Nationalismus in der Zeitgeschichte

Der 22. Oktober 2022 hätte ein hübscher Gedenktag weiblicher Emanzipation werden können. Mit Giorgia Meloni trat die erste Frau das Amt der italienischen Ministerpräsidentin an. Ihren Landsleuten galten Weiblichkeit und leadership, wie die Italiener das seit dem Tod des Duce nennen, die längste Zeit als inkommensurabel, weil die Art, wie hier Politik kommuniziert und ästhetisiert wird, männliche Gebärden begünstigt. Frauen kamen durchaus in staatstragende Positionen. Die kommunistische Spitzenpolitikerin Leonide »Nilde« Jotti machte seit 1979 als Parlamentspräsidentin vor, wie das ging.

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Als sie 1992 abtrat, fand Giorgia Meloni gerade ihren Weg in die Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano, der neofaschistischen Partei der italienischen Republik. Während Jotti wie viele ihrer Generation aus der faschistischen Jugendorganisation in den antifaschistischen Widerstand wechselte (was Italiener gemeinhin als »la scelta«, als aktive Wahl bezeichnen), folgte Meloni dem Pfad ihrer Mutter hinein in die neofaschistische Organisation, vereint mit ihrer Schwester. Keine Abnabelung also, kein Moment der Katharsis, keine scelta, sondern Familientradition – so ließe sich der Weg Melonis ins Milieu beschreiben. Während sich Jotti programmatisch als progressive Demokratin verstand und die Staatsfrau gab, auch an der Seite ihres Lebenspartners, des KPI-Chefs Palmiro Togliatti, lernte Meloni das Trommeln, das Zürnen, das Inszenieren der Gegendemokratie. Sie bezeichnet sich am ehesten als Journalistin, so wie ihr Lebenspartner, und Journalisten blicken ihrem Ethos gemäß von außen auf den Staat.

Es war keine Überraschung, dass die Kommunistische Partei zur Feminisierung der italienischen Demokratie beitrug, auch wenn eine große Minderheit der Wählenden darin Frevel erblickte. Das edle Geschlecht Italiens werde an die Sowjets verkauft, so hieß es in antikommunistischen Kreisen. Die KPI verfügte über den mit Abstand größten Frauenanteil in Italien, etwa 25 Prozent, und sie gewöhnte den öffentlichen Raum an Politik unter weiblichen Vorzeichen. Einzig von ihrer eigenen Darstellungskraft waren Kommunistinnen wenig überzeugt. Sie fühlten sich auf der Piazza, am Mikrofon, vor den Massen eher deplatziert. [1. Claudia Gatzka, Anders unter Gleichen. Frauen, Männer und Weiblichkeit im italienischen Kommunismus der Nachkriegszeit. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2015.] Meloni dagegen kann das.

Programmatisch mag sie die Letzte sein, die in Italien für Feminismus eintritt. Wie um das anzuzeigen, hat sie entschieden, sich offiziell »il Presidente del Consiglio« zu nennen und nicht »la Presidente«. Sie repräsentiert Italien so ostentativ in einer zur Tradition erhobenen Männerrolle, doch setzt sie ihre Weiblichkeit dabei sehr gezielt ein: Haare, Make-up, Kleidung, Lächeln – die zornige Postfaschistin gibt nicht das Flintenweib, sondern die Lady. Während ihr bullig wirkender Konkurrent Matteo Salvini immer einen Schweißfilm auf der Haut zu tragen scheint, kann Meloni der politischen Rechten durchaus einen eleganten, wenn auch vielleicht nicht staatstragenden Anstrich geben. Entsprechend betont sie immer wieder ihre Seriosität.

Der Blick liberaler Medien auf Giorgia Meloni sucht aus verständlichen Gründen das Rechtsextreme, Rechtsradikale, Ultrarechte an ihr hervorzuheben, verbrieft durch ihre neofaschistische Herkunft. Die Bezeichnungen variieren, doch Melonis Regierungspolitik wird bisher und wohl auch in Zukunft primär daraufhin gelesen, was es heißt, im Herzen Westeuropas, in einem führenden Industriestaat, in einer liberalen Nachkriegsdemokratie, die auf den Trümmern des Faschismus errichtet wurde, Politik von rechts zu betreiben. Allerdings werden der Aufstieg und die Wirkungsmacht von Figuren wie Meloni nicht umfassend verständlich, wenn man sie nur als rechtsextrem begreift. Um sie historisch einordnen zu können, muss gerade das Angepasste, das Nichtrechtsextreme an ihnen in den Blick kommen, wofür Weiblichkeit eine Referenz und eine symbolische Formensprache zur Verfügung stellt.

Gerade im deutschen Kontext ist das aber gar nicht so einfach, weil sich hier nach 1945 ein normativer Modus entwickelt hat, über extreme Rechte zu sprechen, der diese am Rand der Gesellschaft (und gemeinhin als männlich) verortet. Methodologische Marginalisierung führt aber leicht dazu, die Bündnisfähigkeit und Anschlussfähigkeit der politischen Rechten in der liberalen Demokratie aus den Augen zu verlieren, die in der Geschichte der europäischen Rechten übrigens lange Zeit selbst als weiblich imaginiert wurde. Wahlsiege wie jenen der Fratelli d’Italia, Melonis Partei, werden Zeithistoriker erst erklären können, wenn sie lernen, die Spuren jener Rechten zu lesen, die wie Frauen häufig unsichtbar blieben in der Geschichte von Politik und Öffentlichkeit.

Rechtsextremismus und Demokratie

Ist Meloni eine rechtsextreme Regierungschefin, gar ein rechtsextremer Ministerpräsident? Legt man die gängige politikwissenschaftliche Definition von Hans-Gerd Jaschke zugrunde, dann ist rechtsextreme Regierungspolitik im Rahmen der liberalen Demokratie eine contradictio in adiecto. Denn Rechtsextremismus ist als Protestform klassifiziert. Jaschke und andere subsumieren darunter all jene Einstellungen, Zielsetzungen und Aktionen, die diesen Protest klar als aggressive Negation der liberalen, auf Menschenrechten und Gleichheitsgrundsätzen fußenden Demokratie markieren. [1. Hans-Gerd Jaschke (Hrsg.), Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001.] Wer Rechtsextremismus sagt, meint damit in aller Regel also eine antidemokratische Bewegung, die alle Pfeiler der liberaldemokratischen Ordnung zerstören will. In der Tat evoziert der Begriff so eher das Bild männlich dominierter Horden mit schwarz-weiß-roten Fahnen in staatsfernen Räumen Ostsachsens. Die Pressefotos im Zusammenhang mit dem Suchbegriff »Rechtsextremismus« in gängigen Suchmaschinen können das illustrieren.

Was das Konzept des Rechtsextremismus so nur schwer erfassen kann, sind (extreme) Rechte, die in die liberaldemokratische Ordnung integriert sind. Es lässt qua definitionem rechte Politik unberücksichtigt, die praktisch aufgehört hat, Opposition zum demokratischen System zu sein, oder die das ohnehin nie war, weil sie in Verflechtung mit liberaldemokratischen Institutionen auftrat. Giorgia Meloni ist, wie sie selber betont, ein Beispiel für eine solche Verflechtung. In der traditionellen Pressekonferenz zum Jahresende, wo sie in Schwarz-Weiß zwischen roten Weihnachtssternen saß und drei Stunden artig die nicht enden wollenden Fragen der Journalisten beantwortete, stellte sie die These auf, der Movimento Sociale Italiano habe eine »sehr wichtige Rolle im republikanischen Italien« gespielt und Millionen von Italienern eine Brücke in die Demokratie gebaut. Die Neofaschisten hätten sich bei der Eindämmung von politischer Gewalt und Terrorismus bewährt – eine besonders bizarre Verdrehung der Tatsachen, denn von ihnen ging die politische Gewalt im Nachkriegsitalien wesentlich aus – und sich im »Kampf gegen Antisemitismus« klar positioniert. Meloni erzählt im Grunde dieselbe Geschichte über die neofaschistische Partei, die deutsche Zeithistoriker über die Unions-Parteien erzählen: Indem sie Rechten, darunter auch »Ex«-Faschisten und »Ex«-Nazis, eine neue politische Heimat gaben, neutralisierten sie deren Extremismus und integrierten diese in den liberalen Verfassungsstaat.

Man mag die demokratische Rhetorik für Mimikry halten und für Blendung. Man mag davon ausgehen, dass liberaldemokratische Normen und Institutionen den Rechtsextremen immer nur zum Aufstieg dienen und dann langsam, aber sicher von ihnen ausgehöhlt werden. Doch man kann sich auch der normativen Herausforderung stellen, die praktische, obgleich normativ unerwünschte Kompatibilität rechtsextremer Politik und liberaldemokratischer Strukturen genauer zu untersuchen. Das Paradox, dass Personen, die als rechtsextrem gelten, liberale Demokratien repräsentieren können, wäre ein geeigneter Ausgangspunkt für eine historische Spurensuche.

Diese jedoch benötigt spezielle Werkzeuge, also geschichtswissenschaftliche Analysebegriffe, um Verschränkungen sichtbar zu machen, die durch die herkömmliche Nomenklatur unsichtbar bleiben. Begriffe wie »Rechtsextremismus«, »Rechtsradikalismus« und »Neonazismus« dienten in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren zur Kennzeichnung gewisser Organisationen und Personen als Gegner der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. Sie dienten der Unterscheidung zwischen jenen, die vom Staats- und Verfassungsschutz überwacht werden sollten, und jenen, denen man vertraute oder zu vertrauen vorgab. Der Begriff evoziert die Vorstellung einer gemäßigten »Mitte« (bisweilen gleichgesetzt mit »Gesellschaft«), an deren Rand nach einem Korridor der »Radikalität« schließlich die Grenze zu den Extremen gezogen ist. Wahlsiege wie der Melonis lassen sich dann nur paradox als Resultat eines »Rechtsextremismus der Mitte« fassen, der Aufstieg des Rechtspopulismus als eine Form der Radikalisierung der Mitte.

Um den Erfolg der Rechten erklären und seine Wirkungen analysieren zu können, ist es aber notwendig, die Allianzen und Hybriditäten zu untersuchen, die sie mit der liberaldemokratischen Ordnung verweben. Dazu ist es sinnvoll, sich vom Bild der Mitte und den Rändern zu lösen. Relationalen Konzepten wie Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus wäre ein absolutes Konzept zur Seite zu stellen, das es erlaubt, Areale der liberalen Demokratie auszumachen, wo Rechtsextremismus zwar offiziell exkludiert war, ähnliche Inhalte aber dennoch ihren Ort haben konnten. Areale, wo Rechte aufhörten, klar als Verfassungsfeinde erkennbar zu sein, wo sie nicht »am Rand« standen, sondern sich als Teil »der Mitte« in liberaldemokratischen Strukturen zu bewegen wussten oder als Teil einer organisierten Minderheit Einfluss auf das Framing politischer Probleme, auf die Debatten des Gemeinwesens und auf die Ausrichtung der Mehrheitsparteien nehmen konnten. [1. Valérie Dubslaff, »Deutschland ist auch Frauensache«.NPD-Frauen im Kampf für Volk und Familie 1964–2020. Berlin: de Gruyter 2022.]

Die Zeitgeschichte könnte diese integrierten Rechten einfach Nationalisten nennen, wie Dominik Rigoll, Yves Müller und Laura Haßler vorgeschlagen haben. Sie sprechen treffend von politischem Nationalismus, um die Handlungs- und Wirkungsmacht dieser Akteure und ihr Zusammenspiel mit organisierten Rechten – also jenen, die als »Rechtsextreme« untersucht werden – historisch erforschen zu können. [1. Dominik Rigoll /Laura Haßler, Forschungen und Quellen zur deutschen Rechten. Teil 1: Ansätze und Akteur*innen. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 61, 2021 (demnächst Teil 2: Handlungen und Wirkungen. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 63, 2023).] Historikerinnen und Historiker haben seit den späten 1970er Jahren wichtige Beiträge zum Verständnis von Nationalismus geliefert, aber die Zeitgeschichte dabei häufig stiefmütterlich behandelt. Sie waren von der Hoffnung getragen, die große Zeit des Nationalismus sei 1945 zu Ende gegangen, das Konzept durch Hitler in Europa diskreditiert gewesen. [1. Als aktuelle Ausnahme vgl. Norbert Frei /Franka Maubach /Christina Morina /Maik Tändler, Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin: Ullstein 2019. Der Klassiker von Kurt P. Tauber (Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism Since 1945. 2 Bde. Middletown /Conn.: Wesleyan University Press 1967) wurde kaum rezipiert. Noch mehr gilt das für Abraham Ashkenasi, Modern German Nationalism. Cambridge: Schenkman 1976; jüngst auch Patrick Bahners, Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart: Klett-Cotta 2023.]

Für weite Teile der liberalen, konservativen und sozialistischen Eliten mag das zutreffen, doch stellt dies für eben diese Gruppen kein Spezifikum der Zeitgeschichte dar. Wie ein Blick auf die Debatten im deutschen Reichstag zeigt, war die Rede von »nationalistischen« Tendenzen, die um 1900 aufkam, stets von einem pejorativen Grundton begleitet. Nationalistisch waren in der Wahrnehmung deutscher Politiker vor 1914 im Grunde immer nur die Anderen – etwa die Franzosen, die in Elsaß-Lothringen gegen die Deutschen agitierten. Zu einer »nationalen« Politik mussten sich zunehmend alle Politiker irgendwie bekennen, doch »nationalistisch« wollte kaum jemand sein, auch nicht das Gros der Monarchisten. Denn »nationalistisch« bezeichnete nicht nur einen übersteigerten, gefährlichen und politisch unverantwortlichen Nationalstolz, es bezeichnete auch einen politischen Stil, den man als unbürgerlich verachtete und außerhalb des Parlaments verortete. Nationalismus, das war Sache der »Bierbankpolitiker«, die hetzten, schrien und aufpeitschten. Im Weimarer Reichstag wurde die Unterscheidung zwischen »national« und »nationalistisch« zum eingeführten Sprechakt im interfraktionellen Diskurs, um miteinander sprechfähig zu bleiben, und »nationalistisch« galt allen als Schimpfwort. Hitler oder die Gebrüder Jünger, die sich zu ihm bekannten, popularisierten dann sicherlich den Begriff, doch positiv besetzt war er im politischen Sprachgebrauch wohl nie – dafür sagte man »national«.

Diese doppelte Präsenz des politischen Nationsbezugs – einmal als das exkludierte Andere, einmal als das inkludierte Eigene – adressiert eine neue Zeitgeschichte des Nationalismus. Sie erforscht die Grenzen zwischen »nationaler« und »nationalistischer« Politik sowie deren Schnittstellen in der liberalen Demokratie, und sie fragt nach Nationalisierungsprozessen, die stattfinden konnten, ohne dass damit eine Legitimierung des Nationalismus einhergehen musste. Nationalisierung hörte nicht mit der Nationalstaatsgründung auf, die der frühe und häufig als links oder demokratisch gefasste Nationalismus seit 1800 anstrebte und nicht selten im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchsetzte. Politischer Nationalismus bedeutete, die Nation auch nach der Gründung des Nationalstaats weiterhin zum Telos des eigenen politischen Handelns zu machen – durch weitere Nationalisierung des Staates und seiner Bevölkerung, ihrer Rhetoriken und Denkweisen. [1. Dominik Rigoll, Public History von links nach rechts. Zur De:Nationalisierung des Zeithistorischen in Besatzungszeit und Bundesrepublik. In: Frank Bösch /Stefanie Eisenhuth /Hanno Hochmuth (Hrsg.), Public Historians. Zeithistorische Interventionen seit 1945. Göttingen: Wallstein 2021.]

Politischer Nationalismus

Nationalismus ist ein komplexer historischer Analysebegriff, doch gerade darin liegt sein Potential für die Erklärung und Beschreibung von Phänomenen, die durch Rekurs auf den Rechtsextremismusansatz nicht hinreichend begriffen werden können. Die Geschichtswissenschaft unterscheidet zwischen Nationalismus als Weltbild, das zur Ideologie werden kann, und Nationalismus als politischer Bewegung. Eine weitere Differenzierung betrifft den Grad der »Radikalität«. [1. Christian Jansen /Henning Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus. Frankfurt: Campus 2007.] Wenn Historiker zwischen gemäßigten und radikalen Nationalisten unterscheiden, etablieren sie eine relationale, normative Nomenklatur. Sie wirft die Frage auf, wo das Maßvolle aufhört und das Radikale anfängt, und überlässt die Antwort einem nicht näher explizierten Commonsense der Historiker. Die darin gründende Problematik, einen »dunklen« Nationalismus von einem »hellen« Patriotismus zu unterscheiden, haben Dieter Langewiesche und jüngst wieder Christian Jansen und Marianne Zepp diskutiert. [1. Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 1994 (www.fes.de/fulltext/historiker/00625.htm); Christian Jansen /Marianne Zepp (Hrsg.), Kann es demokratischen Nationalismus geben? Über den Zusammenhang zwischen Nationalismus, Zugehörigkeit und Gleichheit in Europa von 1789 bis heute. Darmstadt: WBG 2021.] Sie betonen, dass die Idee einer Welt der Nationen, die als Hauptquellen von Identität fungieren, den Keim der Konflikte schon in sich trägt, die das Zeitalter der Nationen kennzeichnet: die Frage nämlich, wer dazugehört und wer nicht dazugehört und wo die territorialen Grenzen zwischen den Nationalstaaten verlaufen.

Statt zwischen gemäßigten und radikalen Nationalisten zu unterscheiden, ließe sich idealtypisch ein ganzheitlicher oder programmatischer von einem partiellen oder akzidentiellen Nationalismus unterscheiden. Nationalismus wäre dabei wie Konservatismus, Sozialismus oder Liberalismus als eine Ideologie zu verstehen, die Fratelli d’Italia, die Alternative für Deutschland, der Rassemblement National oder die Schwedendemokraten als deren programmatische Exponenten. Freilich verfügen sie in der empirischen Wirklichkeit auch über konservative, (wirtschafts)liberale und sozialistische Anteile, ebenso wie sozialistische Parteien auch liberale Anteile aufweisen oder konservative Parteien sich sozialistischen Forderungen geöffnet haben. Doch Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik ist die Idee der Nation, nicht die Idee der Freiheit, der Gleichheit oder der Beharrung. Nach dem Ziel und dem Sinn ihrer Regierungspolitik befragt, antwortet Giorgia Meloni mit »Italien«. Sie meint damit nicht den politischen Verband, dem sie vorsteht und der auch eine Stadt oder eine Region sein könnte, sondern die Vorstellung einer Nation, die sie als reell, überzeitlich und sakrosankt begreift.

Als ein Modus der Verzeitlichung – also als eine bestimmte Weise, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander in Bezug zu setzen – entstand Nationalismus, wie die anderen genannten Ismen, um 1800, als mit den Revolutionen auch die Geschichtlichkeit Einzug in die Erfahrungswelt der Zeitgenossen hielt. Wie Liberalismus, Konservatismus und Kommunismus stellt Nationalismus eine seit Beginn des 19. Jahrhunderts eingeübte Strategie dar, mit Kontingenz umzugehen – also sich dessen bewusst zu sein, dass das Morgen anders aussehen wird als das Gestern und das Heute. Der Liberalismus verband die eigene Gegenwart mit einer positiven Zukunftsprojektion. Der Konservatismus begründete eine natürliche Kontinuität und richtete so die Gegenwart und Zukunft eher auf die Vergangenheit aus. Der Kommunismus verknüpfte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Gesellschafts- und Geschichtsutopie. Und der Nationalismus versprach Erlösung durch das Zusammenfallen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Nation. [1. Jörn Leonhard, Liberalismus. Konturen der historischen Semantik seit dem frühen 19. Jahrhundert. In: Nicole J. Saam /Heiner Bielefeldt (Hrsg.), Die Idee der Freiheit und ihre Semantiken. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Bielefeld: transcript 2023.]

Nationalismus trat häufig als Befreiungsnationalismus auf, der sich gegen ein Imperium oder gegen ein Besatzungsregime richtete und sämtliche politischen Strömungen erfassen konnte – zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen das Napoleonische Empire, aber auch in den 1940er Jahren gegen das kriegerisch expandierende »Dritte Reich«. Dieser Nationalismus drängt auf nationale Einheit und nationale Autonomie. Nationalisierung meint hier die Schaffung oder Wiederherstellung und die Integration des eigenen Nationalstaats.

Der programmatische Nationalismus hingegen, mit dem sich die Zeitgeschichte primär zu befassen hat, drängt auf eine Nationalisierung auf Basis des Nationalstaates beziehungsweise auf eine Abwehr von Denationalisierungsprozessen etwa in Phasen der Globalisierung. Er gründet auf der Vorstellung einer bedrohten Einheit und Autonomie der Nation, wie sie um 1900 im Kontext der ersten kapitalistischen Globalisierung entstand, die durch massenhafte Migrationsbewegungen und hohe grenzüberschreitende Arbeitsmobilität gekennzeichnet war. Nationalisten, die sich nun politisch zu organisieren begannen, nachdem sie vorher im liberalen und konservativen Lager integriert gewesen waren, schrieben sich die Rettung und die Stärkung der Nation auf die Fahnen, samt ihrer Sprache. Deshalb sagten sie im Deutschen eher »Volk« statt »Nation« und nannten sich bis 1945 »völkisch« statt »nationalistisch«, auch um der schlechten Presse zu entgehen. In dieser Tradition standen die Faschisten und die Nazis nach 1918, und in dieser Tradition stehen Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel heute, ganz gleich ob sie ihren Nationalismus internalisiert oder zu Machtzwecken angeeignet haben. [1. Darauf weist Michael Thumann hin (Der neue Nationalismus. Die Wiederkehr einer totgeglaubten Ideologie. Berlin: Die Andere Bibliothek 2020).]

Das politische Programm von Nationalistinnen basiert auf der Vorstellung einer Nation, die über Herkommen verfügt, in der Gegenwart bedroht ist und für die Zukunft bewahrt werden muss. Meloni bedient die Vorstellung einer Nation am Abgrund durch regelmäßige Referenzen auf ein Italien, das notorisch pessimistisch sei und keinen Glauben an sich selbst und seine Leistungsfähigkeit habe. Dieses Bild einer erschlafften Nation ist konstitutiv für den italienischen Nationalismus; im frühen 20. Jahrhundert nährte es die virile Vision eines uomo nuovo, eines »neuen Menschen«, der kampf- und opferbereit sein sollte für sein Vaterland. Silvio Berlusconi nannte seine Partei »Forza Italia« und rekurrierte damit auf den Fußball, aber auch auf die Idee des Aufbäumens und der gemeinschaftlichen Kraftanstrengung beim Voranschreiten der Nation. Als Liberaler (als der er in Italien gilt) popularisierte er so zu Beginn der 1990er Jahre den politischen Nationalismus, war damit aber kein internationaler Vorreiter. Bereits 1980 bediente Ronald Reagan mit dem Motto »Let’s make America great again« das Bild der überzeitlichen Nation, um US-amerikanische Wählerinnen und Wähler in einer wirtschaftlichen Krisensituation zu energetisieren. Meloni beschwört heute, in Zeiten des Misstrauens gegen Politiker, beständig ihre responsabilità, ihre »Verantwortung«, und kann ihrem Kabinett so auch zum Nimbus der Schicksalshaftigkeit verhelfen, der nützlich sein kann, um das notorisch zersplitterte rechte Lager zusammenzuhalten.

Programmatische Nationalisten wollen die Nation voranbringen, indem sie sie zurückführen zu ihren Wurzeln, also zu dem, was sie selbst als die Wurzeln definieren. Sie borgen sich die progressive Sprache nur, um eine letztlich konservative Idee zu verfolgen. Sie denken die Nation wie eine Dynastie, deren Herkommen es zu ehren, deren Memoria es zu pflegen und deren Überleben es zu sichern gilt. Im Grunde haben sie aristokratische Modi in die moderne Politik hinübergerettet, die auf Vorstellungen von Erlesenheit basieren, und nicht ohne Grund verfügen sie über große Schnittmengen mit den Konservativen, halten diese jedoch häufig für nicht »national« genug. Ein Teil der Nationalisten begnügt sich mit dem Ziel, den Staat nach ihren Vorstellungen zu organisieren, wobei die staatliche Ordnung dann entsprechend in die Hände »der Besten« gelegt werden soll, über deren Auswahl wiederum sie selbst entscheiden. [1. Ein Beispiel aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts ist: Daniel Frymann, Wenn ich der Kaiser wär’ – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1913.]

Ein anderer Teil der programmatischen Nationalisten zielte auf aktive Bevölkerungspolitik, um die Nation zu »züchten« – an dieser Stelle beginnen »Volk« und »Rasse« zu konfluieren. Auch die Idee, das Heil und die Wurzeln der Nation in der Reinheit des Blutes zu suchen, lässt sich als ein Rückgriff auf das aristokratische Prinzip der Erlesenheit begreifen: Geschlechter im genealogischen Sinne definierten sich über Blut. Da auch Nationen sich im nationalistischen Sinne über Blut definieren, griff nationalistische Politik im 20. Jahrhundert auf das gebotene Mittel zurück, nämlich auf die Eugenik. Das traf für ganzheitliche wie für partielle Nationalistinnen und Nationalisten zu – und überhaupt verbrieft das 20. Jahrhundert den Erfolg der Idee nationaler Bedrohung und Bewahrung dabei, führend oder gar hegemonial zu werden.

Durch die Popularisierung des biologistischen Diskurses nicht zuletzt im Zuge der Spanischen Grippe fanden nationalistische Denkfiguren nach 1918 Verbreitung. Die politisch-soziale Sprache der deutschen Zwischenkriegszeit war geprägt vom Begriff des »Volkskörpers«, der von »Bazillen« oder »Krebsgeschwüren« bedroht schien. Der nationalistische Bedrohungsdiskurs wurde so normalisiert, obwohl die organisierten Nationalisten lange in einer krassen Minderheit waren und sich die anderen politischen Lager deutlich vom »Nationalismus« abgrenzten, wie ein Blick in die Reichstagsdebatten zeigt. Der Aufstieg organisierter Nationalisten zu den größten Massenparteien Europas, die dann die faschistischen Regime stützten, beruhte auf ihrer Transformation zu Sammlungsparteien und auf der allmählichen Normalisierung ihres Gedankenguts – die man auch als Nationalisierung begreifen kann.

Eine (Zeit)Geschichte des Nationalismus muss antreten, um diese zyklisch auftretenden Erfolge der nationalistischen Minderheit bei der Prägung politischer Debatten, bei der allmählichen Hegemonialisierung ihrer Denkfiguren und schließlich bei der Durchsetzung ihrer politischen Agenden auch nach 1945 zu vermessen. Programmatischer, organisierter Nationalismus wurde hier als Rechtsradikalismus oder Rechtsextremismus exkludiert und marginalisiert. Als unbenannter, integrierter Nationalismus konnte er in der liberalen Demokratie aber durchaus seinen Ort haben.

Liberale Demokratie und integrierter Nationalismus
Es ist erstaunlich, wie wenig die europäische Nachkriegsgeschichte bisher auf diese ihr inhärenten Nationalismen untersucht worden ist. [1. Vgl. Sonja Levsen, Die Nation in Zeiten von Corona. Zeitgeschichtsforschung auf dem Prüfstand. In: Geschichte der Gegenwart vom 10. Juni 2020 (geschichtedergegenwart.ch/die-nation-in-zeiten-von-corona-zeitgeschichtsforschung-auf-dem-pruefstand/).] Denn sie gründete in vieler Hinsicht auf einen neu erwachten Befreiungsnationalismus, der sich im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer richtete und im Kalten Krieg gegen die sowjetische Bedrohung an den Toren West- und Mitteleuropas. Antifaschismus wie auch Antikommunismus mobilisierten in vieler Hinsicht nationalistische Gefühle, insofern sie sich gegen einen äußeren Feind richteten, ob nun im Partisanen- oder im Propagandakrieg.

Gerade die italienischen Kommunisten segelten auf dem Ticket des Nationalismus, erst in der Resistenza, dann auch als größte Partei der jungen Republik. Auf ihren Massenkundgebungen sollte die Trikolore genauso häufig auftauchen wie die rote Fahne. In Frankreich bezeichnete sich der kommunistische Teil der Widerstandsbewegung als Front National; die Kommunistische Partei bespielte in der Vierten und Fünften Republik den Nationalismus zahlreicher Wählerinnen und Wähler, von denen dann nicht wenige zum 1972 gegründeten Front National abwanderten, der heute Rassemblement National heißt. Denkt man noch an Charles de Gaulle und die Pétainisten, dann wird es zu einer zeithistorischen Herausforderung, Bereiche zu identifizieren, die im Frankreich oder Italien der Nachkriegszeit nicht von einem integrierten Nationalismus durchdrungen waren. In der italienischen Republik stellten die katholisch gestützten Christdemokraten bis zu ihrem Zusammenbruch die stärkste Partei, die nicht nur in den fünfziger Jahren, sondern auch noch in den 1970ern mit der Bedrohung Italiens durch den Sowjetkommunismus Wahlkampf machte. Hitler und Stalin förderten so in Westeuropa die weitere Nationalisierung der Nationalstaaten.

Die Deutschen selbst sind mit und nach 1945 häufig als Desillusionierte beschrieben worden, deren bittere Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei, sich von ihrer eigenen Nation zu distanzieren. Die Bundesrepublik galt unter Zeitgenossen als Staat ohne ausgeprägtes Nationalbewusstsein, und diesen langanhaltenden Diskurs haben viele Zeithistoriker in ihren Erzählungen repetiert. [1. Eugen Gerstenmaier, Neuer Nationalismus? Von der Wandlung der Deutschen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1965.] Dabei deutete schon der neue »Staatsfeiertag« der Bundesrepublik am 17. Juni an, dass die »nationale Frage« zumindest offiziell zum Dreh- und Angelpunkt des westdeutschen Staatsbewusstseins wurde. Er hieß seit 1954 »Tag der deutschen Einheit«.

Man kann vielleicht präzisieren, dass das Verhältnis zur eigenen Nation in der Bundesrepublik einen vergangenheitspolitischen Bias erhielt, der im Grunde bis heute wirksam ist: Er verband die Frage nach Nationalismus mit der Retrospektive, indem er »Verstrickungen« ins NS-Regime in den Blick nahm, und ließ prospektiven Nationalismus in der zeithistorischen Gegenwart aus dem Blickfeld geraten. Einstige Funktionseliten der Bundesrepublik wurden als »Belastete« untersucht und auf ihre Integration in den liberalen Verfassungsstaat sowie auf ihre Leistungen für die Demokratie befragt, aber nicht daraufhin, ob und wie sie eventuell in neuen Umgebungen und unter freilich erschwerten Bedingungen nationalistische Agenden weiterverfolgten. Der Umstand, dass die Vergangenheit es verbot, offen nationalistische Propaganda zu betreiben, ließ ja mehr Handlungsoptionen, als nationalistischen Vorstellungen zähneknirschend abzuschwören.

Sicherlich wechselten manche komplett das Lager. So die Historikerin Helga Grebing, die sich offen dazu bekannte, wie nationalisiert sie als Jugendliche aus dem NS-Regime herausgekommen war, dann ihren Weg zum demokratischen Sozialismus fand und schließlich bestechende politikhistorische Analysen publizierte. [1. Helga Grebing, »Für mich war klar: Indoktrination – nicht mehr braun, jetzt rot – kommt nicht in Frage«. In: Rüdiger Hohls /Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Stuttgart: DVA 2000.] Doch erscheint es kaum plausibel, anzunehmen, dass ausgerechnet für Nationalisten und speziell für NS-Eliten nicht gelten sollte, was die historische Forschung für liberale, katholische, sozialistische oder kommunistische Personen selbstverständlich voraussetzt – nämlich dass sich ihre politischen Biografien eher durch Kontinuitäten als durch Brüche auszeichneten.

Nach Handlungen zu suchen, durch die sich Nationalisten nach 1945 erkennbar machten, bedeutet nicht, unverbesserliche Nazis historiografisch dingfest machen zu wollen. Vielmehr muss es darum gehen, für möglich zu halten, dass Nationalismus in der Bundesrepublik derart normalisiert war, dass es den meisten ehemaligen Funktionseliten und Stützen des NS-Systems auf den mittleren und unteren Ebenen nicht sonderlich schwerfiel, sich in den neuen Staat zu integrieren, weil gewisse, aber nicht alle politischen Zielvorstellungen der liberalen Demokratie geopfert werden mussten. Weil gewisse, aber nicht alle Sprechweisen angepasst werden mussten. Weil man sich von den »Rechtsradikalen« und dem »Hypernationalismus« abgrenzen musste, aber zugleich eine »gemäßigt« nationalistische Rhetorik bedienen konnte. Kein anderer stand so für diese Strategie wie der erste Vorsitzende der Nachkriegs-SPD, Kurt Schumacher. Er war freilich kein ganzheitlicher Nationalist, aber ein partieller, der nationalistische Sprachen bedienen konnte und auch deshalb unter den Deutschen größte Popularität genoss.

Jenseits offiziöser Gedenkpolitik wäre noch systematischer nach den gesellschaftlichen Folgen der Nationalisierung zu fragen, die im »Dritten Reich« vonstatten gegangen war. Diese Frage ist deshalb so wichtig, weil gerade auch nichtnationalistische »Volksgenossen« im Regime auf die Idee der Nation, ihrer Rettung und ihrer Stärkung hin zugerichtet worden waren, wie die jüngere historische Forschung umfassend gezeigt hat. Die ultimative Durchsetzung der Idee der homogenen Nation durch Deportation und Ermordung von Juden, Sinti und Roma, die Eroberung und »Säuberung« von »Lebensraum« im Osten, die Mobilisierung der Jugend und abermalige politische Hinrichtung von Regimegegnern im Rahmen des »Endkampfs« in den letzten Jahren des Krieges sind ja nicht nur als schlimme Vergangenheiten, sondern auch als partizipative Formen der Nationalisierung zu verstehen, von denen sich nicht alle Beteiligten nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« selbstverständlich abgrenzten.

In der Alltagsprache der jungen Bundesrepublik jedenfalls sind Sedimente der nazistischen Nationalisierung nicht zu übersehen. Topoi, die die Nazis nicht erfunden hatten, die aber in der Propagandasprache des NS-Regimes zentrale Funktionen erfüllt hatten, waren etwa im Rundfunk der jungen Bundesrepublik weiterhin verbreitet, gerade bei Sendungen, die eng mit dem Publikum interagierten. Man sinnierte über politische »Führer«, debattierte über die besten Maßnahmen zum Wohl der »Volksgemeinschaft« und verortete sich im »Abendland« – auch dies ein Begriff, der in der NS-Kriegspropaganda breiten Raum eingenommen hatte, um sich nach der Niederlage in Stalingrad eine Tür zum Westen aufzuhalten. [1. Axel Schildt, Antikommunismus von Hitler zu Adenauer. In: Norbert Frei /Dominik Rigoll (Hrsg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und denUSA. Göttingen: Wallstein 2017.] Als »Reichsbürger« imaginierten sich noch viele, denn angesichts anderslautender DDR-Propaganda war es nötig, dagegenzuhalten. Eugen Gerstenmaier (CDU), der als einstiges Mitglied des Kreisauer Kreises über jeden Nazi-Verdacht erhaben war, stellte 1965 im Rahmen seines Essays Neuer Nationalismus?, in dem er über das prekäre deutsche Nationalbewusstsein nachdachte, klar, dass »das Deutsche Reich weder als Rechtssubjekt noch als geschichtlich-politische Realität aufgehört hat zu existieren«. Auch nach der neuen Ostpolitik lebte die Vorstellung eines kontinuierlichen Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 weiter.

Neben Sprachen und Denkfiguren lassen sich Politiken ausmachen, die weiterhin nationalistisch fundiert waren, etwa die sogenannte Ausländerpolitik und die Politik der Staatsbürgerschaft. Liberalisierungsversuche ließen in der Geschichte der Bundesrepublik immer auch Rufe nach Renationalisierung laut werden oder wurden einkassiert. Als Hamburg und Schleswig-Holstein Ende der 1980er Jahre EG-Ausländern das kommunale Wahlrecht gewährt hatten, zogen Gegner vor das Bundesverfassungsgericht und gewannen. »Die Deutschen sind das Volk«, pointierte die FAZ die Botschaft des Urteils und die nationalistische Agenda jener, die in diesem Punkt erfolgreich einen Liberalisierungsschritt verhindert hatten. [1. Die Deutschen sind das Volk. In: FAZ vom 1. November 1990.] Der holländische Banker, der seit zwanzig Jahren in Frankfurt residierte, sollte eben nicht den Bürgermeister der Mainmetropole mitbestimmen dürfen. Solche Beispiele zeigen, dass es zu eng ist, hier von einer rassistischen Grundierung zu sprechen. Rassismus gehört, wie Sexismus oder Homophobie, Antisozialismus und Antiliberalismus, zum programmatischen Nationalismus dazu, doch als Fundament dient stets die Vorstellung, die Nation vor ihren »Feinden« schützen zu müssen.

Wenn die Zeitgeschichte nach 1945 nicht als prominente Ära des Nationalismus begriffen worden ist, dann könnte das mithin auch daran liegen, dass die Nationalisierung in postfaschistischen und postnationalsozialistischen Gesellschaften so weit fortgeschritten war, dass Zeitgenossen wie auch Zeithistoriker bei ihrer Analyse vieles für normal hielten, was einige Dekaden zuvor noch als Ausweis nationalistischer Zielsetzungen eingestuft worden wäre. Es ergibt daher Sinn, anzunehmen, dass Nationalismus sich transformieren und sich dabei auch an liberaldemokratische Kontexte anpassen konnte, anstatt lediglich von ihnen absorbiert zu werden. Für die Bundesrepublik ließe sich argumentieren, dass nationalistische Eliten sich allmählich integrierten, aber auch wieder desintegrieren konnten, wenn ihnen die Ordnung zu »links« wurde – wie ab 1967/68. Helmut Schelsky etwa, ein Träger des NS-Regimes, avancierte zum wichtigsten Soziologen der Bundesrepublik und machte zunächst seinen Frieden mit der liberalen Demokratie, sichtbar in seinem Engagement für die Universitätsreformen. In den siebziger Jahren aber wandte er sich dezidiert wieder ab, und je »roter« die Bundesrepublik wurde, desto rechter wurden seine Bücher.

Fragen an eine zeithistorische Nationalismusforschung

Es ist aufschlussreich, nach der Genese des Rechtspopulismus-Begriffs in der Quellensprache zu suchen. Im Deutschen wurde er erstmals auf die Politik der christliberalen Koalition unter Helmut Kohl angewandt, und zwar von links. [1. Griff nach der Kultur. In: FAZ vom 31. Januar 1984; Dirk Koch /Klaus Wirtgen, »Wäre ich Deutscher, würde ich schreien«. In: Spiegel vom 4. Januar 1987 (www.spiegel.de/politik/waere-ich-deutscher-wuerde-ich-schreien-a-02dbb109-0002-0001-0000-000013520358?context=issue)] Auch wenn man den politischen Bias in Rechnung stellt, der dieser Diagnose innewohnte, bleibt unter dem Strich ein interessanter Befund: Was als rechtspopulistisch, also irgendwie als anstößig galt, schienen demokratische Parteien in den achtziger Jahren selbst hervorzubringen.

Hält man es für möglich, dass in liberalen Demokratien auch politischer Nationalismus anzutreffen war – im Staatsdienst, im Militär, in Politik und Publizistik, in Massenmedien, an Schulen, an Universitäten und nicht zuletzt an den Wahlurnen –, dann stellt sich der Aufstieg jener Kräfte, die heute als rechtspopulistisch bezeichnet werden, in neuem Licht dar. Sie wären dann nicht als ein Effekt der liberalen Demokratie und der Globalisierung zu begreifen, als eine Reaktion auf Defizite und Repräsentationslücken, die diese produzieren, sondern präziser als ein Produkt von Desintegrationsprozessen: als etwas, das in der liberalen Demokratie bereits lange Zeit enthalten war und irgendwann, im Zuge politischer Auseinandersetzungen, abgestoßen wurde, oder als etwas, das in den Institutionen der liberalen Demokratie stets und immer noch enthalten ist, dort aber nur begrenzt wirksam werden kann, weil es auf Widerstand stößt und sich politischen Kompromissen beugen muss.

Eine Zeitgeschichte, die nach dieser Präsenz des Nationalismus innerhalb des Pluralismus liberaldemokratischer Ordnungen fragt, müsste vermeintlich altbekannte Spuren neu auslesen. Anläufe rechtsextremer und rechtspopulistischer Bewegungen wären selbst dann, wenn sie ephemer waren, daraufhin zu untersuchen, wie sie den Diskurs veränderten, nationalistische Agenden popularisierten, die anderen Parteien zum Reagieren zwangen. Figuren wie Hans Filbinger, Alfred Dregger oder Franz Josef Strauß, aber auch rechte Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin wären daraufhin zu befragen, ob und wie sie als integrierte Rechte die Debatten und Agenden ihrer Parteien und der Bundesrepublik mitgeprägt, Sagbarkeitsräume mitdefiniert und ein Veto gegen Liberalisierungsversuche eingelegt haben.

Eine Zeitgeschichte des Nationalismus könnte in Zukunft also fragen, wie viel von Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel in den Institutionen und Sprechweisen der liberaldemokratischen Ordnung selber aufgehoben war, bevor diese eklatant an Zuspruch gewannen. Sie könnte, indem sie Nationalismus zur Kenntnis nimmt, analysieren, wie dieser sich über die Regime- und Regierungswechsel hinweg transformiert und wie sich nationalistische Deutungen der Welt in liberaldemokratischen Umwelten verändern. Sie könnte untersuchen, wie nationalistische Sprachen und Ideologeme, selbst dann, wenn die sie propagierenden Bewegungen scheiterten oder marginal blieben, in demokratische Öffentlichkeiten hineinwirkten und gesellschaftliche Wirkung entfalteten.

Mit Blick auf die Bundesrepublik und Italien, aber auch mit Blick auf Vichy-Frankreich und andere Kollaborationsregime wäre noch genauer nach der Wirkungsgeschichte der Nationalisierung zu fragen, die von Faschismus und Nazismus ausging. Kurzum: Es wäre zu diskutieren, was es für Demokratien bedeutete, mit Nationalisten zu leben, und was es für Nationalisten hieß, in Demokratien zu operieren.

Man muss es also für wahrscheinlich halten, dass Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel aus liberaldemokratischen Konstellationen erwachsen sind, in denen Nationalismus auf eine gewisse Art repräsentiert war. Womöglich ist er daraus demokratisiert hervorgegangen, ob nun im Sinne der Mimikry oder in Gestalt der Aneignung emanzipativer Praktiken. Seine Feminisierung deutet das an und ist zugleich seine vielleicht größte demokratische Waffe. Auf der Pressekonferenz zum Jahresende rangen die Journalisten Giorgia Meloni, die sie unermüdlich »la Presidente« nennen, dann doch ein feministisches Statement ab. Mit Blick auf den politischen Gegner, den Partito Democratico, sagte sie nach einigem Herumdrucksen, es sei gut, dass nun auch dort Frauen aussichtsreich um den Posten der Parteiführung kandidieren. Sie habe es vorgemacht.

Ich greife hier zahlreiche Überlegungen und Vorschläge auf, die aus Texten von und Gesprächen mit Dominik Rigoll stammen. Insbesondere: Dominik Rigoll /Yves Müller, Zeitgeschichte des Nationalismus. Für eine Historisierung von Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus als politische Nationalismen. In: Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 60, 2020.