt 139 Häuser, abgerissen und der kleine Fluss Asbach umgeleitet werden.“ (zit. nach Weimar im Nationalsozialismus) Als Entschädigung für ihre abgerissenen Häuser bekamen die ehemaligen Bewohner ein neues, kleineres Viertel gebaut. Dies geschah in der Ästhetik der Zeit – mit Germanenromantik.

Dieser Schrecken gehört mehr zu Weimar als die Avantgarde der Zwanziger. Das Bauhaus verließ die Stadt schon 1924 Richtung Dessau, wo es seine Blüte fand. Die Stadtbevölkerung selbst blieb konservativ, wenn sie nicht deutschnational oder nationalsozialistisch wurde. Jedenfalls verhielt sie sich in Opposition zum neuen Staat. Dem „Dritten Reich“ gegenüber war dies allerdings anders. Legendär ist der Ruf der Menschenmenge, mit der sie Hitler aufforderte, auf den eigens für ihn errichteten Balkon des Hotel Elephants zu treten: „Lieber Führer, komm heraus aus dem Elephantenhaus“. Auch die Einrichtung eines Konzentrationslagers war weniger ein Problem denn dessen geplanter Name. Auf dem Ettersberg wurde dieses errichtet und war somit lediglich einen Kilometer vom ehemaligen Jagdschloss der Herzöge angesiedelt. Eine „Schneise der Erinnerung“ ist heute von der Lagergrenze zu dessen altem Jagdstern geschlagen. Die Anfänge ihres Lagersystems, das in der industriellen Massenvernichtung, in die Todesfabriken mündete, platzierten die Nationalsozialisten direkt neben eine Stätte der deutschen Klassik. Aus diesem Grund protestierten Teile der Stadtbevölkerung dagegen, dem Lager den Namen seines geografischen Ortes zu geben, weshalb es am Ende den Kunstnamen „Buchenwald“ erhielt. Mit dieser Lösung war das Bildungsbürgertum zufrieden. Zwar wurden die Werte der Klassik besudelt, aber wenigstens blieb der Name sauber. Gleichzeitig drängten die neuen Machthaber die verhasste Moderne aus dem Land.

Also arrangierte sich das Weimarer Kulturmilieu auf eine Weise, wie es ihm gegenüber der Republik unmöglich erschienen war. Die Wiederkehr von Pomp und Pathos wie auch des Staatsgoethe, dieses Mal als „Verkörperung des deutschen Geistes“, war mehr nach ihrem Gusto – eine Ästhetik wie im Kaiserreich, übertrieben und schrecklich konservativ. Die Bildungsbürger sind im ästhetischen Sinne konservativ geblieben. Weshalb es nicht verwundert, dass dasselbe Milieu, das damals die Republik durch Nichtunterstützung zumindest passiv mitvernichtete, sich heute vor deren Wiederkehr fürchtet. Dies erklärt vermutlich auch, dass sich die Weimarer Stadtgesellschaft jenen zwölf Jahren bis heute nur sehr zögerlich nähert. Dass die Hitlerjugend hier 1926 unter ihrem heute noch bekannten Namen gegründet wurde, dass der Reichsjugendführer Baldur von Schirach hier aufwuchs, kommt bei Stadtführungen bestenfalls in marginalen Randbemerkungen vor. Man schiebt diese Phase lieber in Richtung Berg. Der Kunstname des Lagers wirkt dabei. Schloss Ettersburg und Buchenwald sind im öffentlichen Bewusstsein Lichtjahre voneinander entfernt. Deutschland ist ein Land, das Probleme bekommt, wenn Größe und Schrecken nebeneinander liegen. In diesem Fall muss es verdrängen. Dieser Fall trägt den Namen Weimar.

Ein weiterer Ort, an dem dieser besondere Charakter ans Tageslicht tritt, liegt ebenfalls in der Peripherie der Klassik. Es handelt sich hierbei um den Webicht, den Stadtforst im Osten der Stadt bei Tiefurt. Ein malerischer kleiner Ort, der mit dem Areal der Sommerresidenz Anna Amalias gänzlich verwachsen ist. Es gibt einen netten kleinen Bäckerladen mit ein paar Tischen, den ich gerne bei Wanderungen hierhin aufsuche, um eine oder zwei Tassen Kaffee zu trinken. An der Straße Richtung Stadt liegt eine kleine Schrebergartensiedlung.

Hier unten scheint der Schrecken mal wieder so fern. Doch oben, an der Tiefurter Allee, die den Webicht vom Schlosspark trennt, steht, umrandet von Buchsbäumen, ein einsamer Stein. Hier stand er nicht immer. Seine Inschrift bezieht sich auf eine andere Stelle, jenseits der Straße, zwischen den Laubbäumen. 1806 hatten dort die französischen Truppen biwakiert. Goethe, Kafka gingen hier spazieren. Irgendwohin dort trieb die Gestapo kurz vor der gewaltlosen Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen 149 Häftlinge: 142 Männer und sieben Frauen. Dies war eine Maßnahme im Rahmen der „planmäßigen Auflösung“ der Gestapo-Dienststelle. Bevor sie alle Akten im Innenhof des Marstalls, direkt gegenüber dem Stadtschloss, verbrannten, wurde diese noch konsultiert: „Aus dem Gestapogefängnis im Marstall und dem Landgerichtsgefängnis wählten die Beamten jene Häftlinge aus, die nach einer Liste des leitenden Oberstaatsanwalts ein richterliches Todesurteil zu erwarten hatten. Sie nahmen noch eigenmächtig ausgewählte Häftlinge dazu und trieben sie dann in Richtung Webicht.“ (zit. nach Weimar im Nationalsozialismus) Im Juli desselben Jahres konnten immerhin noch 43 Leichen die Personalien zugeordnet werden. 1963 wurde an dieser Stelle der Gedenkstein enthüllt. Einige Jahre später verschob man ihn und entzog dem Ort des Massakers die Markierung. Er liegt nun überwuchert im Forst, nur wenige können ihn identifizieren.

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Ehrlich, Lothar; Mai, Gunther; Cleve, Ingeborg, Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. In: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hg.), Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Unter Mitarbeit von Ingeborg Cleve. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000.