Neutrale Politik

Vor dem Strukturwandel (Teil I und II)

Die Bundesrepublik hatte im Abstand von sechs Jahrzehnten zweimal mit einem »Strukturwandel« ihrer Öffentlichkeit zu tun. So jedenfalls Jürgen Habermas in zwei ungleichen Texten von 1962 und 2022. Sein klassisches Frühwerk traf die Lage, weil es der liberal-konservativen Rekonstruktion einer freien Zeitungs-, Medien-, Parlaments- und Regierungsöffentlichkeit in der jungen Bundesrepublik ihre nur scheinbare Offenheit vorhielt (in Wirklichkeit ist Macht, so Habermas, im refeudalisierten Sozialstaat immer schon verteilt, bevor öffentlich gesprochen wird), weil es aber gleichzeitig gegenüber der marxistischen Kritik an der Öffentlichkeit darauf bestand, dass Rede und Sprache nicht nur Teil des Überbaus, sondern Basis vernünftiger und freier Vergesellschaftung sind. Habermas’ Antwort hat es in alle Lehrbücher geschafft: Demokratische Herrschaft soll heißen: herrschaftsfreie Diskursregeln.

(Dieser Text ist im Aprilheft 2023, Merkur # 887, erschienen.)

Was ist mit einer normativen Theorie der Öffentlichkeit in der Gegenwart noch anzufangen? Habermas’ »neuer Strukturwandel« von 2022 schließt sich der üblichen Problembeschreibung an: soziale Medien, Krise des Öffentlichen, Krise der Demokratie, Polarisierung, Kommerzialisierung. [1. Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp 2022.] Die Regeln des öffentlichen politischen Sprechens verändern sich. Können die Regeln, wer wie sprechen darf, offen sein gegenüber allen Meinungen und in diesem Sinne herrschaftsfrei? Kann darin die Einheit der Öffentlichkeit liegen? Beides sind für die Öffentlichkeiten der Gegenwart keine besonders naheliegenden Leitvorstellungen.

Interessanterweise war beiden Zeitdiagnosen ein sehr konkreter Strukturwandel des Verfassungsrechts der Öffentlichkeit vorausgegangen. Kurz vor dem ersten Strukturwandel brachte das Bundesverfassungsgericht mit dem wohl berühmtesten Urteil seiner Geschichte in der Rechtssache »Lüth« (1958) eine grundsätzlich andere Verfassung der öffentlichen Meinung ins Spiel: Es verbot einer Filmverwertungsgesellschaft, missliebige Kritik an der NS-Vergangenheit des Regisseurs Veit Harlan unter dem Gesichtspunkt der Geschäftsschädigung mundtot zu machen, und interpretierte Grundrechte damit als Garantien eines chancengleichen Zugangs zur Öffentlichkeit. Wenig später machte das Gericht Adenauers Pläne für ein von der Bundesregierung kontrolliertes Deutschland-Fernsehen (1961) zunichte und schuf die Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Medienordnung der Bundesrepublik: Staatsfreiheit, Programmfreiheit, Gremienpluralismus. Gesagt war damit: Die Regeln der öffentlichen Rede sind demokratisch, wenn sie den Zugang zur Öffentlichkeit unparteiisch, das heißt meinungsneutral ausgestalten.

Wenige Jahre vor dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit hingegen begann die Rechtsprechung in der Bundesrepublik, eine neue und andere Grundregel dagegenzustellen. Auf die Krise der journalistischen Ver-Mittelung einer Politik, die auf allen Kanälen und unter Echtzeitdruck und Authentizitätszwang zu ihrem fragmentierten Publikum spricht, hat das Verfassungsrecht reagiert mit einem Gebot der Abkühlung. Sofern politische Rede mit staatlicher Macht verbunden ist, reicht der Rechtsprechung heute die Offenheit und Neutralität des Zugangs nicht mehr aus, die Rede des handelnden politischen Personals muss selbst durch Sprachregeln begrenzt, nämlich neutralisiert werden. Staatliche Herrschaft soll in ihrer Erscheinungsform in der Öffentlichkeit, so das Bundesverfassungsgericht in einer ganzen Reihe neuerer Entscheidungen, durch ein allgemeines »Gebot staatlicher Neutralität«, durch ein »Neutralitäts- und Sachlichkeitsprinzip« begrenzt sein.

Neutralität als gleiche Chance

Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Rechtsprechung mit dem demokratischen Grundsatz der gleichen Chance. Die Offenheit des politischen Wettbewerbs ist danach verletzt, wenn sich Amtsträger in einseitiger oder parteipolitischer statt in sachlich-neutraler Weise äußern. Die Prämisse dieser Rechtsprechung ist gut zu begründen: Demokratie heißt elektorale Konkurrenz. Das Medium, in dem der Stimmenwettbewerb stattfindet, heißt Öffentlichkeit. Damit der Wettbewerb fair ist, müssen die Wettbewerbsbedingungen gleich und die Ressourcen fair verteilt sein. Deswegen gibt es Regeln über staatliche Parteienfinanzierung, Parteispendentransparenz und Wahlwerbesendezeiten, deswegen ist der Missbrauch von staatlichen Haushaltsmitteln zu Wahlkampfzwecken verboten.

Das Gericht geht aber weiter, beschränkt die Chancengleichheit im politischen Wettbewerb nicht mehr auf materielle Ressourcen und Wettbewerbsbedingungen, sondern erstreckt sie auf einen Grundsatz der Neutralität der politischen Rede im Amt. »Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb liegt vor, wenn Regierungsmitglieder sich am politischen Meinungskampf beteiligen und dabei auf durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten zurückgreifen.« Und: »Eine Partei ergreifende Äußerung eines Bundesministers im politischen Meinungskampf verstößt gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien und verletzt die Integrität des freien und offenen Prozesses der Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, wenn sie unter erkennbarer Bezugnahme auf das Regierungsamt erfolgt, um ihr damit eine aus der Autorität des Amtes fließende besondere Glaubwürdigkeit oder Gewichtung zu verleihen

Im Zentrum dieser Rechtsprechung steht ein Verbot der Vermischung von politischer Rede und öffentlichem Amt. Wettbewerbswidrig ist es, wenn demokratische Herrschaft als Herrschaft nicht neutral, sondern politisch spricht. Die freie politische Rede im Amt erscheint dieser Rechtsprechung als strukturell verdächtig und verfassungsrechtlich problematisch, sachliches Verwalten und regierendes Schweigen hingegen als strukturell unverdächtige und vorzugswürdige Kommunikationsform demokratischer Macht. Die Rechtsprechung steht also auf dem rätselhaften Standpunkt, dass »über Politik in amtlicher Eigenschaft nicht mehr politisch gesprochen werden darf«. So hat es Christian Neumeier in seiner im vergangenen Jahr erschienenen Rekonstruktion der Eigenarten des deutschen öffentlichen Rechts formuliert und die Neutralitätsrechtsprechung als letzte Wiederkehr seines politischen Grundproblems gelesen. [1. Christian Neumeier, Kompetenzen. Zur Entstehung des deutschen öffentlichen Rechts. Tübingen: Mohr Siebeck 2022.] Seine Deutung führt die Verwaltungshaftigkeit verfassungsrechtlicher Grundbegriffe der Bundesrepublik auf die verzweifelte Situation des deutschen Liberalismus seit 1848 zurück: Wie lassen sich rechtsstaatlich gebundene Institutionen ohne politische Freiheit denken? Und was heißt politische Freiheit heute?

Die Fälle, an denen sich jene Theorie des kommunikativen Regierungshandelns gebildet hat, sind ein eher jüngeres Phänomen, denn verfassungsgerichtliche Verfahren gegen Äußerungen gewählter Amtsträger häufen sich erst, seit sie eine Säule der Strategie rechtspopulistischer Parteien sind, nicht erst, aber vor allem seit der Gründung der AfD. Mit ihnen lässt sich die eigene Obsession – Ungleichheit und Diskriminierung – nämlich recht kostengünstig als Unrecht der anderen ausflaggen. Einige Beispiele: [1. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 16. Dezember 2014, 2 BvE 2/14 (Manuela Schwesig); Urteil vom 27. Februar 2018, 2 BvE 1/16 (Johanna Wanka); Urteil vom 9. Juni 2020, 2 BvE 1/19 (Horst Seehofer); Urteil vom 15. Juni 2022, 2 BvE 4/20 (Angela Merkel). Dort auch die Zitate oben im Text.] Die NPD klagte 2014 gegen die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, die es öffentlich als »Ziel Nummer 1« ausgegeben hatte, »dass die NPD nicht in den Landtag kommt«. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts beanstandete die Äußerung nur deswegen im Ergebnis nicht, weil sie zwar nicht neutral, aber hinreichend sachlich war.

Danach handhabte das Gericht das Neutralitätsprinzip immer restriktiver. Johanna Wanka, seinerzeit Wissenschaftsministerin, durfte Ende 2015 zu einem Demonstrationsaufruf der AfD (»Rote Karte für Merkel – Asyl braucht Grenzen«) nicht sagen: »Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden.« Horst Seehofer beging einen Verfassungsverstoß, als er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die parlamentarischen Provokationen der AfD als »staatszersetzend« bezeichnete.

Diese Rechtsprechung erreichte ihren Abschluss im Sommer 2022 im Fall Merkel: Verfassungswidrig war danach auch die scharfe Kritik der Bundeskanzlerin an der Wahl von Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten. Sie war auf Staatsbesuch in Südafrika gewesen und hatte bei einer Pressekonferenz in Pretoria die stille Koalition ihrer eigenen CDU mit FDP und AfD »unverzeihlich« genannt. Dieses Urteil ist von allen das fragwürdigste. Zu Gast in dem Land, das auf friedliche Weise die Apartheid überwunden hat, verurteilt die Bundeskanzlerin die Regierungsbildung mit einer rechtsextremen Partei in dem Land mit der seinerzeit ersten NSDAP-Regierungsbeteiligung. [1. Patrick Bahners, Testfall Thüringen. Mittagessen bei der Konkubine. In: Merkur, Nr. 884, Januar 2023.] Anders gesagt: Als verfassungswidrige Neutralitätsverletzung gilt nunmehr, was im Parteiensystem seit 1949 die Aufgabe der CDU war und was auch die von der CDU getragene Bundeskanzlerin auf jeder Pressekonferenz tat: die Abgrenzung nach rechts zu vollziehen.

Die Verwaltungsgerichte haben die Rechtsprechung vielfach aufgegriffen. Von der ersten Instanz bis zum Bundesverwaltungsgericht haben sie zum Beispiel in einem Fall vom Januar 2015 dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel untersagt, zum Protest gegen eine Pegida-Kundgebung aufzurufen. [1. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 9. Januar 2015, 1 L 54/15; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. September 2017, 10 C 6.16.] Er hatte angeordnet, zum Zeitpunkt der Demonstration am Rheinturm und anderen markanten Gebäuden die öffentliche Beleuchtung auszuschalten, und Unternehmen und Geschäftsleute dazu aufgerufen, dem Beispiel zu folgen: »Licht aus!« – sicherheitsrelevante Lichter ausgenommen, versteht sich. Das, so zuerst die 7. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, sei eine Verletzung des Neutralitätsgebots. Der Bürgermeister habe nämlich auf Mittel zurückgegriffen, »die ihm in seiner amtlichen Funktion zur Verfügung stehen«: die Internetseite der Stadt und die Amtsbezeichnung des Oberbürgermeisters. So habe er »in den öffentlichen Diskurs«, in dem sich Pegida und die örtliche Gegenbewegung »gegenüberstanden«, zulasten der einen Seite eingegriffen. Die Fälle ließen sich beliebig vermehren. Inzwischen gibt es sogar ein Handbuch für Anwälte und Verwaltungsjuristen zum Recht der »Äußerungen«, wie man die Rede im Jargon der Neutralität nennt. [1. Christian Conrad /Stefanie Grünewald /Fiete Kalscheuer /Jens Milker, Handbuch Öffentlich-rechtliches Äußerungsrecht. Grundprinzipien, Äußerungen von Hoheitsträgern, Rechtsschutz. München: Beck 2022.]

Der Unterschied zwischen Neutralität und Neutralisierung

Als Rechtsinstitut gibt es Neutralität nur im Völkerrecht. Neutral ist ein Staat, der sein Territorium keiner Partei eines Krieges zur Verfügung stellen oder ihr sonst Hilfe leisten darf, dessen Hoheitsgebiet dafür aber unverletzlich ist. Mit dem Gewaltverbot des modernen Völkerrechts ist die Neutralität aber im Grunde obsolet; auch die Schweiz musste ihr traditionelles Neutralitätsverständnis mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen aufgeben. Was aber ist neutrale Herrschaft? Ein König, der zwischen den politischen Kräften thront und ohne eigenes Interesse nur das Gleichgewicht der anderen Institutionen sichert? So beschrieb Benjamin Constant, der liberale Interpret der konstitutionellen Monarchie in Frankreich, Anfang des 19. Jahrhunderts den pouvoir neutre. [1. Benjamin Constant, Principes de politique. In: Œuvres complètes. Serie I, Bd. IX. Berlin: de Gruyter 2001.] Eine zweckrationale bürokratische und darum unparteiliche Verwaltung, die von jedem irrationalen politischen Willen als Maschine in Anspruch genommen werden kann? So definierte Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts das massendemokratische System aus leadership und Sachlichkeit. Politische Institutionen, die verhindern, dass eine Konfession die andere majorisiert? So verstand man lange die konfessionelle Neutralität des Staates. Der Reichspräsident als autoritärer Gegenspieler des Parteienwettbewerbs und der parlamentarischen Gesetzgebung? So aktualisierte Carl Schmitt am Ende der Weimarer Republik Benjamin Constants Theorie für Hindenburg und seine Präsidialkabinette. Oder eine wirtschaftspolitisch neutrale Geldpolitik? So begründete die neoklassische Theorie die Unabhängigkeit der Zentralbank. Die Wettbewerbsneutralität des Ordoliberalismus? Die Unparteilichkeit des Wissens der Sachverständigen, Experten und Berater?

Carl Schmitt selbst hat auf den dahinterliegenden Widerspruch hingewiesen: Neutralität ist nie schlechthin neutral, sondern immer konkret. Neutralität einer konkreten politischen Institution in einem bestimmten politischen Konflikt auf einem bestimmten politischen Feld. [1. Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen [1929]. In: Ders., Der Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot 1963; Das Problem der innenpolitischen Neutralität des Staates [1930]. In: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze. Berlin: Duncker & Humblot 1958.] Die konkrete Neutralität in der einen Hinsicht bedeutet oft umso schärfere Parteilichkeit in einer anderen. Wem gegenüber also ist die verfassungsrechtlich neutralisierte Regierung neutral? Kann es die Neutralität gegenüber dem Wettbewerb der Parteien und damit das Prinzip der parlamentarischen Demokratie sein, das das Bundesverfassungsgericht für seine Rechtsprechung in Anspruch nimmt? Für die Weimarer Verfassung, die Schmitt im Auge hatte, war das noch halbwegs plausibel, der Reichspräsident schließlich direkt gewählt und relativ parteiunabhängig. Für ein parlamentarisches System ist es dagegen keine naheliegende Vorstellung.

Das gilt schon für die verfassungsrechtliche Begründung: Während die Rechtsprechung sonst eine Vermutung zugunsten der freien Rede praktiziert, beruht die Neutralisierung der politischen Rede von Amtsträgern auf dem gegenteiligen Grundsatz: Im Zweifel ist sie unsachlich und unzulässig. Auch gibt die Ämterverfassung des Grundgesetzes kaum her, wofür das Gericht sie in Anspruch nimmt. Während Beamte bei der Ernennung auf die Unparteilichkeit vereidigt werden, gehören Neutralität und Unparteilichkeit aus guten Gründen nicht zum Eid der Regierungsmitglieder (Artikel 64 Abs. 2, Artikel 56). Gerade weil die Regierung aus einem in Wahlen errungenen parteipolitischen Mandat gebildet wird, überlagern sich Bundestagsmandat, Partei- und Regierungsamt in den parlamentarischen Institutionen von Regierungschef und Kabinett. Wer verstünde schließlich eine Partei, die, mit einem ambitionierten politischen Programm gewählt, die Regierung bildet, sich an der Verwirklichung aber durch ein Neutralitätsprinzip gehindert sähe?

Der kategorische Unterschied zwischen Regierung und Verwaltung ist deswegen auch politisch gut begründbar: Die Verwaltung ist neutral, also unparteilich gegenüber der Regierung, eben weil die Regierung Parteiregierung ist. Dieser Neutralität entspricht es, dass der Verwaltung die politische Rede im Grundsatz nicht zusteht. Die politische Rede der in einem Parteienwettbewerb gewählten Mehrheitsregierung dagegen ist von der Mehrheit autorisierte Rede. Dagegen sind Bürokratien, sofern sie neutral sind, nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie auch nicht politisch sprechende, sondern hörende und arbeitende Institutionen.

Die regierenden Parteien befinden sich deswegen nicht nur in einem offenen Wettbewerb, sondern eben zugleich an der Regierung. Diese Regierung beruht aber in einem zunehmend fragmentierten Parteiensystem auf immer schwierigeren Koalitionen zwischen drei und mehr verfassungstreuen Parteien, die um die »Mitte« werben. Die politische Neutralisierung der Regierung wäre dann die verfassungsrechtliche Überhöhung eines Politikmodus, der durch eine Vorfestlegung auf Sachlichkeit die Formulierung gemeinsamer politischer Ziele jener Parteien erleichtert. [1. Philip Manow, Der Extremismus der Mitte. In: Merkur, Nr. 863, Januar 2019.] Keine Neutralität der Regierung gegenüber dem Parteienwettbewerb also, sondern eine Neutralisierung des Parteienwettbewerbs – aus Sorge um die Regierbarkeit.

Die Frage stellt sich: Warum verpflichtet sich die Bundesrepublik ausgerechnet in dem Augenblick, in dem einerseits von ihren beiden großen Neutralitätsideen – der ordoliberalen Wettbewerbsneutralität und der außenpolitischen Neutralität des Wachstumsmodells – nicht mehr viel übrig und bevor andererseits die nationale CO2-Neutralität auch nur in Sichtweite ist, auf die konstitutionelle Neutralisierung der Regierung? Was wird hier wem gegenüber neutralisiert? Was aussieht wie eine demokratische Neutralisierung der Staatsämter gegenüber der elektoralen Konkurrenz, ist in Wirklichkeit eine Neutralisierung der Politik gegenüber der Öffentlichkeit.

Angstvolles Schweigen und betreutes Reden in den neuen Öffentlichkeiten

Während die Hysterie um cancel culture und die Debatten um Hassrede und Verrohung, Polarisierung und Echokammern sich oft im Kreis drehen, nimmt das Recht der neuen Öffentlichkeiten Form an, wie die folgenden Beispiele zeigen.

So das seit 2017 geltende Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das ein Minimum von presserechtlicher Verantwortlichkeit auch gegenüber Betreibern von Infrastrukturen öffentlicher Rede durchsetzen und sie für die Verhinderung von Hassrede in die Pflicht nehmen wollte. Das Gesetz wird Ende des Jahres obsolet, wenn der Digital Services Act verbindlich wird. Der DSA ist eines der ambitioniertesten Gesetzgebungsprojekte der Europäischen Union seit langem. Gegner halten es für das Ende der Meinungsfreiheit in Europa, Befürworter für den »constitutional path of the Union to address platform power«. [1. Giovanni De Gregorio /Oreste Pollicino, The European Constitutional Road to Address Platform Power. In: Verfassungsblog vom 31. August 2021 (verfassungsblog.de/power-dsa-dma-03/).] Die Bedeutung des DSA liegt darin, dass er verfassungsrechtliche Standards der freien Rede in privatrechtliche Beziehungen zwischen Nutzern und Betreibern übersetzt und deren Ermessen bei der Gestaltung ihrer Inhaltsfilter und Moderationsregeln deutlich einschränkt.

»Rechtswidrige Inhalte«, so die Sammelbezeichnung des DSA für verbotene Rede, sollen öfter und schneller als bisher aus dem Netz verschwinden. Hinter diesem Regelungskonzept steht nicht weniger als ein anderer Begriff von Meinungsfreiheit: Der offene »Markt der Meinungen« soll eingehegt werden durch einen kommunikativen Liberalismus der Furcht: Online-Kommunikation soll in erster Linie als nicht einschüchternd, als angstfrei erlebt werden, als »sicher, berechenbar und vertrauenswürdig«, und den »gesellschaftlichen Risiken, die die Verbreitung von Desinformation mit sich bringen kann, entgegenwirken«. [1. VO (EU) 2022/2065 vom 19. Oktober 2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste, ABL. EU, L 277, S. 1 (insbesondere die Erwägungsgründe Nr. 3, 9 und 79).] Wenn die Reform außerhalb von Fachkreisen trotz ihrer überragenden Bedeutung kaum diskutiert wird, so vermutlich, weil das Recht der Meinungsfreiheit nach wie vor in Begriffen operiert, die in einer Öffentlichkeit mit zwei Volksparteien und drei Fernsehsendern entstanden sind.

Eine vergleichsweise unscheinbare Regelung ist dagegen das Ende 2022 vom Bundeskabinett beschlossene Demokratiefördergesetz. Es wird zur Zeit im Bundestag beraten. Das Gesetz erlaubt dem Bund, Förderprogramme und eigene Initiativen für »Demokratie« und »politische Bildung« und zur Prävention jeglicher Form von Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu betreiben, und soll auf diese Weise eine Kooperations- und Förderinfrastruktur für eine demokratische Zivilgesellschaft schaffen. [1. Ulrich Hufeld, Individuen und Intermediäre: Zivilgesellschaft. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 82, 2023.] »Gegenstand der Maßnahmen«, so formuliert § 2 des Gesetzentwurfs das auszugsweise, »sind insbesondere 1. Die Stärkung und Förderung demokratischer Werte, […] 3. Die Förderung des Verständnisses für politische Sachverhalte und die Stärkung der Bereitschaft zum demokratischen Engagement, […] 5. die Gestaltung von gesellschaftlicher Vielfalt, die Anerkennung von Diversität sowie die Förderung eines respektvollen, die Gleichwertigkeit aller Menschen anerkennenden Umgangs«.

Geförderte Organisationen der Zivilgesellschaft müssen nach § 5 Absatz 2 des Entwurfs »1. die Ziele des Grundgesetzes achten; […] 2. von der deutschen Finanzverwaltung als steuerbegünstigt im Sinne der §§ 51 bis 68 der Abgabenordnung anerkannt sein«. Letzteres ist insofern von Bedeutung, als das bisher geltende Haushaltsrecht die Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Gruppen nur ausnahmsweise und nur dann erlaubt, wenn der Bund daran ein »erhebliches Interesse« hat (§ 23 Bundeshaushaltsordnung). Diese vom Bund getragene Finanzierung einer Antipolarisierungsinfrastruktur beruht offenbar auf der Annahme, dass von einer Gesellschaft, deren Assoziationsform Vereine, Verbände, Parteien sind und deren Medium deswegen, wie Koselleck es beschrieben hat, die politische Meinung ist, in bestimmten Gegenden keine Rede mehr sein kann.

Der Gesetzentwurf erklärt die Herstellung und Förderung einer Gesellschaft, die spricht und nicht schreit und verunglimpft, zu einer staatlichen Funktion. Unterdessen hat der Verfassungsschutz sein Aufgabenprofil verändert und, wie in den Jahresberichten nachzulesen, einen neuen Arbeitsbereich »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« eingerichtet. Schon im Vorfeld des Reichsbürgermilieus, diesseits von Prinz-Heinrich-Putschisten und unabhängig von Gewalttaten, soll die systematische Überwachung von diskursiver Radikalisierung gefährliche Formen der delegitimierenden Rede selbst aufspüren.

Wiederum auf einer anderen Ebene setzen die Bürgerräte an. In diesem Format tauschen sich zufällig ausgewählte und nach Kriterien der Repräsentativität zusammengestellte Bürgerinnen und Bürger mit Fachleuten zu allgemeinen Fragen aus (»Deutschlands Rolle in der Welt«, »Klimapolitik«, »Künstliche Intelligenz«), bilden sich eine Meinung und erarbeiten Beschlussempfehlungen. Repräsentation beruht hier nicht auf Wahl, sondern, wie bei einer repräsentativen Statistik, auf Zufall und experimentellem Design.

Dass es gerade die gewählten Parlamente sind, die an Bürgerräten ein Interesse haben – der Bundestag ist nach einigen lokalen Experimenten inzwischen die treibende Kraft dahinter (www.buergerrat.de) –, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Gerade sie erleben offenbar die bisherige Wechselwirkung zwischen parlamentarischer Repräsentation und politischer Öffentlichkeit als gestört. Die lokalen Resonanzräume der parlamentarischen Form lösen sich auf oder verändern sich grundlegend: die niedrigschwelligen Formen relativ sach- und lebensnaher Beteiligung an Entscheidungsprozessen in Betriebs- oder Kirchengemeinderäten, Ortsvereinen und kommunaler Selbstverwaltung.

Zugleich werden Öffentlichkeiten nicht nur von marginalisierten Gruppen als feindlich, aggressiv, herabsetzend erlebt. Als Ausweg bietet sich dann wiederum die kontrollierte Verstaatlichung der politischen Deliberation der Bürgergesellschaft an. Bürgerräte sind insofern die institutionelle Kehrseite des Demokratiefördergesetzes: In ihnen wird – in einer Art Nationalpark der regelbasierten öffentlichen Deliberation – ein Stück funktionierender Öffentlichkeit im Kleinen, im Schutzraum einer staatlich veranstalteten und finanzierten Institution nachgebaut.

Nach dem Strukturwandel: Entmächtigung und Ermächtigung

Ob ein neues verfassungsrechtliches und politisches Deutungsschema sich durchsetzt, hängt nicht nur von einer plausiblen Begründung ab, sondern davon, ob es eine neue Lage auf den Begriff bringt. Für das Neutralitätsprinzip wäre das eine Politik, die einerseits staatliche Schutzzonen für alte Formen der Verständigung einrichtet und andererseits die kommende Plattformmacht zu zivilisieren versucht; zwischen diesen beiden Mitteln gegen das toxische Gemisch aus Angst und Radikalisierung eine rein sachliche Form von Politik, die Parteinahme vermeiden soll. Auf den Begriff gebracht wäre die Lage dadurch aber nur, wenn zwischen der polarisierten Gesellschaft auf der einen und der sachlich-neutralen Verwaltung und Rechtsprechung auf der anderen Seite zu unterscheiden wäre. Gerade so ist es aber nicht. Die Konfliktlinien ziehen sich mitten durch sie hindurch.

Von Repräsentationskrisen und Repräsentationsverboten profitieren diejenigen, die nicht repräsentieren, deren Reden und Handeln nicht von Wahlen abhängig ist. Die Kehrseite der Entmächtigung der politischen Rede ist nämlich eine Ermächtigung der politischen Rede von Beamten und Richtern. Je neutraler politische Amtsträger sein müssen, desto politischer kann die Unparteilichkeit und Neutralität von Verwaltungen und Justiz werden. Hier, in der Rolle der nichtgewählten Macht im Prozess von Polarisierung, Zerfall und Rekonstruktion der Öffentlichkeit, liegt die Verfassungsfrage der Neutralität, nicht in der Wettbewerbsgleichheit der Parteien. Wo steht die Verwaltung? Wohin steuert die Rechtsprechung? Das verfassungsrechtliche Programm der Neutralisierung der Regierung ist das politische Repräsentationsproblem der Gegenwart – formuliert als Sprachregelung. Wie soll demokratische Herrschaft in der Öffentlichkeit klingen, sich artikulieren?

Während die Vereinigten Staaten die Frage längst im Sinne der ungehemmten politischen Re-Präsentation der Polarisierung beantwortet haben, scheint die Bundesrepublik vorläufig die gegenteilige Antwort zu versuchen. Wenn schon die Grenzen des Sagbaren in einer entgrenzten Öffentlichkeit, die Menschenhass wie ein Konsumgut bewirtschaftet, permanent verschoben werden, dann möge die Regierung zum Ausgleich reden wie die Börsenaufsicht: durch neutrale Marktinformationen. Das Programm der Neutralität hieße aber zugleich: Abkoppelung der Begründung staatlicher Machtausübung von der politischen Sprache der Öffentlichkeit. Ihre politische Rede, die politische Sprache der Bürger soll nicht mehr re-präsentiert oder die Repräsentation doch spätestens am Übergang zwischen Parlament und Regierung unterbunden werden. Die Legitimität demokratischer Herrschaft läge dann darin, dass sie Konflikte entschärft, Regeln setzt und Daseinsvorsorge betreibt, aber Mehrheiten und Minderheiten nicht gegeneinander aufhetzt. Silete cives in munere alieno!

Die Konfliktlinie, die auf diese Weise entschärft werden soll, zieht sich aber mitten durch die scheinbar neutralen Gewalten der Verwaltung und Rechtsprechung hindurch. Auf der einen Seite ist die politisierte Rede der Bürokratie die unausweichliche Folge der Politisierung von Expertise: Die Leitung des Robert-Koch-Instituts ist ein politisches Amt, seit die Epidemiologie eine politische Wissenschaft ist. Für administrative Expertise in der Klimaforschung und Geschlechtersoziologie gilt dasselbe. Politische Angriffe auf die Kultur der Sachlichkeit erzwingen politische Reaktionen. Ähnliches gilt für die Rechtsprechung der Verwaltungs- und vor allem Verfassungsgerichte selbst. Die Verschärfung der Neutralitätspflichten demokratischer Herrschaft ist auch die Kehrseite ihrer Suche nach einer neuen Rolle in jenen Öffentlichkeiten.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Bundesverfassungsgericht in jenen Jahren, in denen es sein verfassungsrechtliches Neutralitätsdogma entwickelt hat, seine eigene Medien- und Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich verändert hat. Öffentliche Interventionen der tonangebenden Richter wurden häufiger, von Interviews bis zu abendfüllenden Fernsehauftritten. Neuerdings gibt es Jahresberichte, aufgemacht wie die Imagebroschüre eines Ministeriums. Es ist insofern voller Ironie, dass ausgerechnet dieses Programm der Neutralisierung und Versachlichung innerhalb des Bundesverfassungsgerichts inzwischen stark umstritten ist. Die Merkel-Entscheidung ist mit der denkbar knappsten möglichen Mehrheit von fünf zu drei Stimmen innerhalb des Zweiten Senats ergangen. In einer abweichenden Meinung hat die erst 2020 als Nachfolgerin des früheren Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle ins Amt gekommene Richterin Astrid Wallrabenstein kein gutes Haar am Neutralitätsgrundsatz gelassen.

Auf der anderen Seite wird das Ethos unpolitischer Sachlichkeit und parteipolitischer Neutralität strategisch mehr oder weniger offen infrage gestellt. Das belegen nicht nur der ehemalige leitende Beamte im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums Hans-Georg Maaßen, dessen rhetorische Radikalisierung kontrapunktisch mit der Objektivität des angeblichen Topjuristen und der Sachlichkeit seiner Grundgesetzkommentierungen unterlegt ist; der ebenfalls im Vorstand der Werteunion engagierte Berliner Richter Klaus-Peter Jürcke oder gar bestimmte Richter und Polizisten mit Nähebeziehungen zum verfassungsfeindlichen Milieu.

Nur Extremfälle? Den inneren Zusammenhang zwischen der Entmächtigung der Politik und der Ermächtigung der unabhängigen Rede dokumentiert auch der Präsident des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts, der einer der entschiedensten Verfechter und Protagonisten der Neutralitätsrechtsprechung ist. Es war seine Kammer, die Anfang 2015 mit dem Fall der »Licht aus!«-Aktion einen der ersten und prominentesten Fälle in diesem Sinne entschied. Gerichtspräsident Andreas Heusch zeigt sich inzwischen regelmäßig in öffentlichen Auftritten als politischer Asylrechts-, Merkel- und Corona-Kritiker und nimmt dabei gerne eben jene »Amtsautorität« in Anspruch, die gewählte Amtsträger – nach seiner eigenen Rechtsprechung – nicht kommunikativ nutzen dürfen.

Zuletzt hat Heusch sich in der führenden Fachzeitschrift der deutschen Verwaltungsrechtspflege, dem Deutschen Verwaltungsblatt, gemeinsam mit einem leitenden Beamten der nordrhein-westfälischen Landesregierung Gedanken gemacht über die Aufgaben des Verfassungsschutzes. Die rhetorische Enthemmung dieses Textes dokumentiert den Geist der Neutralisierung der Politik: So räsonieren die Autoren dort über »die heutigen Politiker«, die um »die Brüchigkeit ihrer eigenen politischen Agenda wissen« und deswegen »so dünnhäutig geworden sind«, dass sie »nach Regularien lechzen, Kritik mit den Instrumenten der Eingriffsverwaltung unterbinden zu können, und sei es durch […] ›Beobachtung‹ und letztlich Stigmatisierung Betroffener«. [1. Andreas Heusch /Klaus Schönenbroicher, Verfassungsrechtliche Überlegungen zu dem neuen Themenfeld des Verfassungsschutzes »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. In: Deutsches Verwaltungsblatt, Nr. 19, 2022.] Man werde schließlich, so die beiden hochrangigen Verwaltungsjuristen weiter, noch sagen dürfen, dass die Russlandsanktionen die Energiepreise hochtreiben, oder die »regellose Migration aus fernen Ländern« ablehnen.

Es gibt mithin Anzeichen, dass der Anspruch, durch die Neutralisierung der politischen Sprache, also durch die Aufspaltung von Amt und Leidenschaft, die Neutralität des politischen Wettbewerbs zu sichern, und die Überzeugung, jener Wettbewerb finde in Wahrheit überhaupt nicht statt, nahe beieinander liegen.

»Die wahlperiodische Neuinszenierung einer politischen Öffentlichkeit fügt sich der Gestalt ein, die sich als Zerfallsform bürgerlicher Öffentlichkeit vorfindet.« [1. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit [1962]. Frankfurt: Suhrkamp 1990.] Habermas’ alter Verdacht gegen elektorale Konkurrenz als öffentliche Form der politischen Demokratie wirft einen langen Schatten auf jeden neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Neutralisierung der Politik ist nur dann ein attraktives Deutungsschema, wenn man die Hoffnung auf elektorale Kontrollen aufgegeben hat. Die Neutralisierung fügt sich, so könnte man sagen, der Gestalt ein, die sich als Zerfallsform wahlperiodischer Neuinszenierung der Politik vorfindet.