Kommt jetzt der globale Babeuf?

Parallel zur virologischen und politberatenden (Was ist das und was können wir tun?) tobt derzeit eine politphilosophische Schlacht um die Zukunft der Welt. Da gibt es zwei Konflikte: Einmal den zwischen Kontraktionisten und Expansionistinnen um die Frage, ob die Globalisierung jetzt zurückgenommen (Claus Leggewie), wiederhergestellt (Ulrike Hermann) oder angetrieben wird, indem sie nun politische Strukturen bekommt. Zweitens wird über den Charakter der Nach-Corona-Politik gestritten: Ist der (Neo)Liberalismus am Ende (Heinz Bude), kommt jetzt eine autoritäre Welle (Giorgio Agamben, Naomi Klein, Groupe Tiqqun, Richard Sennett, Rene Schlott) oder doch noch der Kommunismus (Slavoj Žižek)?

Beide Fragen gehören zusammen, weil sie den Ort (national, supranational, transnational oder global) und die Idee politischer Gemeinschaften verhandeln (liberal, sozialistisch, faschistisch, ökologistisch), sie sich also fragen, welches politische Gebilde aus der Corona-Situation hervorgeht, welchen Umfang es nach außen und innen annimmt und wie es die Bevölkerungsinteraktionen kontrolliert. Es geht also darum, wie das Material (die Gesellschaft) in eine Form (ihre Organisation) gebracht wird und welche Form dieser Form (der Ort) die richtige ist.

Ort: Kontraktion und Expansion

Was fehlt, ist eine Zusammenführung der widerstreitenden Positionen, denn wahrscheinlich haben, wie so oft, beide Seiten recht und unrecht zugleich: Die Kontraktionisten, weil tatsächlich erst einmal Grenzen geschlossen werden und sich die Nationalstaaten um sich selbst kümmern (vielleicht sogar ihre eigenen Staatsbürgerinnen in den Krankenhäusern bevorzugt behandeln werden); weil der Welthandel zurückgeht und die Börsen einbrechen; weil globale Lieferketten unterbrochen werden, die wahrscheinlich etwas regionaler als zuvor wieder aufgebaut werden; und weil Firmenpleiten anstehen und die Arbeitslosigkeit steigt, was den protektionistischen Druck auf die Regierungen erhöhen dürfte. Aber auch die Expansionistinnen haben recht, weil alle weltweit über das Gleiche diskutieren (es also eine globale Öffentlichkeit gibt), fieberhaft an einem Gegenmittel forschen und weil nun Stimmen lauter werden dürften, die der Weltgesellschaft einen staatlichen Überbau verpassen wollen, der zunächst einmal europäisch ausfallen dürfte (gerade dass Europa derzeit handlungsunfähig ist, könnte es künftig stärken, weil Krisenressourcen zentral besser mobilisierbar sind; was aber nicht heißt, dass es als liberales Projekt fortgesetzt werden muss, wahrscheinlicher ist eine Gesundheitsfestung Europa, denn Grenzen sind jetzt sehr gefragt). Wie kann das sein, dass beide Seiten recht haben, obwohl sie einander zu widersprechen scheinen?

Die Globalisierung ist, und daran hält Maurizio Ferraris noch in seiner Turiner Corona-Isolation fest, unser „Schicksal“. Das mag schon sein, aber sie ist eines, das sich manchmal gegen sich selbst kehrt. Denn die Globalisierung meint nicht nur sich selbst, sie enthält zugleich ihr eigenes Gegenteil, die Deglobalisierung, die ihr wie ein Schatten durch die Geschichte folgt (was aber auch heißt, dass die Rücknahme ebenfalls wieder zurückgenommen wird, weshalb die Expansionistinnen doch wieder recht haben, aber auf andere, verschlungenere Weise als es ihnen vorschwebt). Schon ein flüchtigen Blick auf die Geschichte der Globalisierung (und der Formgenese ihrer Subjekte) zeigt, dass diese stets zwischen Expansion und Kontraktion oszillierte,

Dass sie jetzt unterbrochen, aber bald wieder angetrieben wird, ist nichts Ungewöhnliches. Die meisten Unterbrechungen (1618-1648, 1789-1815 und 1914-1945) gab es durch Kriege, in deren Folge die Zirkulation von Menschen, Waren, Kapital und Informationen zurückging. Aber es gab noch ein weiteres Kontraktionsereignis , das kein Krieg war, sondern eine Pandemie: Um das Jahr 1350 herum kontrahierte das erste eurasische Weltsystem (das zuvor durch die Pax Mongolica geschaffen wurde) durch den Ausbruch der Pest in China, Europa und Arabien. Die Seuche verbreitete sich auf denselben Handelsrouten, die zuvor die Vernetzung ermöglicht hatten und grassierte in denselben Städten, die zuvor ihre eifrigsten Stützen gewesen waren – 1347 erreichte es das genuesische Caffa, verbreitete sich rasch in ganz Europa und wütete in den  Städten heftiger als auf dem Land. Die Urbanisierungsrate sank und unterschritt jene Schwelle, die zuvor einen Handelsgeist ermöglicht hatte. Der verschwand wieder, man misstraute den Schiffen, ganze Regionen wurden abgeriegelt, das Weltsystem zerfiel in regionale Teilsysteme und die Welteinheit war erst einmal dahin (vor allem weil das überdehnte Mongolische Reich in der Pestzeit seine Infrastruktur vernachlässigte, was zu Hungersnöten und Aufständen in China führte und den Zerfall einleitete).

Doch die Kontraktion trug bereits den Keim der kommenden Expansion in sich: Der Bevölkerungsrückgang löste eine europäische Agrarkrise aus, die den Adel und die Kirche (deren Autorität nach dem Massensterben in Zweifel gezogen wurde) schwächte und zwei Seiten stärkte: Könige und Arbeitskräfte, deren Verknappung den Preis steigen ließ, was die Suche nach mechanischem Ersatz befeuerte und technische Innovationen zur Folge hatte (zum Beispiel den Buchdruck). Europa wurde innovativ und zentralisiert, denn das Pestchaos stärkte die Könige gegenüber den Adligen (deren Leibeigene wegfielen, weil sie starben oder, aufgrund größerer Verhandlungsmacht, frei wurden oder gar in die Städte gingen). Dass sie zusätzlich als Ordnungsmacht auftraten, indem sie gegen Plünderer und Raubritter (oft verarmte Adelige) vorgingen, steigerte ihre Legitimität zusätzlich gegenüber Kirche und Adel und verschaffte ihnen die Unterstützung der unteren Schichten, die sich als Söldner auf die Seite des Königs schlugen. Die starken Königinnen wiederum sollten die kommenden Expansionszyklen Europas bestimmen.

Wenn wir die Geschichte so lesen, sehen wir, wie dialektisch es in ihr zugeht: Obwohl diese erste Phase der Globalisierung ihr deglobalisierendes Gegenteil bereits in sich trug, enthielt diese Negation wiederum deren Negation, also die Fortsetzung des Weltverknüpfungsprojekts auf höherer Ebene – später, intensiver und mit anderen politischen Raumakteurinnen. Den Anfang machten Portugiesen und Spanier, die sich, angefeuert von genuesischem Kapital und mit der Wucht der Reconquista im Rücken, im 15. Jahrhundert mit Waffengewalt und schnellen Schiffen ins eurasische Teilsystem drängten und ihm Amerika hinzufügten. England, Frankreich und die Niederlande sollten ihnen bald folgen.

Dasselbe Hin-und-her-Spiel wiederholte sich in späteren Kontraktionsphasen, als sich die künftigen Expansionsgestalten schon im Abschwung formierten: Im Dreißigjährigen Krieg etwa entstanden mit den absolutistischen Monarchien bereits einige der Expansionsagentinnen der kommenden Phase, weil sie die Gesellschaft intensiver durchdringen und größere Machtmittel bereitstellen konnten als alle politischen Formationen zuvor (durch Merkantilismus, Bündelung der Macht am Hofe und  Schaffung einer Bürokratie, die schon über den König hinauswies). In den napoleonischen Kriegen, dem nächsten Kontraktionsereignis, entstanden Elemente des imperialistischen Nationalstaats, der durch Massenbeteiligung abermals seine Intensität steigern konnte und die kommende Expansionsphase bestimmte, bevor auch diese 1914 in ihr kontrahierendes Gegenteil umschlug. Dann kamen nämlich die überstaatlichen Blöcke, die schon in Großraumdimensionen dachten und den Nationalstaat überstiegen (vor allem im nationalsozialistischen Europagedanken zeigte sich, dass die Nazis an der Nation nicht sonderlich interessiert waren). Sie ließen das Weltsystem von 1914 bis 1945 kontrahieren, gingen aber auch als Expansionsgestalten in die nächste Runde, in der NATO und Warschauer Pakt die Welt organisierten. Die Dekolonialisierung der 1940er, 50er und 60er Jahre, die Öffnung Chinas seit den späten 70ern und der Zusammenbruch der Sowjetunion in den späten 80er Jahren hatten dem wieder expandierenden Weltsystem frisches Material zugeführt und die Globalisierung angeheizt. Jetzt neigt sich diese Phase wohl ihrem Ende entgegen.

Corona reiht sich zunächst ein in die Deglobalisierungstendenzen des vergangenen Jahrzehnts, vor allem Jahrfünfts: Trump und Johnson, Modi und Bolsonaro, Le Pen und Strache versprechen alle – auf ihre Weise – weniger Kooperation (oder Befehle von oben und außen) und mehr Schutz ihres eng gezogenen Bevölkerungskreises, wofür sie Grenzen schließen möchten. Ihr Partikularismus  bricht schon seit einiger Zeit mit Globalisierungsuniversalismen der 90er und 0er Jahre; sie sind die Vorhut der Anti-Habermase, die jetzt überall aus dem Boden sprießen dürften.

Die neuere Umweltbewegung, auf der anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelt und gar nicht mal so unhabermasianisch, ist ebenfalls kontraktiv, weil sie – neben technologischem Wandel – Einschränkungen der Mobilität, Entkopplung der Märkte oder sogar Deindustrialisierung fordert, um den Klimawandel in den Griff zu bekommen (einige jubeln schon, dass jetzt Wildschweine nach Mailand zurückkehren, der Himmel über Peking wieder blau ist und Deutschland seine Klimaziele doch noch schaffen könnte). Die Bewegung hat aber noch einen zweiten, expansiven Kern, weil sie globale Aktionen gegen den Klimawandel einfordert, also an die Weltgemeinschaft appelliert.

Die Seuche ist also nicht der Auslöser, sondern nur ein weiterer (wenn auch vielleicht der wichtigste) Baustein der kommenden Kontraktion, die sich schon allein dadurch verschärfen dürfte, dass die US-Stützmacht der vorangegangenen Expansionsphase wegbricht: In der Corona-Krise fällt der alte Hegemon durch Abwesenheit (anfängliche Leugnung) und nationale Alleingänge auf. Damit befördert er die Renationalisierung der Politik und macht sie zugleich fraglich, weil deren Steuerungsdefizite offenkundig werden – auch dieser Effekt ist also doppeldeutig.

Aber der nächste Hegemon steht schon bereit. Peking hilft Italien und Serbien – und halb Afrika ohnehin – mit Geld und Material und selbst die USA werden inzwischen mit chinesischer Pandemiebekämpfungstechnik beliefert. Außerdem ist es, sollte es jetzt tatsächlich einen autoritären Schwenk im Westen geben (dazu gleich mehr), geübter in den dafür notwendigen Regierungstechniken. Die Welt wird sich künftig etwas mehr für China interessieren, das zum neuen Vorbild werden und damit endlich jene soft power bekommen könnte, die eine aus sich heraus starke Macht zusätzlich braucht, um die Führung zu übernehmen.

Doppeldeutig jedoch ist auch die neue Macht. Zwar gibt sie sich partikularistisch (etwa wenn sie sich keinem universellen Menschenrechtsregime unterwerfen will und sich Einmischungen in seine nahe Außensphäre verbittet). Sie hat aber noch einen zweiten, universalistischen Kern, der im Marxismus-Maoismus steckt und noch immer den Anspruch hat, die Proletarier aller Länder zu vereinigen. Zwar tritt es jetzt als partikular-universale Stützmacht auf – bis wir ein neues, globales Großraumsystem mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte haben. Aber schon darin kündigt sich die kommende Expansion an, weil sich nämlich Chinas Großraum (die Neue Seidenstraße macht das deutlich) über ganz Eurasien und Afrika erstrecken dürfte und weil die Versprechen seiner Befriedung (in Wirtschaft, Technologie und Ökologie, zu der jetzt vor allem Seuchenschutz gehört) nach Globalität verlangen.

Vielleicht ist ja die Weltgesundheitsorganisation, die sich derzeit ganz gut schlägt, der Nukleus einer künftigen globalpolitischen Struktur (zu anderen, chinesischeren Bedingungen). Die europäische Integration hat ebenfalls mit einer supranationalen Behörde begonnen, die Krisenstoffe – Kohle und Stahl als volkswirtschaftliches Stärke- und Kriegsmittel – unter gemeinsame Aufsicht stellte. Die WHO könnte ihr nun nachfolgen, indem sie die weltweiten Regierungstechniken zur Seuchenbekämpfung bündelt und verfeinert. Der Unterschied ist nur, dass die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl über Produktion und Förderung entschied, während das Zentralprodukt der WHO gerade ein Nichtprodukt ist, denn ihr Ziel ist Verhinderung, nicht Förderung von Dingen, weshalb ihre Weltsouveränität eine negative wäre.

Form: Der Ausnahmezustand hilft dem autoritären Staat und dem Kommunismus

Noch ein anderer Streit könnte ohne Sieger ausgehen, weil in ihm alle Seiten recht haben, obwohl sie einander widersprechen: der zwischen Warnern vor einer gesteigerten Staatsintensität, die eine autoritäre Welle befürchten (Aufstandsanarchistinnen wie Tiqqun, Rückzugsanarchisten wie Agamben und Liberale wie Schlott) und denen, die glauben, dass der Kommunismus (Žižek ) oder die ökologische Wende jetzt vielleicht doch noch möglich werden. Es geht dabei um die Frage, ob der Ausnahmezustand bloß leerer Zwang oder ein Mittel zu Öffnung ist, das unvorstellbare Dinge plötzlich möglich macht: Denkbar ist etwa, dass das Gesundheitssystem schon bald wieder in die öffentliche Hand überführt wird, sodass die knappen Kalkulationen privater Krankenhäuser nicht mehr nötig sind (Macron hat das ja schon angedeutet und Spanien hat es bereits getan). Die Bertelsmann-Stiftung dürfte ihre Forderung vom letzten Jahr, die Hälfte der Krankenhäuser zu schließen, weil es zu viele Betten gebe, so schnell nicht wiederholen, ohne dafür ausgelacht zu werden. Vielleicht werden die Menschen nun mit dem Neoliberalismus überhaupt brechen, einen neuen Möglichkeitsglauben entwickeln und ihre Sozialität wiederentdecken, weil sie zu der Überzeugung gelangen, dass sich diese Krise nur als Gemeinschaftsakt meistern lässt, was in der heutigen Weltgesellschaft für Slavoj Žižek die Einsicht bedeutet: „Wir sitzen alle im gleichen Boot. Wir brauchen eine globale Koordination und Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Virus“, sodass „globale Solidarität und Zusammenarbeit im Überlebensinteresse von uns allen und das einzig Rationale und Egoistische sind, was man tun kann“ (der Egoismus wird also nicht abgeschafft, sondern durch Steigerung in sein Gegenteil verkehrt). Vielleicht befindet sich die Wirtschaft bald derart im freien Fall (immerhin haben die Notenbanken ihr Pulver bereits verschossen), dass es ohne Riesenkonjunkturprogramme, vergemeinschaftete Industrien oder sogar Währungsreformen und Schuldenerlasse nicht mehr geht, will man nicht einen Aufstand der arbeitslos gewordenen Massen riskieren.

Und vielleicht wird jetzt jenes ökologische Bewusstsein, das die Jungen fordern, auch bei den Alten wachsen, die von der Seuche am schlimmsten betroffen sind. Denn diese hat einige (anti-)ökologische Ursachen wie (Massen-)Tierproduktion oder Hyperurbanisierung. Auch wenn die Diskussion um die wirkliche Wurzel des Virus noch anhält und es sein kann, dass in dieser Pandemie die Massentierhaltung nicht das Entscheidende war (wohl aber die durchkommerzialisierte Wildlandwirtschaft), so wird es im anbrechenden Zeitalter der Seuchenbekämpfung um Verhinderung aller Pandemien gehen und da gibt es einige, die aus der Massentierhaltung (und Agrarindustrie) entstanden sind; das sagt auch die WHO. Und schließlich gibt es, eine Stufe konkreter, Hinweise, dass Verbreitungsgeschwindigkeit und Tödlichkeit der Seuche von den Feinstaubwerten abhängen. Über Ökologie wird also noch zu reden sein – zumal sie  in den letzten Jahren bereits zum tragischen Großthema geworden ist, dessen Dringlichkeit man zwar erahnt hat, das aber mächtige Gewohnheiten gegen sich hatte und über keine Mittel verfügte, um sie zu durchbrechen. Jetzt sind sie plötzlich da.

Dass das Virus im spätkommunistischen China unter kapitalistischen Bedingungen ausbrach (Wildtierhaltung für wachsende Gourmetmärkte) und sich verbreitete (über die Globalisierungsrouten), im kapitalistischen Westen jetzt aber zaghafte kommunistische Sehnsüchte weckt und den Liberalismus zurücknimmt, ist schon ein Ding, das zeigt, wie verworren es hier zugeht und was da alles aufbricht (Ich danke meinem Freund Till Wendrich für diesen Hinweis).

Es ist also gut möglich, dass die Suche nach der Wurzel der Pandemie – oder die Weiterführung der jetzt geschaffenen Eingriffsmittel – zu sozialen und ökologischen Programmen führen, die den derzeitigen politischen Möglichkeitsrahmen sprengen und sogar beim Öko-Kommunismus anklopfen. Unterstützt werden könnte ein solches Formexperiment von jenen Ortsexperimenten, die jetzt anstehen dürften. Ulrike Herrmann hat darauf hingewiesen, dass eine Deglobalisierung bereits ein Frontalangriff auf den Kapitalismus wäre, der die Expansion braucht. Hier springt also die Frage nach dem Ort auf die nach der Form über und es zeigt sich, dass beide zusammengehören.

Es könnte so kommen: Die jetzt anstehende Deglobalisierung greift in die kapitalistische Mechanik ein und setzt damit zunächst einmal den Liberalismus außer Kraft. Das kann uns in Richtung Öko-Kommunismus stupsen oder zu dessen Gegenteil führen. Denkbar ist nämlich , dass der Ausnahmezustand einfach weiter genutzt wird, um andere Schändlichkeiten durchzusetzen; dass Grundrechte (auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit oder auf Asyl) dauerhaft ausgesetzt werden; dass die Parlamente (so wie schon in den finanz- und migrationspolitischen Gretchenfragen des vergangenen Jahrzehnts) weiter marginalisiert werden; dass Gesundheitsdaten ab jetzt permanent erfasst werden (wofür sich bald auch Krankenkassen und Arbeitgeber interessieren werden) und dass die Telekom ihre Bewegungsprofile nicht nur ans Robert-Koch-Institut weitergeben wird. Überdies wird die Polizei- und vielleicht auch die Militärpräsenz erhöht, um die Gesundheitsmaßnahmen durchzusetzen und die Ordnung aufrecht zu erhalten (Es hat also ein Kampf, vielleicht ein Krieg um das Außergewöhnliche und das Gewöhnliche begonnen, der totale Gewalt über alle Situationen will; das meint Agamben, wenn er bei den Corona-Maßnahmen Angst bekommt). Warum sollte ein Staat all das einfach wieder zurücknehmen, wenn es ihm doch dabei hilft, seine wichtigste Pflicht zu erfüllen, nämlich das Überleben seiner Bürgerinnen zu sichern? Und warum soll er die Mittel nicht noch ein bisschen ausdehnen und weiternutzen für andere Großmaßnahmen? Der Kommunismus wäre so eine Großmaßnahme, die aber, auf diese Weise in die Welt gebracht, nicht mehr viel gemeinsam hätte mit einer Assoziation der freien und gleichen Individuen.
Beide Wege könnten konvergieren: Autoritärer Ausnahmezustand und Kommunismus passen gut zusammen (so wie auch Expansion und Kontraktion zusammenlaufen). Hat nicht der letzte Kommunismusversuch ganz ähnlich angefangen? Möglich wurde er im Ersten Weltkrieg, der die Mittel zur Bevölkerungserfassung zunächst derart gebündelt und anschließend die Massenloyalität vom Zaren abgezogen hatte, dass die Revolutionäre sie einfach übernehmen konnten, um ihre Diktatur des Proletariats zu errichten.

Der globale Babeuf

Einige wünschen sich, dass die Durchgriffsmöglichkeiten nach überstandener Pandemie beibehalten werden, um die ökologische und soziale Wende zu erzwingen. Meistens wollen sie das global. Einer, der das schon vor 50 Jahren vorgeschlagen hatte, war der DDR-Dissident und frühe Philosoph der grünen Bewegung Wolfgang Harich. 1975 forderte er, die ersten Berichte des Club of Rome lagen gerade vor, einen globalen Zwangsstaat zur Verwaltung des Mangels, so wie ihn Gracchus Babeuf in der Französischen Revolution durchsetzen wollte, um die Last der notwendigen Ressourcenbegrenzung gleich zu verteilen. Damit würde die bürgerliche Gesellschaft an ihrem Ende zu ihren Ursprüngen zurückkehren und Einschränkung zur obersten Staatspriorität machen. Kommunismus wäre dann nicht mehr die Produktion des marxschen Überschusses, sondern dessen Einhegung und die Rationierung des konstanten Reichtums, also gerade das Gegenteil von dem, was man über ihn annimmt und was ihn anziehend macht (ein solcher Kommunismus der Einschränkung passt zur negativen Souveränität eines Weltgesundheitsregimes, das nichts produzieren und nur verhindern will). Auffällig ist, dass in der Figur des globalen Babeuf Expansion und Kontraktion zusammenfallen: Es gibt eine globale Autorität, die das Ganze in seine Einzelteile zerlegt, um die Weltgesellschaft von sich selbst getrennt zu halten, damit sie den Unfug, zu dem sie tendiert, bleiben lässt. Die Corona-Krise bringt uns vielleicht noch nicht diesen globalen Babeuf. Aber ein Schritt dorthin könnte sie schon sein.

Vielleicht wiederholt sich jetzt auf globaler Ebene die Geschichte des ersten Kommunismus von der Oktoberrevolution bis zum Nachstalinismus (Krieg, Zerfall, Stabilisierung, Barbarei und Mangelwirtschaft): Die Pandemie ist der neue Krieg, die einsetzende Rezession der ökonomische Weltbürgerkrieg, die Stabilisierung des Weltsystems durch China  bringt autoritäre Erholung (Globalleninismus und Neue Ökonomische Politik), aber die neue Barbarei, deren Grund wir noch nicht kennen, wird nicht lange auf sich warten lassen. Anschließend findet die Welt zu Harichs Diktatur des Mangels, die die Nachkriegssowjetunion wiederholt; mehr ist vielleicht nicht drin.