Verschwörungsdenken und Gewalttoleranz

I.

Schon am Tag nach den Verhaftungen der trüben Truppe, die eine politische Ordnung à la 1871 wiederherstellen wollte, stand die Verteidigungslinie in den einschlägigen Verschwörungsjournalen: Das alles sei ja nur eine von den Medien aufgebauschte Spinnerei einiger Greise; hinter der Razzia stehe die Absicht, kurzfristig von anderen Themen abzulenken und längerfristig für schärfere Gesetze gegen »Andersdenkende« Stimmung zu machen.

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Erst eine Gruppe, die unter dem Verdacht steht, eine gewaltbereite kriminelle Vereinigung zu sein, als einige absonderliche Greise verniedlichen, dann den Spieß umdrehen und über eine Verschwörung des Staates hinter der Verschwörung gegen den Staat raunen: Eindrucksvoll wird die Wahlverwandtschaft zwischen gewaltbereiten Reichsbürgern und Verschwörungspublizistik bezeugt. Es könnte aber mehr als bloße Wahlverwandtschaft sein. Die Frage ist, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen Verschwörungsdenken und Gewalt gibt.

II.

Die Anziehungskraft des Verschwörungsweltbilds besteht darin, angesichts komplexer Verhältnisse einfache Orientierungen zu bieten. Diese Leistungsfähigkeit beruht auf der Vorstellung einer übermächtigen Handlungsinstanz an der Spitze. Der Rückgriff auf sie erklärt alles. Früher mussten als ihre Personifikation vor allem die Juden oder die Freimaurer herhalten – bizarrstes Beispiel der Weltgeschichte: Die Protokolle der Weisen von Zion. [1. Die Protokolle der Weisen von Zion [1920]. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Hrsg. v. Jeffrey L. Sammons. Göttingen: Wallstein 1998.]

Gegenwärtig sind Bill Gates, das World Economic Forum, die WHO, die Ostküste der Vereinigten Staaten oder schlicht die Superreichen, Supermächtigen en vogue. Das Verschwörungsweltbild wird von einer Logik beherrscht, die dazu zwingt, eine solche supermächtige Spitze zu konstruieren. Diese Logik ist im Grunde einfach. Sie erklärt jedes Phänomen damit, dass hinter ihm eine Absicht steht, die es bewirkt hat. Intention = Effekt. Im Verschwörungsdenken gibt es keinen Zufall und keine anonymen, komplexen Prozesse. Alles hat einen zentralen Verursacher, alles einen Schuldigen.

Daraus ergibt sich die charakteristische Zirkularität des Verschwörungsdenkens. Verschwörungsgläubige schließen von der mächtigen Handlungsinstanz, die immer schon feststeht und der sie alles zutrauen, auf die konkrete Welt. Die leidenschaftslose Beobachtung dagegen erkennt die Tautologie: Um alle Phänomene erklären zu können, wird der Instanz erst umfassende Macht zugeschrieben; und steht sie als supermächtig fest, lassen sich dann alle Phänomene damit erklären. Dazu kommt, dass sich die Frage nach Ursachen in erster Linie bei unliebsamen, unverständlichen Phänomenen stellt. Also müssen die Supermächtigen böse sein. Tatsächlich stoßen Verschwörungsgläubige bei ihrer Suche nach der Ursache allen Übels auf dieser Welt immer wieder auf »das Böse«. Das Böse ist nicht weiter begründungsbedürftig.

Das Manichäische im Verschwörungsweltbild ergibt sich daraus ganz von selbst. Alles was sie, die Supermächtigen, tun und planen, richtet sich gegen »uns«. Was sich ereignet, ist von ihnen inszeniert und dient ihren Interessen. Die Verursacher sind die Schuldigen, sind die Nutznießer. Darum sind Verschwörungsgläubige davon überzeugt, dass sich die Wirklichkeit mit der Cui-bono-Frage aufschlüsseln lässt. Hat man den Nutznießer, hat man den Verursacher. Es ist ein Kampf des Bösen gegen das Gute; ein Kampf der »selbsternannten Elite« gegen »das Volk«; ein Kampf der wenigen Mächtigen gegen die große Mehrheit.

Allerdings wehrt sich diese große Mehrheit nicht, denn die Supermächtigen verschleiern ihre bösen Absichten. Es gibt aber eine kleine Gruppe von »Aufgewachten«, die das durchschauen. Das sind jene, die sehen, dass alles anders ist, als es scheint, und die in der Lage sind, herauszufinden, was dahintersteckt. Sie decken die Zusammenhänge auf und wissen, wer die Strippen zieht. Darum werden Verschwörungstexte gerne mit Bildern einer großen, dunklen Hand anschaulich gemacht, die Marionetten dirigiert. Die Supermächtigen beherrschen die Regierungen, die Wissenschaft, die Medien.

III.

Was treibt die Supermächtigen an? Im harmlosesten Fall sind sie auf hemmungslose Bereicherung aus. Damit irgendwie verbunden ist ihr Bestreben, Macht zu akkumulieren – und als probates Instrument dazu, Angst zu erzeugen. Die Anhäufung von Geld und Macht als böser Selbstzweck ist selbstverständlich und als Zuschreibung zu den Supermächtigen nicht weiter begründungsbedürftig. Dass dafür fallweise Marx, Foucault und Hannah Arendt herhalten müssen, ist irritierend, doch sollten diese Aneignungen nicht nur als Unverschämtheit gesehen werden, sondern auch als Chance, Schwachstellen in deren Theoriekonstruktionen zu ermitteln, die solche Usurpation erst möglich machen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Weniger harmlos erscheinen den Verschwörungsgläubigen jene Pläne der Supermächtigen, die auf die Errichtung einer einheitlichen Weltherrschaft hinauslaufen, in der Verschwörungspublizistik auch »globaler Faschismus« genannt. Solche Absichten werden der WHO, den UN etc. und der »Davos-Clique« zugeschrieben. Insbesondere von Davos aus werden der Welt die entscheidenden Anweisungen erteilt und von korrupten Politikern umgesetzt. Davos, der Ort »ganz oben«, an dem das World Economic Forum tagt, passt perfekt in die hierarchische Denkstruktur des Verschwörungsweltbilds: Die Mächtigsten treffen sich auf den höchsten Bergen. Die Absichten der Supermächtigen, in diesem Zusammenhang »Globalisten« genannt, laufen immer auf hierarchische Dystopien hinaus. Warum? Weil es sich um Konstruktionen im Rahmen des Verschwörungsweltbilds handelt, die darum nur ebenso hierarchisch gedacht werden können wie das Weltbild selbst.

Höchste Alarmstufe herrscht dort, wo sich die Pläne der Supermächtigen gegen das Menschsein selbst richten. Im Verschwörungsweltbild gibt es dafür im Wesentlichen zwei Strategien. Die Supermächtigen wollen einem großen Teil von »uns« entweder das Leben oder den freien Willen nehmen. Die Absicht der Supermächtigen, hier »Transhumanisten« genannt, im Detail: »Europa wird 2045 unfruchtbar sein! Die vorgefertigte Lösung der Transhumanisten: Menschen-Produktion im Gen-Labor! Und das ist leider keine Verschwörungstheorie. Unter diesem Gesichtspunkt ergeben alle künstlich aufgebauschten Themen wie Klima-Panik, Gender-Homo-Propaganda und mRNA-Injektionen plötzlich einen furchtbaren Sinn.« [1. Tödliche Agenda: Der Plan ist durchschaut! In: Uncut-News vom 14. November 2022 (uncutnews.ch/toedliche-agenda-der-plan-ist-durchschaut/).]

Vor der Abschaffung des freien Willens und vor der Fernsteuerung durch implantierte Chips oder ähnlichem wird in vielen Versionen gewarnt. »Insgesamt wollen die Transhumanisten den Menschen ›upgraden‹. Die mRNA-Injektionen sind dabei nur ein allererster Schritt. Wir sollen genetisch verändert werden, Nano-Roboter in die Blutbahnen geschleust bekommen. Sie wollen uns Chips implantieren, uns mit Maschinen verschmelzen und durch künstliche Intelligenz unsere Gehirnströme lenken.« [1. Eric Angerer, Sex und Transhumanismus. In: Rubikon vom 31. August 2022 (www.rubikon.news/artikel/sex-und-transhumanismus-2).]

Entscheidend ist, dass solche apokalyptischen Perspektiven mit einem Zeithorizont verknüpft werden. Und da »die Aufgewachten« diesen Zeithorizont kennen, wissen sie auch, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die Subjektivität, die Möglichkeit zu freien Willensentscheidungen, ja, die Menschheit zu retten. »Die Päpste des Transhumanismus haben die ›Optimierung‹ des Menschen von der Ausrottung allgemeiner Krankheitsrisiken bis zur möglichen Unsterblichkeit Einzelner noch für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts auf die Tagesordnung gesetzt.« [1. Kai Ehlers, Trojanisches Pferd des Transhumanismus. In: Rubikon vom 8. Juli 2020 (www.rubikon.news/artikel/trojanisches-pferd-des-transhumanismus).] Die Kombination von apokalyptischen Aussichten und der Konstruktion von Zeitdruck ergibt starken Handlungsdruck und die Rechtfertigung auch extremer Mittel der Gegenwehr. Denn wer sich nicht jetzt wehrt, kann sich bald nicht mehr wehren wollen.

IV.

Die Gefahr, die von den »Supermächtigen« ausgeht, ist groß, und man könnte sie leicht erkennen – nicht zuletzt dank der Aufklärungsarbeit der »Aufgewachten«. Aber die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen bleibt ruhig. Sie sind eben »Schlafschafe«. Ein erheblicher Teil der Verschwörungspublizistik arbeitet sich an der Frage ab, warum ihre »Aufklärungsarbeit« so wenig zieht. Antworten darauf führen stereotyp zur immensen Manipulationsfähigkeit der »Mainstream-Medien«.

Daraus folgt entweder Medienkritik in Dauerschleife, oder die »Schlafschafe« werden beschimpft und für die dringend erforderliche Umgestaltung der Verhältnisse für unbrauchbar und überflüssig erklärt. Zum Beispiel: Wir haben es zwar mit »einer leider verwahrlosten Mittelschicht« zu tun. [1. Lothar Obrecht, Der Größenwahn, das Geld und die Macht. In: Laufpass. Das Magazin für Nachdenkliche in bewegten Zeiten vom 10. Februar 2022 (laufpass.com/gesellschaft/der-groessenwahn-das-geld-und-die-macht/).] »Aber »glücklicherweise brauchen wir diese Mehrheit nicht. Die Mehrheit war immer und zu allen Zeiten konform mit der Macht, hat sich unterworfen und angepasst.« [1. Felix Feistel, Ausweg Freiheit. In: Rubikon vom 24. November 2021 (www.rubikon.news/artikel/ausweg-freiheit).] Kehrseite davon ist, dass sich die Verschwörungsgläubigen in eine Avantgarderolle fantasieren. Was sehen sie? Der Feind ist übermächtig. Er will Böses. Es steht alles auf dem Spiel. Die Zeit läuft ab. Und nur »wir« wissen das alles. Diese Kombination von Überzeugungen definiert die kleine Gruppe der Handlungsfähigen und das schmale Spektrum wählbarer Mittel. Bedeutet das Gewalt? Keineswegs. Von Ideen, auch von verworrenen, zum Handeln ist ein weiter Weg.

Für die Zyniker, [1. Vgl. Mike S. Schäfer /Daniela Mahl u.a., From Hype Cynics to Extreme Believers: Typologizing the Swiss Population’s COVID-19-Related Conspiracy Beliefs, Their Corresponding Information Behavior, and Social Media Use. In: International Journal of Communication, Nr. 16, 2022.] die das Verschwörungsweltbild als Geschäftsidee nutzen, Internet-Journale betreiben und Protest-Sets verkaufen, sind vielleicht kalkulierte Rechtsbrüche ein Mittel der Wahl für Spendenaktionen. Keineswegs aber besteht bei ihnen ein Interesse an Kapitalverbrechen, in deren Folge ihre Webseiten verboten werden und ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird. Darum gibt es einen absurden Alarmismus (»die Nazis sind auferstanden«) und völlig unangemessene politische Etikettierungen, (alles und jedes ist »korporatistisch-faschistisch«), aber kaum Aufrufe zu schwerwiegenden Straftaten.

Allerdings verbindet sich der Alarmismus mit einer erstaunlichen Dezivilisierung der Sprache. Da werden Journalisten zu »quakenden Maulhuren«, die im Auftrag der Herrschenden »dreiste Lügen« erzählen, die von den »Schlafschafen« geglaubt werden. Einzelne Ministerinnen und Minister werden »Totengräber« oder »größtes Sicherheitsrisiko« genannt und zur »tödlichen Gefahr« erklärt. All das erzeugt eine Kampfstimmung, ist aber etwas weniger erstaunlich, wenn man bedenkt, dass professionelle Verschwörungspublizisten untereinander um die Aufmerksamkeit des überschaubaren verschwörungsaffinen Publikums konkurrieren müssen. Da kann es nicht schaden, wenn man die »Supermächtigen« und ihre Helfershelfer mal etwas härter rannimmt. Zumindest verbal.

Manche Verschwörungstexte streifen das Gewalt-Thema. Auf die selbstgestellte Frage, warum die USA nicht der autoritären Anti-Covid-Politik Chinas gefolgt sind, lautet die Antwort: »Wahrscheinlich, weil wir schwer bewaffnet sind und sie erkannten, dass zu viele von uns sich nicht fügen würden.« [1. Warum China scheiße ist: Es ist ein Beta-Test für die neue Weltordnung. In: Uncut-News vom 5. Dezember 2022 (uncutnews.ch/warum-china-scheisse-ist-es-ist-ein-beta-test-fuer-die-neue-weltordnung/).] Die deutschsprachige Verschwörungspublizistik ist meist weniger rabiat. Der ganz überwiegende Tenor lautet Gewaltfreiheit. Allerdings: »Gewaltfreie Konfliktaustragung ist zunehmend schwer vorauszusehen. Repression fordert jede Widerstandsbewegung heraus; es ist aber weder vorhersagbar, ob sie gewaltfrei bleiben wird, noch welches Ergebnis die Repression bringt.« [1. Alexander Wiechert, Die Gewaltfalle. In: Rubikon vom 19. Februar 2021 (www.rubikon.news/artikel/die-gewaltfalle).] In der Tat: Das Verschwörungsweltbild legt Handeln zwar nahe, lässt aber offen, worin der Widerstand besteht.

Das schließt einen Flirt mit Gewalt nicht aus. Eine Autorin überlegt als Reaktion auf das als unangemessen empfundene Verhalten der Sprechstundenhilfe ihrer Hausärztin, »ob ich mit der Assistentin diskutieren oder sie erschießen soll. Diskutieren erschien mir wenig erfolgversprechend. Erschießen scheiterte mangels Waffe. So verließ ich grußlos die Praxis.« [1. Andrea Wiedel, Das Post-Lockdown-Syndrom. In: Rubikon vom 27. Juli 2022 (www.rubikon.news/artikel/das-post-lockdown-syndrom).] Vermutlich ist das Ironie, wenn auch missglückte Ironie. Aber was ist das? »Wie jetzt? Skandal! Nein, halt, viel mehr noch – Aufstand und Welt-Rebellion! Die Parlamente, Stiftungshallen und Fernsehstudios müssten brennen, der globale Megaprozess in Vorbereitung sein.« [1. Flo Osrainik, Die Impf-Fanatiker. In: Rubikon vom 30. September 2021 (www.rubikon.news/artikel/die-impf-fanatiker).] Ein Opfer der gnadenlosen Aufmerksamkeitskonkurrenz? Der Verzweiflungsschrei eines Impfgegners, dem niemand zuhört? Ein Biedermann als Brandstifter?

V.

Das Verschwörungsweltbild ist mit fundamentalem Misstrauen in die herrschenden Verhältnisse verbunden. Misstrauen ist nicht das Gegenteil von Vertrauen, sondern eine spezielle Version von Vertrauen. Misstrauen ist das Resultat einer Umstellung der Orientierung: von vielen Anhaltspunkten auf einige wenige.

In der Praxis bedeutet das zunehmend einseitigen Medienkonsum, starke Selektivität der sozialen Beziehungen, verschärfte Ich-Bezüglichkeit. Neben der Dauerkritik an den »Mainstream-Medien« findet man in den Verschwörungsjournalen immer wieder Berichte über das Zerbrechen alter Freundschaften in der Folge von Corona und über das Glück neuer Kontakte mit Gleichgesinnten sowie Appelle, sich auf sich selbst zu besinnen. Das setzt eine Selbstbestätigungsspirale der Realitätsdeutungen in Gang und verengt das Spektrum an Handlungsalternativen.

Die Überzeugung der kleinen Gruppe der »Aufgewachten«, dass von den »Supermächtigen« eine existentielle Gefahr für alle ausgeht und dass nur noch wenig Zeit bleibt, sie abzuwenden, disponiert zum Einsatz besonderer Mittel. Zudem verleiht die Vorstellung, als Avantgarde auch die Interessen der »Schlafschafe« stellvertretend wahrzunehmen, ein Gefühl von Legitimität. So geht der Verschwörungsglaube über in die Phantasmagorie des Widerstands einer kleinen Gruppe im Namen aller. Das ist immer noch weit von praktischer Gewalttätigkeit entfernt, steigert aber die Gewalttoleranz.