Das Gefüge des Übersetzers – Zum Tod von Ronald Voullié

Es ist keineswegs ausgemacht, wie der philosophische Begriff agencement am treffendsten ins Deutsche zu übersetzen ist. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben diesen Begriff in den späten 1970er Jahren geprägt, als Alternative zu ihrem oft missverstandenen Konzept der Maschine. Dominierte anfangs die linguistisch orientierte Übersetzung als „(Aussagen-)Verkettung“, wurde nach und nach deutlich, dass es eigentlich um die komplexen Verkopplungen von Zeichen und Materie, Technik und Körper oder Mensch und Tier ging. Dementsprechend lag es nahe, agencement im Sinne von „(räumlicher) Anordnung“ oder auch „Wirkungszusammenhang“ zu verstehen.

Als Ronald Voullié 1992 – zusammen mit seiner damaligen Partnerin Gabriele Ricke – das Hauptwerk von Deleuze und Guattari übersetzte, entschied er sich für den schillernden Ausdruck „Gefüge“. Bis heute transportiert dieses schöne, in seiner Bedeutung zwischen Struktur und Dynamik changierende Wort den philosophischen Gehalt des agencement-Begriffs sehr viel besser als etwa die englische Übersetzung mit assemblage. Dennoch dachte Voullié später über Alternativen nach: Wäre mittlerweile nicht die Zeit gekommen, auch im Deutschen von Agencement zu sprechen? Hatte sich der Sprachgebrauch nicht insgesamt verändert?

Die Übersetzung von Tausend Plateaus war die umfangreichste Arbeit, die Voullié für den Merve-Verlag machte, aber es war bei weitem nicht die erste und nicht die letzte. 1979 hatte er mit dem Nietzsche-Lesebuch von Deleuze und mit Texten von Jean Baudrillard und Paul Virilio begonnen, danach kamen Aufsätze und Bücher von Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Pierre Klossowski und vielen anderen hinzu. Zugleich weitete sich das Spektrum der Auftraggeber. An die Seite des Merve-Verlags traten der Bremer Impuls-Verlag, Matthes und Seitz in München sowie Klaus Wagenbach in Berlin – allesamt unabhängige Kleinverlage, die im Gefolge der Studentenrevolte von 1968 das akademische und publizistische Establishment herausforderten.

Diejenigen, die sich seither für das zeitgenössische Denken in Frankreich interessierten, haben mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann eines der knapp 200 Bücher in Händen gehalten, die von Voullié übersetzt worden sind – von Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod über Lyotards Ökonomie des Wunsches bis hin zu Virilios Sehmaschine und Klossowskis Lebender Münze. Man kann auch sagen, ohne die unermüdliche Arbeit Voulliés hätte es den „langen Sommer der Theorie“ im deutschsprachigen Raum nicht gegeben.

1952 in Bremen geboren, war Ronald Voullié kein gelernter Übersetzer. Wie viele andere nach ihm wurde er Mitte der 1970er Jahre durch das Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften auf das französische Denken aufmerksam. Mit Gabriele Ricke hörte er an der Universität Hannover Vorlesungen bei Oskar Negt und Elisabeth Lenk, interessierte sich für den Surrealismus, Georges Bataille und de Sade und nahm schließlich über Nachwuchswissenschaftlerinnen wie Gerburg Treusch-Dieter, mit der er befreundet war, Tuchfühlung zur zeitgenössischen Philosophie Frankreichs auf.

Die Aneignung dieser Philosophie fand in der Regel im Kollektiv statt, als eine Art Fortsetzung der „Selbstagitation“ marxistischer Gruppen. Vor allem in der Zusammenarbeit mit dem Merve-Verlag entwickelte sich daraus bald eine bestimmte Form der Text-Arbeit: das Übersetzen „mit vier Augen“. Nachdem die Rohfassung der deutschen Version etabliert, korrigiert und, wo nötig, revidiert worden war, wurde der Text in gemeinsamen Sitzungen Wort für Wort, Satz für Satz laut vorgelesen, um ihn auf diese Weise nochmals mit dem französischen Original abzugleichen – ein zeitraubendes Verfahren, für das Ronald Voullié immer wieder von seinem Wohnort Hannover nach Berlin kam, um auf diese Weise selbst zum Teil einer Aussagen-Verkettung, eines kollektiven Gefüges, eines Agencements zu werden.

Auch nach dem Tod von Heidi Paris und dem Ausscheiden von Peter Gente, in den 2010er Jahren, blieb Voullié dem Merve-Verlag verbunden. Etwa drei bis vier Bücher pro Jahr übersetzte er regelmäßig für dieses Haus, zuletzt etwa Badiou, Guattari, Rancière. Zugleich wandte er sich aber auch leichterer Kost zu, vor allem den Frankreich-Krimis von Jean-Claude Izzo, die er mit zusammen mit Katarina Grän ins Deutsche brachte. Darüber hinaus verfolgte Voullié eigene Interessen, beispielsweise die Kommentierung der avantgardistisch-anonymen Da Costa Enzyklopädie, die Herausgabe von Mallarmés Vortrag über Auguste de Villiers de l’Isle-Adam oder aber die Übersetzung der Werke von Fernand Deligny für den Verlag Peter Engstler.

Ronald Voullié war kein prominenter, aber ein untergründig breit wirkender Übersetzer. Im persönlichen Gespräch war er zurückhaltend, fast schüchtern. Auf Verlagsveranstaltungen stand er oft am Rand und beobachtete das manchmal akademische Geschehen eher beiläufig – eine Haltung, die vor allem auf die Jüngeren sehr cool wirkte. Dennoch war er immer an informiertem Austausch und guter Zusammenarbeit interessiert. Weitere Vorhaben, so etwa die fest geplante Arbeit zu Guattaris Schizoanalytischen Kartographien, wird er nun leider nicht mehr verfolgen. Am 29. September 2020 ist Ronald Voullié vollkommen überraschend verstorben.

Ronald Voullié 2019 im Landesmuseum Hannover (Foto: Privat)