Was Europa von Südkorea nicht lernen kann
Das für mich persönlich Seltsamste in dieser Corona-Krise ist die Begeisterung des Westens über mein Heimatland Südkorea. Nicht nur Wirtschaftszeitungen wie die Financial Times oder liberale Medien wie New York Times und BBC, sondern auch linke Zeitungen wie die taz präsentierten die südkoreanischen Maßnahmen gegen die Covid-19-Ansteckungswelle als Vorbild für das Krisenmanagement auch im Westen. Die „Why don’t we do it like the Koreans?“-Frage ist in den USA zum Klischee in Pressekonferenzen geworden.
Die jungen, kosmopolitischen Südkoreaner*innen übersetzen diese Artikel sehr eifrig und stolz und teilen sie per Social Media. In den Nachrichtensendungen wird zur Prime Time über die „telefonische Krisenberatung“ des französischen Staatschefs Macron oder des schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven durch den südkoreanischen Präsidenten Moon Jae-in berichtet, und die tägliche Verschlechterung der Lage in Europa wird mit den Bildern von Corona-Partys oder durch die aufgereihten Särge in einer italienischen Kleinstadt illustriert. Manche postulieren vorschnell „Europa (als Wertgemeinschaft oder Symbol des Fortschritts bzw. der Modernisierung und so weiter) ist tot“.
Sicherlich haben die Südkoreaner*innen einige gute Gründe für dieses Nationalbewusstsein. Beim Anblick der Titelseite des Spiegel mit dem Bild eines Mannes in Schutzkleidung und der Schlagzeile „Made in China“, die die asiatischen Communitys wirklich schockierte, konnte ich die jetzige Situation nicht antizipieren. Diese Objektivierung der Asiat*innen als Viruserreger zeugte sichtlich vom souveränen Selbstverständnis der europäischen Eliten. Wer hätte gedacht, dass die Europäer*innen nur einen Monat später nichts mehr machen würden, außer ihre Balkonkonzerte per Instagram zu streamen? Täglich lese ich die Beiträge der großen europäischen Philosophen über die Pandemie – Agambens Ausnahmezustand-nacktes-Leben-Neuauflagen, Zizeks Chance-für-Weltrevolution-Mantra, Badious Kommunismus-noch-nicht etc. Was ich darin finde, ist dass die alle mehr oder weniger ihr Symptom genießen. Welcome to The Desert of The Real! Das Reale, das die Koreaner*innen bisher weitgehend verschont hat.
Ja, das System funktioniert dort. Wie schon von vielen Expert*innen und Journalist*innen analysiert wurde, beinhalten die sogenannten südkoreanischen Maßnahmen etwa fünf wichtige Elemente: 1. Zentralisierte Nationalkrankenversicherung, 2. frühere Präventionsinitiative der Regierung, 3. Häufige, umfangreiche, ergebnissichere Tests, 4. Verfolgung der Route der Infizierten und zielgerichtete Isolationsmaßnahme statt einer allgemeinen Mobilitätsbeschränkung, 5. Pausenlose Informationsbeschallung und transparente Überwachung.
Nach der MERS-Epidemie im Jahr 2015, die in Korea 36 Menschen das Leben kostete, hat die koreanische Regierung viele technologische Maßnahmen und kooperative Strukturen entwickelt, die in der heutigen Corona-Krise eingesetzt werden. Durch die Maßnahmen blieb den Koreaner*innen bis dato eine größere Bewegungsfreiheit erhalten, auch die Zahl neuer Infektionen sank drastisch. Ganz ohne Ausgangssperre und Kontaktverbot wie in Europa – oder gar noch drakonischere Restriktion wie in China. Das wurden besonders von vielen Gesundheitsexpert*innen und Politiker*innen des Westens als „demokratisches“ Vorbild (im Vergleich zum totalitären Vorgehen in China) gelobt.
Aber warum macht es der Westen nicht so wie die Koreaner*innen? Meine These ist, dass in den Ländern Europas die Kernelemente der südkoreanischen Maßnahme von Anfang an nicht umsetzbar waren, obwohl einige der Technologien, die das Land verwendet hat, „so einfach wie Gummihandschuhe und Wattestäbchen sind“. Denn die meisten Maßnahmen sind nur in einer besonderen Form der polizeistaatlichen Gesellschaft möglich, gegen deren Regeln sich die meisten Europäer*innen sperren würden.
Das koreanische Modell sieht auf den ersten Blick ganz „demokratisch“ aus. Es agiert dabei aber im Rahmen der biopolitischen Gouvernementalität der Spätmoderne (feat. Foucault), also unter Einsatz der verschiedenen Machtfunktionen, die die Population zum Gegenstand haben. Diese Gouvernementalität tritt in der gegenwärtigen Welt und dem sich als Einheit begreifenden globalen Norden und in den liberalen Demokratien keineswegs als homogene Erscheinungsform auf. Ich will mit dieser Behauptung gar nicht auf das Kampf-der-Kulturen-Schema oder kulturellen Relativismus hinaus. Statt dieser makrokosmischen Schemata möchte ich einige mikrokosmische Merkmale der biopolitischen Lage in Südkorea, das tatsächlich in kultureller, wirtschaftlicher, institutioneller, diplomatischer und geopolitischer Hinsicht zur westlichen Welt gehört, in den Blick nehmen.
Ich bin im Jahr 2011, kurz nach meinem 30. Geburtstag, nach Berlin angekommen. Seitdem habe ich nur einmal meine Heimat besucht und zwar erst nach sechs Jahren Aufenthalt in Deutschland. Dieser Besuch hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen, denn bei dieser Rückkehr habe ich Südkorea als fremd und distanziert empfunden.
Sehr unvermittelt traf mich dabei die Omnipräsenz der Schriften und Infografiken, teils staatlicher, teils privater Herkunft. Wenn man in Seoul mit der U-Bahn fährt, wird man bereits 100 Meter vor dem Eingang der Station durch alle möglichen Wegweiser eskortiert. Diese Eskorte setzt sich über die gesamte Fahrt, den gesamten Aufenthalt fort. Man wird ständig informiert, wo sich das WC im U-Bahnhof befindet, durch welchen Ausgang man ihn verlassen soll. Da ist nicht etwa nur ein Schild, überall gibt es begleitende Routenweiser auf dem Boden, die Ausgänge sind durchnummeriert, die Leitsignale sind visuell und auch auditiv. (Und alle Schriften sind supergroß!)
Die Passagiere auf dem Gleis sind durch eine hochtechnologische Glaswand geschützt, auf der sie über das richtige Verhalten, die konkrete Route des ankommenden Zuges oder auch über die neue Steuerpolitik der Regierung etc. informiert werden. Ja, ich weiß, das eine oder andere davon gibt es im kleineren Maßstab inzwischen auch in Berlin und anderen Städten. (U-Bahn-Stationen sind definitiv die informativsten öffentlichen Räume in denmeisten europäischen Metropolen.)
Damit aber noch lange nicht genug. Die Straßen in Seoul sind voll mit Transparenten für PR oder Informationen, die zum großen Teil von den verschiedenen staatlichen Organen und Behörden aufgehängt werden. Es ist so, als hingen zwischen den Bäumen oder Straßenlampen in der Berliner Karl-Marx-Allee oder auf einer beliebigen anderen großen Straße Transparente, die dich ohne Ende ermahnen: „Vergiss nicht die Frist deiner Steuerklärung!“, „Mai ist der Monat der Familie. Rufe deine Eltern an!“ oder „Hier kommt es oft zu Verkehrsunfälle , Vorsicht!“ (In Berlin dagegen sehe ich vor allem die Transparente protestierender Mieter*innen. Ich bin übrigens Fan von „Tod für Deutsches Wohnen!“) In den Parks in Korea begegnet man an allen Ecken großen und kleinen Plakate, die einem genau erklären, wie man sich im Park richtig verhält. „Lassen wir uns als Bürger*innen eines fortgeschrittenen Landes verhalten!“ steht nicht selten darüber.
Ich habe damals in Sung Nam, einer Potsdam ähnlichen hauptstadtnahen Stadt, einen neuen Führerschein beantragt. In 12 Minuten habe ich ihn bekommen und bin nach Hause gefahren. Und das war an einem Samstag! Nach einem kurzen Telefonat garantierte mir die nationale Krankenversicherung die Wiederherstellung meines Versichertenstatus. Ein nötiges Dokument für die Übersetzung meines Führerscheins habe ich in einem anderen Bürgeramt erhalten, ohne Wartezeit und Reservierung, weil man dort die meisten Angelegenheiten normalerweise per Internet erledigen kann. Nach der Rückkehr habe ich in Berlin Schöneberg den deutschen Führerschein beantragt und ihn erst nach 12 Wochen (sic) erhalten.
Auf der Fassade der Behördengebäude in Sung Nam gab es auch mehrere Transparente, auf denen eine neu eingesetzte sozialpolitische Kampagne oder Termine für Sportevents in dem Bezirk vorgestellt wurden. Alle Beamt*innen in Korea waren unglaublich nett und lächelten immer. Das tun sie nicht von Haus aus, der Druck, sich wie das Kundenservicepersonal von Privatunternehmen zu verhalten, ist groß. „Listen to the voice of customers!“ ist der kategorische Imperativ des südkoreanischen Verwaltungswesens. Dies alles habe ich vor meinem Deutschland-Aufenthalt für selbstverständlich gehalten.
Auch wenn ich diese Differenz nicht als einen absoluten, sondern nur einen relativen Unterschied wahrgenommen habe, wird er in der Corona-Krise nur umso deutlicher. In Korea ist die Beziehung zwischen den Bürger*innen und der staatlichen Verwaltung überaus eng. Und die biopolitische Fürsorge und Kontrolle ist – ich entschuldige mich im Voraus für die im Folgenden häufige Verwendung der altmodischen, politisch unkorrekten Familienbegriffe – maternal.
Die Staats- und Regionalregierung schickt der Bevölkerung derzeit fast jede Stunde eine SMS, mit der sie über die aktuellen Situation informiert. Auf ihren Facebook-Seiten veröffentlichen Bürgerämter ausführlich beschriebene Routen, die ein/e Infizierte/r in dem Bezirk durchquert hat, inklusive der Namen und Adressen von betroffenen Cafés, Kirchen, Restaurants, Büros etc. Das Gesundheitsamt kann sogar ohne Zustimmung die GPS-Informationen von Smartphones sammeln und so die Infizierten verfolgen, wie eine besorgte Mutter das Smartphone ihrer Tochter überprüft oder heimlich das Tagebuch ihres Sohnes liest. Bei in Quarantäne Lebenden klopfen die Beamt*innen zweimal am Tag an die Wohnungstür und scheuen keine Mühe, sie mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen.
Gerade diese gezielte Verfolgung und Fürsorge funktioniert offenbar effektiv gegen die Ausbreitung der Infektion. Statt quasi-paternalen Ausnahmezustands-Geboten mit Ausgangssperren und Kontaktverbot, die Giorgio Agamben als eine Reduktion von bios (Lebensform) auf zoe (nacktes Leben) ansieht, bestehen die koreanischen Maßnahmen aus solchen Minimalkontrollen und mütterlicher Fürsorge für das Leben. Was ich als eine Person, die längere Zeit sowohl in Südkorea als auch in Europa gelebt hat und die extrem viel mit der Bürokratie dieser Länder zu tun hatte, feststelle ist diese: Während der Durchschnitt-Bürger oder die -Bürgerin für die südkoreanische Verwaltung und auch das breitere sozio-kulturellen Umfeld als „Kind“ gilt, sieht man sie in Europa eher als „Erwachsene“ an.
Ich bin überzeugt, dass die europäischen Länder die in Südkorea zur Anwendung gekommenen Maßnahmen nicht hätten einsetzen können, obwohl auch das südkoreanische Modell als „demokratisch“ bezeichnet wird. Denn der demokratische Anschein der koreanischen Maßnahmen verdankt sich nicht dem demokratischen System, sondern dem „maternalen“ Charakter der südkoreanischen Form von Gouvernementalität. Mama scheint ein bisschen demokratischer als Papa zu sein. In Wahrheit aber haben beide nichts mit Demokratie im strikten Sinne zu tun. Würden die Durchschnitts-Europäer, die sich als erwachsen, autonom, selbstständig, liberal und kritisch verstehen, die ergriffenen Maßnahmen der totalen Überwachung und Kontrolle akzeptieren? Der Philosoph Markus Gabriel findet schon die Ausgangssperre Scheiße.
Koreaner*innen haben in der überwiegenden Mehrzahl mit all dem kein Problem. Sie erkennen gerade in einer solcher Nähe zur öffentlichen Verwaltung ihre bürgerlichen Rechte, während die Europäer*innen ihre Freiheitsrechte eher in der Distanz von der staatlichen Kontrolle suchen. Die Koreaner*innen lehren und lernen fleißig das passende Verhalten als Mitbürger*innen, sei es es in den Kampagnen von Medien und Behörden oder auch in den sozialen Medien. Sie greifen manchmal ihre Mitbürger*innen an, wenn diese die Regierungsmaßnahmen missachten.
Für das durch den Bürgerkrieg zerstörte Korea gilt die westliche Moderne als ein zu erreichendes Vorbild. Der Aufholprozess verlief dabei rasant. Den etwa dreihundert Jahre dauernden Prozess der Demokratisierung und Industrialisierung hat das Land quasi übersprungen. Oft findet man die „Lösung“ so über Short-Cuts, nicht über den tatsächlichen Prozess. So haben wir fleißig für die Lösungen gelernt, die die westliche Moderne uns anbietet. Die Schüler*innen in Korea bleiben bis in den Abend in der Schule, danach besuchen sie oft genug noch einen privaten Nachhilfekurs, um die Lösungen für die Multiple-Choice-Prüfungen zu lernen. Trotz des demokratischen Wandels im Jahr 1987 bleiben das alte Erziehungssystem und Lernkultur bestehen. Was wir in der Schule allerdings nicht lernen, sind Rhetorik, Prosaschreiben, Zweifel, kritische Meinungsbildung oder autonome politische Praxis.
Die Koreaner*innen sind trotzdem Demokratiefanatiker, auf ihre Art. Es geht dabei aber vor allem um Sachen wie die Präsidentschaft oder Verfassungsfragen. Mehrfach haben sie in Großdemonstrationen mit Millionen von Menschen ihre Souveränität bewiesen und mehrmals die amtierenden Präsident*innen mit ihrer Zivilcourage niedergerungen. Etwas anders formulierte: Im Namen der Demokratie bringen sie ihren symbolischen Vater gerne um.
Kimyoung Kim schreibt an einer Dissertation in Philosophie und lebt in Berlin.