Musks Twitter: Was bisher geschah

Sink In

»Welcome to Hell, Elon« überschrieb das Online-Magazin The Verge einen Artikel, nachdem Elon Musk am 28. Oktober 2022 Twitter dann tatsächlich gekauft hatte. Tags zuvor hatte er sich selbst zum »Chief Twit« ernannt und war mit einem Waschbecken in den Händen in die Firmenzentrale in San Francisco einmarschiert, nicht als Weltgeist zu Pferde, sondern als wandelndes Wortspiel und Möchtegern-Meme: »Let that sink in.« Donald Trump kommentierte noch am selben Tag auf seiner eigenen Social-Media-Plattform Truth Social: »I am very happy that Twitter is now in sane hands, and will no longer be run by Radical Left Lunatics and Maniacs that truly hate our country.« Ein paar Wochen später war sein nach dem Putschversuch vom 6. Januar 2020 gesperrter Account per von Musk spontan angesetzter Umfrage auf Twitter reaktiviert. [1. Trump verkündete allerdings, er wolle bei Truth Social bleiben. Dem Satz zu Twitter war einer vorangegangen, dessen alternative Fakten nur in den Echokammern von Trumps Hirn Realitätsbezug haben: »TRUTH SOCIAL has become somewhat of a phenomena. Last week it had bigger numbers than all other platforms, including TikTok, Twitter, Facebook, and the rest. It also looks and works better to my eye.« (www.independent.co.uk/news/world/americas/us-politics/trump-truth-social-elon-musk-b2212822.html). In Wahrheit ist Truth Social seit seinem Launch im Februar 2022 ein Desaster. Die Nutzerzahlen sind mau, die technischen und finanziellen Probleme groß, die politische Schlagseite ist trotz aller Free-Speech-Schwüre offenkundig, viele von Trumps rechten Verbündeten wie Tucker Carlson machen trotzdem nicht mit. Das Online-Magazin Business Insider resümierte im April 2022: »It was like a conservative ghost town that had been overrun by bots.« Rosie Bradbury, I spent a week on Trump’s new social media app Truth Social (www.businessinsider.com/trump-truth-social-media-app-review-ghost-town-overrun-bots-2022-3).]

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Als Musk im April 2022 – natürlich auf Twitter – verkündete, er wolle das Unternehmen kaufen und damit vom Aktienmarkt nehmen, hielt mancher das noch für einer bloßen Laune entsprungen. Plausibel ist es, den Kauf als (Über)Reaktion auf die immer konsequentere Moderations- und Suspendierungspolitik von Twitter zu sehen. So hatte sich Musk auf Twitter über die Suspendierung des christlich-konservativen Satire-Accounts Babylon Bee wegen eines transfeindlichen Witzes enorm echauffiert. Yoel Roth, der langjährige Zuständige für Trust and Safety bei Twitter, sieht den Vorfall als wichtigen Anlass. [1. Vgl. das Gespräch mit Yoel Roth, Why Twitter’s Safety Chief Left Elon Musk im Podcast On With Kara Swisher vom 1. Dezember 2022 (open.spotify.com/episode/3P8OdnmPUVT9deWVDgQG8e). Musks eigene Erklärung vom 5. Dezember ist nicht unbedingt hilfreich: »I can’t exactly say why because it’s one of those things where, it’s like: my biological neural nets said, ›It is important to buy Twitter‹ and just like with a digital neural net, you can’t really exactly explain why the neural net is able to understand an image or text – the collective result of the neural net says this is an important decision, or this is the right action, and my biological neural net concluded that it was important to buy Twitter, and that if Twitter was not bought and steered in a good direction, it would be a danger for the future of civilization, and so that’s why I bought it.« (zit. n. twitter.com/chancery_daily/status/1599539225992384513)] Das passt ins Bild, da sich das Drama um Twitter schnell als Teil des Kulturkampfs der neuen Rechten erwies – Transphobie gehört zum Kernbestand der Anti-Woke-Ideologie. Dennoch hat Musk in der Folge zunehmend verzweifelt den Deal rückgängig zu machen versucht. Offenbar jedoch hatte er den Kaufvertrag ausgesprochen sorglos verhandelt. Als ihm klar wurde, dass seine Sache vor einem Schiedsgericht in Delaware recht aussichtslos war, trat er vom Rücktritt vom Kauf wieder zurück. [1. Zuvor hatte er seinen Chat- und Mailverkehr rund um die Übernahme präsentieren müssen. So kam heraus, dass auch Springer-Chef Mathias Döpfner gerne mitgemischt hätte: »Am 30. März 2022 fragt Döpfner Musk per SMS: ›Warum kaufst du nicht Twitter?‹ Und er schlägt ihm gleich noch ein Geschäft vor: ›Wir managen es für dich. Und errichten eine wahre Plattform für freie Meinungsäußerung.‹ Ein ›echter Beitrag zur Demokratie‹ wäre das, frohlockt Döpfner. ›Interessante Idee‹, antwortet Musk, worauf Döpfner noch einmal nachlegt: ›Ich meine das ernst. Es ist machbar. Es wird Spaß machen.‹« Alexander Demling, Mathias Döpfner wollte Twitter fürMusk managen. In: Spiegel vom 30. September 2022 (www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/matthias-doepfner-wollte-twitter-fuer-elon-musk-managen-a-8d180ca3-92aa-491b-bc78-e3bb10bf53d7).]

Selbst für den reichsten Mann der Welt, Boss und /oder Gründer von SpaceX und Tesla (und Neuralink und The Boring Company), sind 44 Milliarden Dollar kein Taschengeld, es handelte sich immerhin um »die größte fremdfinanzierte Übernahme eines Technologieunternehmens« überhaupt. [1. Lauren Hirsch, Can Elon Musk Make the Math Work on Owning Twitter? In: New York Times vom 30. Oktober 2022 (www.nytimes.com/2022/10/30/technology/elon-musk-twitter-debt.html). 5] Musk musste sich und die Firma bei Banken, Kreditgebern und Investoren (private Venture-Capital-Firmen wie AH Capital Andreessen /Horowitz, aber auch bei Staatsfonds von Saudi-Arabien und Katar) verschulden. [1. Eine Übersicht findet sich unter www.reuters.com/markets/us/who-is-financing-elon-musks-44-billion-deal-buy-twitter-2022-10-07/] Die zusätzliche Schuldenlast Twitters liegt nach der Übernahme laut New York Times bei 13 Milliarden Dollar, die jährlichen Rückzahlungen liegen bei einer Milliarde. Und dies alles für eine Firma, deren Bedeutung noch nie im Ökonomischen lag. Lange, genauer gesagt in acht der letzten zehn Jahre, hat Twitter keine oder kaum Gewinne gemacht, war und blieb auf der Suche nach einem überzeugenden Monetarisierungsmodell, war und blieb auf die Finanzierung durch Werbung angewiesen, die viele Risiken birgt. Zum einen eine starke Konjunkturabhängigkeit (die absehbare Rezession kommt, wie Musk sofort eingeräumt hat, zum ganz falschen Zeitpunkt), aber auch der Druck der Werbetreibenden auf ein möglichst sauberes Umfeld ist für das schon bisher als Radau-Plattform verschriene Twitter ein großes Problem. Zudem ist das Unternehmen von den durch Werbung monetarisierbaren Nutzerzahlen her ein kleiner Fisch, von den großen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Instagram, YouTube oder TikTok sehr weit entfernt.

Teufels Küche

Dennoch ist Twitter im Lauf der Jahre zum einflussreichsten sozialen Medium der Welt geworden, ein Global Player, bedeutsam auch da, wo es – wie in China oder Russland oder dem Iran – gebannt und verboten und nur auf technischen Umwegen erreichbar ist. Es ist der Ort, an dem sich Propaganda ebenso wie revolutionärer Widerstand artikuliert, an dem sich Führer von Demokratien, aber auch von Schurkenstaaten äußern, selbst solchen, in denen Twitter selbst nicht legal genutzt werden kann. Die Plattform war, und ist auch im Moment noch (Stand: 8. Dezember 2022), in einer zum Topos und zuletzt zum Kern der Selbstbeschreibung gewordenen Metapher »der Dorfplatz der Welt«, [1. So gleich zweimal im ersten offiziellen Post nach Elon Musks Übernahme: blog.twitter.com/en_us/topics/company/2022/twitter-2-0-our-continued-commitment-to-the-public-conversation. In Wahrheit ist es natürlich sehr viel komplizierter, schon weil Twitter in vielen Ländern der Welt ein je eigener Dorfplatz ist. Im Kontext von Musks Twitter-Kauf dazu: Mark Scott, Digital Bridge: Global Twitter. In: Politico vom 8. Dezember 2022 (www.politico.eu/newsletter/digital-bridge/global-twitter-three-is-of-social-media-eu-us-data-pact/).] ein so in der Geschichte der Menschheit noch nicht dagewesenes perpetuum mobile der Echtzeitproduktion von Neuigkeiten, Debatten, Informationen, Kommentaren, Expertisen, aber auch von Fake News, Troll-Kampagnen, Bot-Angriffen geheimdienstlich-staatlicher und anderer Akteure. Twitter ist Schauplatz von ständigem Streit und Hass, ein von Gatekeeper-Filtern redaktionell nicht gebremstes, von niemandem als Gesamt überschautes, in ungezählte und unzählbare nationale, sprachliche, aber auch Community-bezogene Submedien gefaltetes Meta-Medium, das viele Öffentlichkeiten bespielt und auf Trab hält, dabei aber doch als großes Ganzes adressierbar bleibt und zitiert wird, als spräche hier am Ende doch etwas wie Gesellschaft.

Twitter ist ein Forum für sehr viele Stimmen, dabei aber seit Jahren schon fest verkoppelt mit den Massenmedien und ihren Protagonistinnen und Protagonisten, die als Akteure wie als Beobachter der Plattform agieren. Ein Medium, das Leben zerstören und Karrieren anstoßen kann, eine Versammlung von anonymen und verifizierten, von außerhalb der Twitter-Sphäre bekannten und unbekannten, von privaten, zivilgesellschaftlichen und staatlichen Sprecherinnen und Beobachterinnen. Ein Medium, das wie alle Medien Öffentlichkeit herstellt, dabei von denen, die sich darin äußern und darin auftreten, immer gleich beobachtet wird, ein System, in dem es dieser Selbstbeobachtungen und Selbstthematisierungen wegen ständig zu Kurzschlüssen, Eskalationen und operativen Schließungen kommt.

Den Massenmedien fallen zunächst immer Massenmedien auf. Twitter war und ist aber auch als soziales Medium par excellence ein Ort, an dem als Chor der Einzelstimmen die Wissenschaft, das Recht, die Kunst, der Sport, der Pop und das Entertainment und viele andere, wenn nicht alle Teilsysteme der Gesellschaft in Text und Bild und Ton, in Gifs und Memes über sich und die Welt kommunizieren. Und es ist, ganz gewiss nicht zuletzt, ein Ort, an dem die Stimmen von sozial und ökonomisch Marginalisierten durch gegenseitige Selbstverstärkung hörbarer wurden, als sie es in den massenmedialen Öffentlichkeiten auch der liberalen Gesellschaften waren und sind, in denen die längste Zeit, wenn überhaupt, Nichtmarginalisierte über und im besten Fall für sie sprechen und sprachen.

Exemplarisch steht dafür das vor allem US-amerikanische Black Twitter, eine längst auch wissenschaftlich untersuchte riesige Teilöffentlichkeit, die einen Aktivismus mit genuin eigenen Formen, Hashtags, Memes, Sprechweisen und Widerstands- und Solidarisierungsstrukturen ausgebildet hat.7 Die andere, von den nicht wenigen Twitter-Verächtern vorzugsweise betonte Seite der Wahrheit: Es ist ein ständiger, aufreibender und oft zermürbender Kampf um und für safe spaces, gegen hate speech und Alt-Right, gegen Denunziation und Doxxing, gegen sehr gezielt vorgehende, bestens vernetzte auf Verletzung und Zerstörung zielende Akteure.

Twitter ist sehr viel stärker als andere soziale Medien, in denen es primär um Privates (Facebook) oder Unterhaltendes (TikTok) geht, ein Raum, in dem sich, um den herum sich eine politische Öffentlichkeit organisiert. Sie tut dies auf eine Weise, die nicht nur Jürgen Habermas starkes Unbehagen bereitet, nämlich in vieler Hinsicht unreguliert, ohne dass da jemand wäre, der oder die zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen für die politische Öffentlichkeit Relevantem oder Irrelevantem entscheidet.8 Niemand da, weit und breit, der als Gatekeeper den Zugang zu dieser Öffentlichkeit steuert, keine redaktionsförmigen Filter, die Texte oder Bilder in Auftrag geben, den Wert des Gesagten und Gedachten und Gezeigten abwägen und über Veröffentlichung oder Nichtveröffentlichung entscheiden. Keine Redakteurin, kein Redaktionsschluss, kein Chefredakteur, keine Qualifikation, die Zugänge regelt. Wer mag und wer kann, sicher auch: Wer es sich zeitlich leisten kann, redet und postet mit, und zwar zu allem und möglichst sofort. Twitter ermöglicht, ja, fordert die unmittelbare Reaktion, belohnt Schnelligkeit und steile Thesen, produziert am laufenden Band breaking news und die hot takes und Leitartikel dazu im Mikroformat.

Das Ergebnis ist im Guten wie im Bösen ein ungeheurer Gewinn an Vielfalt der Stimmen, der Perspektiven, der Artikulationsmöglichkeiten und Aufmerksamkeitschancen für Themen, Personen, Anliegen, die in der redigierten Öffentlichkeit aus gutem oder schlechtem Grund an den Rand gedrängt waren. So werden neben Expertinnenwissen, sei es zu Virologie oder Krieg, auch Fake News und Verschwörungstheorien verbreitet, wird aber auch immerzu über den Unterschied zwischen beidem gestritten. Emanzipatorische Anliegen können, unter Hashtag-Stichworten wie #MeToo, #BlackLivesMatter oder #IchBinHanna in die nach wie vor ein größeres Publikum erreichenden traditionellen Medien Fernsehen, Radio, Presse zurückgespielt werden. Für diese wiederum ist Twitter nicht nur Konkurrent (als Medium, das soziale Realität präsentiert), sondern auch die Bühne, auf der sich die Selbstartikulation und Selbst-Performance der Gesellschaft vermeintlich unmittelbar beobachten lassen. Im schlechten Fall führt das dazu, dass Twitter-Deutschland über Fernseh-Talkshows diskutiert, die auf von Twitter mindestens miterzeugte Aufgeregtheiten reagieren, während noch in der Sendung Tweets, die die Sendung kommentieren, ihrerseits kommentiert werden.

Twitter ist dabei, wie Studien belegen, gerade nicht eine Öffentlichkeitsform, in der sich gesellschaftliche Gruppen in Echokammern und Filterblasen ideologisch sortieren und separieren und selbst verstärken. [1. Eine gute Übersicht über die Gegenargumente zu Eli Parisers in seinem Klassiker The Filter Bubble (2011) entworfenen Thesen bietet Peter M. Dahlgren, A critical review of filter bubbles and a comparison with selective exposure. In: Nordicom Review, Nr. 42/1, Januar 2021.] Ideologisch halbwegs sortiert waren ohnehin immer eher (private) redaktionelle Medien, deren Vorauswahlen für Erwartbarkeit sorgen. Twitter dagegen ist ein irreduzibel agonaler Raum, in dem sich begegnet und in dem aufeinander stößt und gestoßen wird, was sich in der im Alltag auf Begegnung in Rollen zugeschnittenen Face-to-Face-Kommunikation wenn nicht räumlich, so doch sozial fern bleiben kann und in der Regel auch fern bleibt. Gerade weil man so schnell Konträrem begegnet, wird der Ton scharf, geht es so häufig hoch her.

Technisch Soziales

Die Plattformen haben sich gegen die Idee, klassischen Medien ähnlich zu sein, immer gesträubt, und, um sich von der Verantwortung für Inhalte zu entlasten, eher den Vergleich mit der Post oder Telekommunikationsunternehmen gesucht – also mit Intermediären, die nur die technischen Voraussetzungen für Kommunikation schaffen. Da aber die Kommunikation auf den Plattformen, und ganz besonders auf Twitter, in der Regel auch Veröffentlichung ist, traten an die Stelle der aufgrund der Quantität unmöglichen redaktionellen Vorauswahl Formen der Filterung und Nachregulation von Inhalten, und zwar in einer Kombination von Künstlicher Intelligenz, Meldung durch Nutzer und meist in Billiglohnländer ausgelagerter menschlicher Moderation.

Twitter hat den Free-Speech-Absolutismus, mit dem es in Person seines Gründers Jack Dorsey angetreten war, nach und nach gemildert, in einer Mischung aus (das noch am wenigsten) Einsicht, staatlichem Drängen (bei zensurfreudigen Staaten hochproblematisch), aber vor allem dem Druck der Werbetreibenden, die sich für ihre Botschaften positive Umfelder wünschen. Für die Durchsetzung dieser Regeln und die Kooperation mit staatlichen Institutionen und Werbetreibenden hat das Unternehmen in den letzten Jahren Abteilungen mit Tausenden Angestellten aufgebaut. Die Höchststrafe, nämlich die dauerhafte Suspendierung des Accounts (verbunden mit dem Verbot, unter anderem Namen einen neuen zu eröffnen), hat in der Folge ungezählte Bots, Trolle, Mobber, Genozidleugner, Rassisten und Antisemiten, Hassverbreiter aller Art ereilt, darunter auch Donald Trump.

Twitter war als Unternehmen von Anfang an ganz klassisch top-down strukturiert, mit Jack Dorsey als einer für das Silicon Valley typischen weißen, männlichen und exzentrisch-erratischen Gründerfigur. Stärker als etwa bei Facebook sind die technischen Affordanzen der Plattform jedoch in einer Kombination aus Ideen von Ingenieuren innerhalb und außerhalb des Unternehmens, aber auch der Nutzerinnen und Nutzer ko-evoluiert. Lange hat Twitter seine technische Schnittstelle für Entwickler offengehalten, Innovationen kamen so nicht selten aus der Praxis des oft unerwarteten Nutzungsverhaltens. Nach und nach wurden Block- und Filtermöglichkeiten verfeinert, etwa die Option, Antworten oder Re- und Quote-Tweets nur Mutuals (also Nutzerinnen, die sich gegenseitig folgen) zu ermöglichen – und damit ungefragte Einmischungen wenn nicht zu verhindern, so doch zu erschweren. Auch der Retweet, also das Komplettzitat eines fremden Tweets in der eigenen Timeline oder der »Quote Tweet«, also das Zitieren eines fremden Tweets, um ihn im eigenen direkt zu kommentieren (in Twitter-Speak: Drüko, also Drüberkommentar), waren von Nutzern eingesetzt worden, bevor Twitter sie dann auch technisch implementierte.

Die sozialen Folgen technischer Implementierungen sind grundsätzlich schlecht prognostizierbar. So hat der Quote Tweet das Dunking, also massenhafte Häme, wenn nicht möglich gemacht, dann doch in seiner Effektivität enorm verstärkt. Mit einem hämischen Direktkommentar kommt man als Nutzerin vielleicht noch gut klar. Wenn einen aber ein Shitstorm ereilt und einen in einem endlos scheinenden Strom Tausende mit Hass verfolgen, verspotten, beschimpfen, das Gesagte bewusst missverstehen oder zumindest verkürzen, dann trifft das selbst Hartgesottene schwer. [1. Thi Nguyen, Twitter, die Nähe-Maschine. In: Merkur, Nr. 874, März 2022.] Von Anfang an hat Viralität, also die exponentiell wachsende Verbreitung einzelner Äußerungen, in den sozialen Medien eine wichtige Rolle gespielt. Memes wie Shitstorms sind Ausprägungen dieser Fortpflanzungsform von Information. Weil Viralität das Engagement der Nutzer maximiert, wurden die Algorithmen immer weiter in diese Richtung optimiert. In der algorithmisch zusammengerechneten Timeline wird priorisiert, was schon Erfolg hat, werden unter die aktuellen und die wichtigeren unter den verpassten Posts derjenigen, denen man folgt, die von den Algorithmen durch Likes und Retweets als erfolgreich Erkannten gemischt. Die Bedeutung der eigenen kuratorischen Wahl, die sich über die Wahlen der Gewählten verzinst, tritt zurück, je stärker die Algorithmen als Künstliche Intelligenz die eigene Wahl zu antizipieren versuchen.

Die chinesische Kurzvideo-Plattform TikTok ist berühmt und berüchtigt für ihre enorm effektiven Algorithmen, die aus früheren Wahlen der einzelnen (und ihnen je ähnlichen anderer) Nutzer die weiteren Angebote errechnen. Auch für Twitter hat erst die Umstellung von der rückwärtschronologischen Folge auf die algorithmisch optimierte Timeline den Durchbruch zu größerer Nutzerzufriedenheit und entsprechenden Engagement-Raten gebracht – so ließen sich in der Folge die Werbeeinnahmen deutlich steigern. [1. So ein ehemaliger Twitter-Mitarbeiter in einem vieldiskutierten Mastodon-Thread (www.social.lot23.com/@jon/109372257422277945).]

Weil Dissens mehr als Konsens für Aufmerksamkeit und Engagement sorgt, haben die Algorithmen der Künstlichen Intelligenzen die Tendenz, der Homogenisierung von Nutzerkommunikation in Filterblasen entgegenzuwirken und damit die Agonalität der Plattform noch zu verschärfen. Das Algorithmisch-Technische und das Verhaltenspsychologisch-Soziale verknüpfen sich dabei auf Arten und Weisen, die Nutzerinnen selbst schnell unheimlich werden. Die Affordanzen der Plattform scheinen nicht nur den Witz und das Schnelle, sondern auch das Überscharfe, das Unbedachte, durch sofortigen Widerspruch Belohnte zu fördern. Und zwar selbst bei Personen zu fördern, die man sonst anders kennt, und die, schlimmer noch, auch sich selbst anders kennen. [1. Vgl. Julian Müller /Astrid Séville, Ist Dauerreflexion kommunizierbar? Das Habeck-Paradox. In: Merkur, Nr. 873, Februar 2022.]

Inzwischen sind auch Politik und Recht aus der Schockstarre gegenüber dem in seiner Bedeutung für die Öffentlichkeit lange unterschätzten Phänomen Social Media erwacht. Es wurden gegen Meta mehrfach schwere Strafen verhängt, auch Twitter steht nach einem Verstoß gegen Datenschutzregeln seit Jahren unter strikter Aufsicht der Federal Trade Commission (FTC) der Vereinigten Staaten – bei Verstößen drohen Milliardenstrafen. In Europa tritt demnächst der Digital Services Act in Kraft, der die sozialen Medien mit rechtlichen Regularien einhegen soll. Gerade Twitter hatte dabei in den letzten Jahren auf dem Weg der Selbstregulierung Fortschritte gemacht und schien insbesondere unter seinem 2021 angetretenen CEO Parag Agrawal auf gutem Weg, zu einem berechenbaren, sich auf nachvollziehbare Regeln verpflichtenden Faktor der durch die Digitalisierung strukturell gewandelten Öffentlichkeit zu werden. Just diese Einhegung des Free-Speech-Absolutismus rief heftige Widerstände von rechts auf den Plan.

Break Things

Und so kam das Waschbecken, und mit ihm Elon Musk. »Move fast and break things«, lautet das bekannte Motto der fröhlichen Disruptoren vom Silicon Valley. So brutal, wie Musk ihm vom ersten Tag an als Twitter-Alleinherrscher folgte, hatte man das, jedenfalls in aller Öffentlichkeit, noch selten erlebt. Nach wenigen Tagen war nicht nur der Musk verhasste CEO Agrawal, sondern die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gefeuert, später noch weite Teile der outgesourceten Moderations-Teams, es wurde das bei Twitter als Firmenpolitik weitverbreitete Homeoffice abgeschafft und den verbliebenen Mitarbeitern ein Ultimatum gesetzt: Nur wer sich von nun an »hardcore« einsetzen wolle, habe eine Zukunft im Unternehmen. Ganze Abteilungen wurden aufgelöst oder kündigten selbst (so etwa das komplette Büro in Brüssel), von einem Tag auf den anderen hatte sich die Presseabteilung in Luft aufgelöst, der für die Abwehr von Bots und Trollen zuständige Head of Trust & Safety Yoel Roth erklärte am einen Tag, man sei weiter auf sehr gutem Weg, am nächsten hatte er das Unternehmen aus eigenen Stücken verlassen; ebenso waren der Chief Privacy Officer, die Chief Information Security Officer und die Chief Compliance Officer von sich aus gegangen. Musk kündigte ein neues Abo-Modell an, das das bisherige Verifizierungsverfahren ad absurdum führte, es erwies sich, überhastet gestartet, als das von allen vorhergesagte Desaster, wurde wieder gestoppt und der erneute Roll-Out verschoben, weil Twitter von Accounts unter falschem Namen überflutet worden war – mit Folgen für Börsenwerte einzelner Unternehmen. Musk twitterte die ganze Zeit weiter, beleidigte mal diesen, mal jenen, klagte über zu lange Arbeitstage, löschte Tweets, unterstellte Aktivisten wie Werbekunden, sie seien Feinde der freien Rede und vieles mehr.

Dass mit freier Rede vor allem die Verbreitung von Hate Speech und Fake News gemeint war, wurde schnell deutlich, denn Musk rückte, munter die Mär von Twitters Links-Bias verbreitend, [1. Studien zeigen, dass Twitter tatsächlich ein politisches Bias hat: In Wahrheit jedoch verstärkt es Stimmen von rechts, weshalb Regeln und moderierende Eingriffe wie eingeblendete Korrekturen von Fake News, aber auch temporäre oder dauerhafte Suspendierungen notwendig sind. »Free Speech« à la Musk heißt folglich, dieses Bias noch zu verstärken. Vgl. die wissenschaftliche Studie, die Twitter selbst dazu hat erstellen lassen (cdn.cms-twdigitalassets.com/content/dam/blog-twitter/official/en_us/company/2021/rml/Algorithmic-Amplification-of-Politics-on-Twitter.pdf). Für eine journalistische Zusammenfassung vgl. Dan Milmo, Twitter admits bias in algorithm for rightwing politicians and news outlet. In: Guardian vom 22. Oktober 2022 (www.theguardian.com/technology/2021/oct/22/twitter-admits-bias-in-algorithm-for-rightwing-politicians-and-news-outlets).] vor den Augen der Weltöffentlichkeit immer weiter nach rechts. [1. Josh Marshall hat Musks öffentliche Radikalisierung nachgezeichnet: Elon Musk and the Narcissm /Radicalization Maelstrom. In: Talking Points Memo vom 25. November 2022.] Er rief bei den US-Midterms auf zur Wahl der Republikaner, holte nach abstrusen Nutzer-Umfragen [1. Abstrus nicht nur, weil nichts daran repräsentativ war, sondern weil Umfragen bei Twitter die alleranfälligste Stelle für Manipulationen durch Bots sind. Vgl. Noah Shachtman /Adam Ransley, Musk’s Beloved Twitter Polls Are Bot-Driven Bullsh!t, Ex-Employees Say. In: Rolling Stone vom 1. Dezember 2022 (www.rollingstone.com/culture/culture-news/elon-musk-twitter-polls-are-bot-driven-bullsht-1234639288/).] Donald Trump, Kanye West und andere zuvor suspendierte Rechtsextreme wie etwa den Gründer der Nazi-Website The Daily Stormer zur Plattform zurück und ließ den notorischen Antisemiten Kanye West dann, nachdem dieser Musk-Spott-Bilder und, wie zu erwarten, Hakenkreuze postete, gleich wieder sperren. Musk machte sich über »Stay Woke«-T-Shirts lustig, die er in den Schränken des Twitter-Hauptquartiers fand, und fühlte sich im Tweet-Dialog mit Nutzern wie dem rechten Influencer Andy Ngo so sehr zuhause, dass er auf deren Drängen antifaschistische Accounts sperren ließ. Kurz darauf spielte er private Dokumente und Mails ehemaliger Twitter-Angestellter über geneigte Journalisten an die Öffentlichkeit, die interne Vorgänge betrafen. Anfang Dezember berichtete die New York Times von ersten Untersuchungen, die den steilen Anstieg von Hassreden auf der Plattform seit Musks Übernahme belegten. [1. Sheera Frenkel /Kate Conger, Hate Speech’s Rise on Twitter Is Unprecedented, Researchers Find. In: New York Times vom 2. Dezember 2022 (www.nytimes.com/2022/12/02/technology/twitter-hate-speech.html).] Gleich anfangs hatte Musk Werbekunden, die ihre Aktivitäten auf Twitter einstellten oder pausierten, mit »thermonuclear name and shame«-Maßnahmen gedroht. Später brach er Streit mit Apple und Apple-Chef Tim Cook vom Zaun, um ihn am nächsten Tag fürs erste wieder zu befrieden. Die Werbeeinnahmen blieben erst einmal massiv hinter allen Erwartungen und Vorjahreszahlen zurück, [1. Ryan Mac /Mike Isaac /Kate Conger, Twitter Keeps Missing Its Advertising Targets as Woes Mount. In: New York Times vom 2. Dezember 2022 (www.nytimes.com/2022/12/02/technology/twitter-advertising-targets-missed.html).] die EU drohte bei mangelnder Kooperation mit Maßnahmen bis hin zum Twitter-Verbot.

Kurzum: Musk hat mit seinem Management par ordre du mufti nichts als Chaos gebracht. Offenkundig mit Absicht, er hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Plattform auf den Kopf stellen will. Vorab und auch im ersten Gespräch mit den verbliebenen Mitarbeiterinnen hat er seine Vision einer am chinesischen WeChat orientierten Multifunktions-App als Universalschlüssel für Internetaktivitäten aller Art präsentiert. [1. Alex Heath, Inside Elon Musk’s first meeting with Twitter employees. In: The Verge vom 11. November 2022 (www.theverge.com/2022/11/10/23452196/elon-musk-twitter-employee-meeting-q-and-a).] Im Zentrum keineswegs, wie bislang, das Kommunizieren in Text und Bild, sondern Monetarisierungsverfahren und vor allem eine Bezahlfunktion, ein generalisiertes Paypal, bei dem sich bei jedem Bezahlvorgang Margen abschöpfen lassen. Das Ziel scheint im Moment weiter entfernt als der Mars, auf dem Weg dahin müsste Twitter wohl kostenpflichtig für alle an sinnvoller Nutzung Interessierten werden. Schwer zu sehen, wie das funktionieren soll, ohne dass es seine Bedeutung als globale Nachrichtenplattform und Knotenpunkt von öffentlichen Sphären verliert.

Nilay Patel hatte die Probleme von Musk am Tag der Twitter-Übernahme in seinem Welcome-to-Hell-Artikel so zusammengefasst: »You fucked up real good, kiddo. Twitter is a disaster clown car company that is successful despite itself, and there is no possible way to grow users and revenue without making a series of enormous compromises that will ultimately destroy your reputation and possibly cause grievous damage to your other companies […] The asset is the user base: hopelessly addicted politicians, reporters, celebrities, and other people who should know better but keep posting anyway. You! You, Elon Musk, are addicted to Twitter. You’re the asset. You just bought yourself for $44 billion dollars.« Das ist eine Zuspitzung, die die Bedeutung bewusst unterschlägt, die Twitter als Medium der Öffentlichkeit hat, egal ob man es nun liebt oder hasst oder, wohl am häufigsten, beides zugleich. So oder so gibt es Anlass, für die Zukunft des Unternehmens das Schlimmste zu fürchten. Viele halten darum Ausschau nach Alternativen; nicht wenige sind inzwischen fündig geworden. [1. Ich konzentriere mich hier auf Mastodon als Gegenmodell, aber es sind neben alten Plattformen wie Tumblr, die nun wieder Aufwind bekommen, seit ein paar Monaten zwei vielbeachtete Anbieter neu entstanden, Hive und Post, beide allerdings kommerziell, Post zielt ausdrücklich in Richtung News und politisierte Öffentlichkeit. Tumblr-CEO Matt Wullenweg hat – auf Twitter – interessanterweise angekündigt, er wolle die Plattform für das ActivityPub-Protokoll öffnen, das die Nutzung interoperabel machen würde und das auch Mastodon nutzt. Der ehemalige Twitter-Chef Jack Dorsey arbeitet seinerseits mit weiteren Entwicklerinnen und Entwicklern unter dem Namen »Bluesky«, zunächst noch als Non-Profit-Projekt bei und für Twitter, nun unabhängig, an einem offenen und dezentralen Standard. Die eher libertäre Ausrichtung erkennt man an der Nähe zur Blockchain-Technologie.]

Enter Mastodon

Das Internet als Ganzes lässt sich, wie es James Grimmelmann ausgeführt hat, als »semicommons« beschreiben. Soziale Medien wie Facebook, Instagram, TikTok, YouTube, LinkedIn oder auch Twitter schließen, indem sie die allen gemeinsamen Protokolle mit proprietärer Software umzäunen, ihre Nutzerinnen und Nutzer auf den jeweiligen Plattformen ein, der Maximierung des Aufenthalts wegen. Die Logik dahinter ist klar: Die Daten der Nutzer und ihre Aufmerksamkeit sind Werbetreibenden teuer. Man kann vom einen Silo zum anderen, anders als etwa bei unterschiedlichen E-Mail-Providern, nicht kommunizieren und verliert mit dem Abschied von einer Plattform, die Hunderte oder Tausende oder Millionen von Followern und Follows, die Abonnentinnen und die Freunde, also den »sozialen Graphen«, der das Soziale der neuen Medien ausmacht. Dieser Graph ist gerade auf Twitter in der Regel das Ergebnis von Jahren des Kuratierens der Timeline, des Zusammenstellens von Listen zu unterschiedlich gelagerten Expertisen, von Tausenden Aktionen des Folgens, Entfolgens, Mutens und Blockens. [1. Vgl. Sam Freedmans sehr instruktive Schilderung Getting the most out of Twitter. In: Comment is Freed vom 18. August 2022 (samf.substack.com/p/getting-the-most-out-of-twitter).] Für manche hängen Freundes- und Berufswelten im Silo fest, Aktivistinnen finden und organisieren sich hier, lose Kontakte haben sich zu Nähebeziehungen verfestigt; zugleich sorgt der Algorithmus und sorgen die ebenfalls algorithmisch zugeschnittenen Trending Topics nicht nur für Viralität, sondern gezielt für Serendipity, also dafür, dass sich ständig auch das nicht Erwartete zuträgt, dass man von Dingen erfährt, von denen man nicht ahnte, dass sie einen interessieren.

Als Ansammlung von konkurrierenden Plattformen, die ihre Nutzerinnen an sich fesseln, war das Internet und auch das World Wide Web von seinen Erfindern eigentlich nicht gedacht. Technisch wäre es kein Problem, die Plattformen so einzurichten, dass man beim Wechsel vom einer zur andern den sozialen Graphen mitnehmen kann. Gesetze könnten das vorschreiben, aber transnationale Regulierungen erweisen sich bei der Steuerung von Information wie Kapital als bislang kaum überwindliches politisches Problem. Freilich gibt es neben den Plattform-Imperien die gallischen Dörfer, die kleineren, größeren oder im Fall der Wikipedia gewaltigen Mächte der Non-Profits, der Commons und der Free-and-Open-Software-Projekte (FOSS). So wird, lange im Schatten der plattformgetriebenen Aufmerksamkeit, seit Jahren auch an Gegenwelten der nichtkommerziellen sozialen Medien geschraubt und gecodet. Im sogenannten Fediverse finden sich eigenständige Alternativen etwa zu Instagram (Pixelfed), YouTube (Peertube) und auch mehrere Microblogging-Alternativen zu Twitter. Die inzwischen prominenteste hat ein deutscher, 1993 geborener Programmierer, Eugen Rochko, seit 2016 in Jena entwickelt. Der Name Mastodon verdankt sich seiner Liebe zur gleichnamigen Heavy-Metal-Band, statt Tweets gibt es – oder gab es, inzwischen heißt es offiziell Posts – bei Mastodon Tröts oder Toots.

Mastodon ist, das für das ganze Fediverse genutzte ActivityPub-Protokoll macht es möglich, anders als die Plattform-Silos dezentral organisiert. Die Nutzerinnen verteilen sich auf sehr viele Server (»Instanzen«), winzige (jede und jeder kann sich mit etwas Knowhow selbst einen einrichten), mittelgroße und große. Sie sind alle derzeit von nichtkommerziellen Admins betrieben, über freiwillige Beiträge der Nutzerinnen mehr schlecht als verlässlich finanziert, wobei die Admins die eigenen Server zusätzlich meist auch selbst moderieren, also Inhalts- und Verfahrensregeln geben und durchsetzen. Das ist im Rahmen jeweils weniger Tausend Accounts pro Server mitunter aufreibend, aber machbar, bei weiterem Wachstum stellen sich aber mit Sicherheit Fragen zu Professionalisierung, Demokratisierung und Skalierbarkeit der Moderation. [1. Zu den grundsätzlichen rechtlichen und juristischen Problemen der Moderation vgl. James Grimmelmann, The Virtues of Moderation. In: 17 Yale Journal of Law & Technology, Nr. 42, 2015 (scholarship.law.cornell.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=2620&context=facpub).] Die Instanzen haben eigene Namen, eigene thematische oder geografische Schwerpunkte und auch eigene, meist auf der Startseite verzeichnete Regeln. Sie sind untereinander verbunden, als Teilföderationen der Fediverse-Föderation, zumindest solange, bis sie beschließen, die Verbindung zu diesem oder jenem anderen Server zu kappen. »Politik« wird so im Kleinen in vielen einzelnen Entscheidungen, Regulierungen, technischen Aktionen gemacht, ohne dass es formale Verfahren für Mitwirkung, Ein- und Widerspruch gibt. Im extremen Fall sind aber auch Beschlüsse von beträchtlicher Tragweite möglich: Als vor ein paar Jahren die rechte Hate-Speech-Instanz Gab für Unruhe sorgte, wurde sie vom Rest des Fediverse recht einmütig deförderiert.

Aber nicht nur die technischen Grundlagen des Fediverse unterscheiden sich von denen der Plattform-Welt, auch die Umgangsformen der Nutzerinnen und Nutzer sind (oder waren bislang) anders: An der Entwicklung von Mastodon etwa waren viele queere und trans Personen beteiligt, viele Features zielen ausdrücklich darauf, von Hass und Belästigung freie Räume zu schaffen und zu erhalten. Im Lauf der fünf Jahre der Mastodon-Existenz hat sich eine aktive Community entwickelt, mit eigenen Sitten und Regeln, Diskussionen und Streits. Auch Abspaltungen gab es schon, so entstand etwa die auf den gleichen Grundlagen anders weiterentwickelte (»geforkte«), aber weiterhin kompatible Mastodon-Alternative Pleroma; sogar die Trump-Plattform Truth Social beruht auf der Mastodon-Software, sehr zum Unwillen Rochkos, es sind auch alle Kommunikationskanäle zwischen dem Fediverse und Truth Social gekappt – aber die freie Verfügbarkeit gehört nun mal zum Open-Software-Prinzip.

Nach Musks Machtergreifung bei Twitter wurden auf Mastodon Millionen neuer Accounts und auch neue Server eröffnet; ein erster Schub aus Deutschland, dann aber folgten schnell Twitter-Flüchtlinge aus den Vereinigten Staaten in sehr großer Zahl, aus der Wissenschaft, auch aus dem Journalismus, Jan Böhmermann, Stephen Fry und Neil Gaiman fanden sich ein, erst eine, dann immer weitere Wellen, auch wenn Mastodon mit seinen inzwischen mehr als acht Millionen Accounts noch sehr weit von der Größe und Bedeutung von Twitter entfernt ist. Manche der Neuankömmlinge brachten Twitter-Töne und -Haltungen mit, dabei waren es ja naturgemäß die Empfindlicheren, die es unter Musk nicht mehr aushalten wollten. Ironische Fußnote: Auch einige der gefeuerten oder aus eigenen Stücken gegangenen Twitter-Programmiererinnen und Software-Ingenieure versammelten sich nun im Mastodon-Exil auf einer eigenen Instanz, wenngleich die meisten von ihnen für alle Fälle die Accounts bei Twitter behielten. Das galt und gilt überhaupt für nicht wenige der Übergesiedelten: Man hat noch einen Koffer bei Twitter, es gibt, sogleich heftig umstritten, einigen Crosspost-Verkehr zwischen Mastodon und der »birdsite«. Andere begannen dennoch rasch, ihre soziale Welt von Twitter auf Mastodon zu rekonstruieren, rasch programmierte Wiederfinde-Software war behilflich dabei. So problematisch die Metapher von Flucht, Exil, Neuanfang ist: Dass viele sie verwendeten, zeigt symptomatisch, wie sehr manche ihr soziales Netzwerk als eine Form von Heimat begreifen.

Die neue Heimat, bisher in einer vergleichsweise sehr windstillen Nische, zeigte sich von den Neuen, ihren Sitten, ihren Ansprüchen, dem oft etwas rüden Twitter-Spirit keineswegs nur begeistert. So sorgte die Eröffnung einer Instanz eigens für Journalisten durch den renommierten US-Journalisten Adam Davidson (journa.host) sogleich für Debatten, der Server wurde von ein paar Instanzen als Unruhestifter schnell deföderiert. Für manche der bisherigen Benutzerinnen und Benutzer waren die Veränderungen durch die Neuen ein Kulturschock, für die alten Hasen die Wiederkehr des »Eternal September«, des Moments also, in dem die Internet-Provider 1993 die Schleusen zum bis dahin vor allem von Nerds genutzten Usenet öffneten. Am schönsten hat diesen Schock der australische Bibliothekar Hugh Rundle beschrieben, der seit Jahren auf Mastodon ist und dessen vergleichsweise gepflegte Gesprächskultur schätzte – und den aktuellen Erfolg insgesamt dennoch begrüßt: »This is supposed to be what we wanted, right? Yet it feels like something else. Like when you’re sitting in a quiet carriage softly chatting with a couple of friends and then an entire platform of football fans get on at Jolimont Station after their team lost. They don’t usually catch trains and don’t know the protocol. They assume everyone on the train was at the game or at least follows football. They crowd the doors and complain about the seat configuration.« [1. www.hughrundle.net/home-invasion/]

Es gibt für die Widerstände gute Gründe. Rochko hat Mastodon ganz ausdrücklich als Anti-Twitter entworfen. Seine Algorithmen sind gegen Viralität, steile Thesen und die Maximierung von Reaktion und Aufmerksamkeit konzipiert. So regiert, wie einst bei Twitter, die rückwärtschronologische Timeline, Entdeckungen macht man nicht über vom Algorithmus ausgewählte Posts, sondern über Boosts (»Retweets«), Hashtags und zwei erweiterte Timelines: die »lokale« zeigt alle Posts der Accounts auf dem eigenen Server, die »föderierte« die Posts aller Accounts, denen die Leute folgen, denen man selbst folgt. Das Zitieren mit Drüberkommentar ist bewusst nicht implementiert, um die damit oft verbundene Massierung von Hass zu erschweren. Ausgefeilte Optionen zum Filtern, Muten, Blocken, auch die Möglichkeit, den Server ohne allzu große Friktionen zu wechseln, machen das Ausblenden von Unerwünschtem vergleichsweise leicht. Dazu kommt eine Kultur der Inhaltswarnungen für Posts mit potentiell triggernden Inhalten: Wer alles lesen will, muss noch einmal klicken. All das war und ist auch auf Mastodon nicht unumstritten, etwa die Frage, wie sinnvoll es sein kann, »Politik« pauschal als potentiell triggernd zu begreifen – verständlicherweise haben BiPoc-Nutzerinnen empört auf die Aufforderung reagiert, ihre Posts zu Erfahrungen mit Alltagsrassismus hinter Warnschildern zu verbergen. Die Tatsache, dass vieles auf den jeweiligen Instanzen technisch wie sozialtechnisch unterschiedlich gehandhabt wird, ist als Homogenitätsverlust des Gesamtsystems ein Optionengewinn: Man kann sich in puncto Themenschwerpunkte, Moderationssitten, geografische Verortung, Safe-Space-Sensibilität etc. passende Umfelder suchen, was – nicht nur unerwünschterweise – Filterblasen begünstigt, auch wenn die Föderation der bis zu einem gewissen Grad Homogenisierten als soziales Netzwerk aus Netzwerken ein in sich heterogenes Ganzes ergibt.

Der in technische Lösungen übersetzte Wunsch nach sanfterem Umgang, Rücksichtnahme, Safe Spaces wird (nicht nur) auf Twitter von vielen mit der erwartbaren Häme und dem einschlägigen rechten Kampfvokabular (»snowflakes«, »wokeness«) kommentiert. Allerdings ist der auf Mastodon implizit vielfach anzutreffende Glaube, es ließen sich soziale Differenzen mit technischen Lösungen einfach befrieden, zumindest naiv. Spätestens wenn auf Anmerkungen und Kritik mit Mansplaining und Besserwisserei reagiert wird, erweist sich genau dieser Glaube als Wiedereintritt toxischen Verhaltens ins vermeintliche Detox-Areal. Schwarze und PoC-Nutzerinnen und -Nutzer haben sofort darauf hingewiesen, dass Mastodon nicht nur rein quantitativ, sondern auch strukturell weiß dominiert ist; [1. Vgl. The Whiteness of Mastodon. In: Tech Policy Press vom 23. November 2022 (techpolicy.press/the-whiteness-of-mastodon/).] und selbstverständlich finden allen Software-Strukturen zum Trotz Diskriminierungen, Beleidigungen, Angriffe statt. Die Moderation eines Netzwerks, zu dem neben den Gutwilligen immer jede Art bösartiger Akteure (von Teen-Hackern und rechten Provokateuren bis zu russischen und chinesischen Troll-Fabriken) Zugang haben, ist ein ständiger, endloser, frustrierender Kampf. Hier droht Twitter nach Musks Reinigungsaktionen vielleicht die größte Gefahr. Es ist aber fraglich, ob eine weitestgehend von Freiwilligen in ihrer Freizeit betriebene dezentrale Föderation wie Mastodon für massive Angriffe gerüstet wäre. Bislang ist es als Nischenprojekt recht weitgehend davon verschont geblieben. Das wird sich mit wachsendem Erfolg zweifellos ändern.

Open End

Derzeit, Mitte Dezember, gut anderthalb Monate nach Musks Übernahme von Twitter, ist sehr vieles offen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, ob mit Bedauern oder Hoffnung verbunden, dass Musk mit seinen Plänen scheitern wird, sei es aus ökonomischen Gründen, sei es, weil die Plattform mangels kundigen Personals technisch degeneriert, sei es, weil Hate Speech und Trollerei Überhand nehmen, sei es, weil es nicht mehr gelingt, dauerhaft wirksame Maßnahmen gegen destruktive staatliche Akteure zu ergreifen, sei es, weil Musk für seine Rücksichtslosigkeit gegenüber Recht und politischer Regulierung abgestraft wird, oder sei es, weil so ziemlich alles davon passiert und Elon Musk aus seiner selbstverschuldeten Hölle keinen anderen Ausgang als Verkauf oder Dichtmachen findet. Andererseits war er mit Tesla wie SpaceX durchaus schon in Bredouillen ähnlicher Art, aus denen er sich mit mehr Glück und Rücksichtslosigkeit als Verstand und vor allem mit viel staatlicher Hilfe wieder befreit hat. Bislang hält sich die Zahl der linken, liberalen und moderaten Nutzerinnen und Nutzern, die die Plattform verlassen, in Grenzen, so empört viele auch reagierten, es gibt viel weniger »exit« als »voice«, viele argumentieren, dass man gerade jetzt den Widerstand auf Twitter selbst organisieren müsse. Vielleicht könnte Twitter aber auch als weit nach rechts gerückte Plattform reüssieren. Vielleicht gelingt gar die Transformation zur Universal-App. Musks Jünger, und davon gibt es nach wie vor viele, glauben nach wie vor an das Gelingen seiner Vision.

In seinem gegenwärtigen Zuschnitt hat Mastodon, das bis zu Musks Übernahme von Twitter ein Ort war, an dem sich vor allem die linke Tech-Community zuhause fühlte, jene kritische Masse erreicht, die es für an Gott und der Welt Interessierte kommunikativ interessant macht. Ob der Durchbruch zum sozialen Massenmedium gelingen kann, und sogar schnell, wie etwa der Ex-Twitter-Mann Yoel Roth auf Mastodon vermutet, ist derzeit nicht abzusehen. [1. »It feels like Mastodon is one really great third-party client away from being mainstream-ready, on the UX front at least. The same thing happened with Twitter years ago: Third-party apps like DestroyTwitter, Tweetie (which became Twitter for iPhone), and Tweetbot helped redefine the mainstream UX of the service, in a hugely positive way. (Until Twitter shut a lot of them down, anyway, but that’s a different story …)« https://macaw.social/@yoyoel/109376999311188245] In jedem Fall wird es die spannende Probe aufs Exempel, ob ein nichtkommerzielles dezentrales Modell gegen die durch algorithmische Datenverarbeitung als Werbeumfelder optimierten Nutzerplattformen eine Chance hat. Skeptiker haben bereits vorgezeichnet, wie die Übernahme auch eines dezentralen Netzwerks durch kommerzielle Anbieter gelingen kann: Man eröffnet eine Instanz, optimiert diese als Werbeumfeld, ganz wie Twitter über die Jahre in diesem Sinn optimiert worden ist, gewinnt so die Massen und errichtet einen Zaun und deföderiert sich zuletzt mit tiefem Bedauern, dass die Amateure mit der avancierten eigenen Umgebung technisch nicht mehr mithalten können: Schon wäre das nächste Silo entstanden. Damit würde sich die große Geschichte des Internets nicht zum ersten Mal im Kleineren wiederholen. Ob hier eine Tragödie oder eine Farce gespielt wird, ist im Moment nicht entschieden. Am Ende ja vielleicht, wie so oft, beides zugleich.