Silos systematisch aufbrechen. Gespräch über Friedrich Kittler

Hinweis der Redaktion: Dies ist die Langfassung des im April 2023 in der Printausgabe erschienenen Texts

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“Unter technologischen Bedingungen verschwindet die Literatur … im Untod ihres endlosen Verendens.” So steht es, fast am Ende, geschrieben in Friedrich Kittlers Aufsatz Draculas Vermächtnis von 1982. Zusammen mit anderen Texten aus dieser Zeit ist er im ersten erschienenen Band der Werkausgabe Kittlers. [1. Herausgegeben von Moritz Hiller und Martin Stingelin, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Der erste Band I.B.4 enthält in der Abteilung „Zu Lebzeiten Veröffentlichtes“ Aufsätze, Artikel, Rezensionen und Miszellen aus den Jahren 1981-1983. Diesen Band verantworten Luisa Drews und Eva Horn als Herausgeberinnen.] Mit den technologischen Bedingungen der Digitalität setzt sich die Ausgabe auseinander und modelliert neue Standards, wie mit Archiv und Gedächtnis umgegangen werden kann. Daher lohnt es sich, gemeinsam darüber nachzudenken, wie das endlose Verenden der Literatur und des Schreibens über Literatur und andere Medien gestaltet werden können. Am 26. September 2022 habe ich das in einem Gespräch versucht. Teilgenommen an dem Gespräch haben Moritz Hiller, Medienwissenschaftler an der Bauhaus-Universität Weimar und Mitherausgeber der Werke Kittlers; Susanne Holl, die den 2011 verstorbenen Kittler noch während seiner Lehrtätigkeit in Bochum kennenlernte und 1995 heiratete; Kathrin Kur von der Data Futures GmbH, einem Nonprofit-Unternehmen aus Leipzig, das die technische Infrastruktur für die Edition  entwickelt; Tom Lamberty, dem Verleger von Merve, wo die Kittler-Ausgabe erscheint; Martin Stingelin, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Dortmund und ebenfalls Mitherausgeber der Werkausgabe.

Guido Graf Ich habe davon gehört, dass eine Werkausgabe von Friedrich Kittler in Arbeit ist. Als ich die Ankündigung von Merve gesehen habe, dass der erste Band erscheint, war ich erst mal verwirrt über den Titel I.B.4 und habe dann, als ich das Buch in den Händen hielt, bei einem Text gedacht, in dem es um das Schreien auf Bühnen, Platten und Papieren geht: Den hätte ich damals kennen müssen, als ich mit Friedrich Kittler in einem Café in Berlin Tempelhof gesprochen habe. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem er damals wohnte, haben wir in einem Lokal zusammengesessen, im Hintergrund lief Karnevalsmusik, und wir sprachen für ein Hörstück, an dem ich gearbeitet habe, über das Schreien.

Susanne Holl War das 1998?

Guido Graf Ja, genau.

Susanne Holl  Es ging um Literaturgeräusche, nicht wahr? Ich wollte ohnehin fragen, ob dieses Interview tatsächlich zustande kam und ob es gesendet wurde. Damit hängt nämlich auch eine erste Antwort auf  noch nicht einmal gestellte Frage zusammen, warum das eigentlich so lange dauert. Wir müssen sehr, sehr viel aus dem Nachlass aufarbeiten. Dazu gehören viele Korrespondenzen, aus denen wir dann erst erfahren, dass es so ein Interview von Guido Graf mit Friedrich Kittler gegeben hat.

Guido Graf Das ist tatsächlich gesendet worden. Allerdings nur Teile daraus, in einem Feature. Wir konnten damals nicht in der Wohnung sprechen, weil die Handwerker im Haus waren. Aber die Radiobedingungen waren durch die Hintergrundmusik auch in der Gaststätte nicht gerade ideal. In Bezug auf den Gegenstand unseres Gesprächs war es auch interessant war. Das war meine erste Begegnung mit Kittler. Ich habe ihn dann später noch mal in Hamburg im Literaturhaus gesehen, wo er mit Durs Grünbein ein Gespräch über dessen Descartes-Buch geführt hat. Nach seinem Tod habe ich bis 2022 kaum noch etwas von Kittler gelesen. Aber als ich jetzt, im Jahr 2022, den ersten Band der Werkausgabe in den Händen hielt, habe ich mich gefragt, will ich noch mal Kittler lesen? Diese Frage würde ich aber gerne an Sie alle zurückgeben. Warum jetzt Kittler lesen? Warum sollte jemand heute etwas, ob das ein früher Text ist wie die, die jetzt in dem Band sind, oder auch etwas, was sehr viel später entstanden ist, von Friedrich Kittler lesen?

Kathrin Kur Die Idee des Verschwindens des Materiellen, Kittlers Hinterfragen von Materialität und Technologie ist für mich sehr relevant.

Martin Stingelin Guido hat eine doppelte Frage gestellt und ich versuche, dreifach zu antworten. Seit Ende der 1970er Jahre, als er zum ersten Mal publizistisch in Erscheinung getreten ist, hat Friedrich Kittler eine bis heute anhaltende Aktualität in mehrfacher Hinsicht bestritten, behauptet, verkörpert. Er hat die Germanistik in die Medienwissenschaft überführt. Er hat die Germanistik überrascht durch den Umstand, dass die von ihr behandelten Texte geschrieben worden sind, indem er nachfragt, was es heißt, dass Texte geschrieben worden sind. Nicht immer mit Feder und Tinte, früher mal auch in Stein gemeißelt. Irgendwann gab es eine Mechanisierung des Schreibens durch die Erfindung der Schreibmaschine, dann eine Digitalisierung des Schreibens. Kittler war der erste, der, indem er dies reflektiert hat, die Germanistik in die Medienwissenschaft überführt. Die Welt ist bis heute darüber überrascht, und zwar vollkommen zu Recht. Wie konnte er dies tun? Und das ist der zweite Schritt, den ich hier hervorheben möchte, auf dem Mond, auf diesem unentdeckten Mond, den Friedrich Kittler gegangen ist. Er war einer der allerersten, der die french theory Deutschland vermittelt hat durch seine auch übrigens im wörtlichen Sinne Übersetzungstätigkeit. Allen voran Jacques Lacan, dann aber auch Michel Foucault. Diese Denker wären bei uns entschieden verspätet angekommen, wenn Friedrich Kittler sie nicht Ende der 1970er Jahre schon begonnen hätte, nach Deutschland zu vermitteln. Und dann aber: Warum lese ich ihn überhaupt? Ich weiß nicht, ob, was ich gerade gesagt habe, reicht, um wie Foucault über Karl Marx oder Sigmund Freud gesagt hat, es sich bei Kittler um einen Diskursivitätsbegründer handelt. Das mag etwas hochgegriffen sein, aber irgendwann, wenn die Psychoanalyse vergessen ist und der Marxismus vergessen ist, wird von Freud und Marx der Stil bleiben. Und Kittler war ein Stilist von Gnaden. Ich glaube, es gibt keinen Satz, den dieser Mann nicht ohne Stilbewusstsein geschrieben hat.

Guido Graf Gibt es für dich einen Zusammenhang zwischen dem Stil und der Entdeckung Kittlers?

Martin Stingelin Das ist mir ein Rätsel. Es ist mir schlicht ein Rätsel. Aber vielleicht hast Du eine Antwort auf diese Frage? Es ging ihm immer um die Sache. La chose, wie er es mit Lacan genannt hätte. Darum, dass das, worum man sich bemüht, es zu erkennen, Widerständigkeit erzeugt, und dass man diesen Widerstand mitberücksichtigt in der Art und Weise, wie man über ihn reflektiert. Es gibt im Nachlass auch fiktionale Texte. Aber er war als Stilist nicht zur Fiktion geboren. Ich weiß nicht, wie das zusammenhängt. Er kann einfach unglaublich gut schreiben. Punkt.

Moritz Hiller Weil jetzt schon die anhaltende Relevanz von Kittlers Denken und Schreiben im Raum steht und man, glaube ich, festhalten kann, dass die methodischen Ansätze, die Themen und überhaupt die Art und Weise, Wissenschaft zu betreiben, die mit dem Namen Friedrich Kittler verbunden sind, heute als eine Selbstverständlichkeit in den deutschsprachigen Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften gelten können, würde ich sagen, dass es umso wichtiger ist, dieses Denken und Schreiben zu historisieren. Nicht in dem Sinn, sie ad acta zu legen, sondern sie in dem Umfeld zu betrachten, in dem sie möglich wurden, die Umstände zu dokumentieren, unter denen sie sich entfalten konnten und entfaltet haben. Das ist ein weiterer Grund, Kittler heute und in Zukunft noch zu lesen, auf eine auch historisierende Art und Weise, wie ich es mir erhoffen würde. Und die zweite Hoffnung ist, dass die Werkausgabe ein Instrument für diese Historisierung sein kann.

Martin Stingelin Um die Frage von Guido wieder aufzugreifen, wie es zu dieser Ausgabe überhaupt kam: Friedrich Kittler stirbt am 18. Oktober 2011. Alleine schon durch den Umstand bezeugt, dass er mit Unterstützung der Burda-Stiftung seinen Vorlass nach Marbach ans Deutsche Literaturarchiv gegeben hat, zeigt sich, dass er ein Nachlassbewusstsein hat. Das dokumentiert sich mehrfach. Er hat zu Lebzeiten einen Editionsplan für eine Ausgabe seiner Gesammelten Werke hinterlassen. Er hat Handexemplare so um 2000 herum nachgeführt. Im Grunde genommen spukt sein Geist seit Lebzeiten schon in dieser Ausgabe herum. Kittler selbst hat sich schon initiiert. Was uns, Moritz Hiller und mich als Herausgeber vor nicht geringe Herausforderungen stellt, wie man damit umgeht.

Susanne Holl Ich dachte ja, ich kann ganz überraschend auf die Frage, weshalb heute noch Kittler lesen, antworten: weil es Spaß macht. Gerade wenn ich jetzt im ersten Band der Werkausgabe I.B.4 Draculas Vermächtnis wiederlese, muss ich heute immer noch lachen. Das hat mich von Anfang an Friedrich Kittler fasziniert. Ich saß 1989 im Café und hatte die Aufschreibesysteme bei mir. Ich konnte nicht aufhören, das Buch zu lesen, weil ich das so unglaublich gut fand und eben auch ständig lachen musste. Ich kann nicht sagen, wie dieses Stilbewusstsein mit seinen Theorien und seiner Wissenschaft zusammenhängt. Aus der Nachlassperspektive heraus kann man aber sagen, er hat einfach schreiben gelernt. Und das dokumentiert der Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach auf eine wirklich faszinierend und fast erschlagende Weise, wie dieser Mann sich das Schreiben beigebracht hat. Wie er die Typoskripte ausgearbeitet hat. Wie er sowohl im Stilistischen als auch im Tippen, ja die ganze Organisationsformen von Wissen sich über Jahrzehnte erarbeitet hat.

Guido Graf Ich finde es gut, dass Sie Spaß sagen. Für mich war das genau der Punkt, warum ich angefangen habe, Kittler zu lesen und gleichzeitig auch Verhängnis. Ich habe meine Dissertation über Briefkommunikation am Beispiel eines Briefwechsels geschrieben. Gerade hatte ich die Aufschreibesysteme gelesen und habe dann Kittler angeschrieben. Ich weiß gar nicht mehr, was mich dazu geritten hat. Er hat mir prompt geantwortet und mich an seinen damaligen Doktoranden Bernhard Siegert verwiesen, der gerade für seine Dissertation, das Relais-Buch eingereicht hatte. Das habe ich gelesen und es hat mir viele Türen und Fenster geöffnet. Der ganze Staub wurde von Kittler und Siegert durchgelüftet. Diese Lektüren haben mit aus der ewigen Friedensfeier-Lektüre in den Oberseminaren bei Jost Schillemeit katapultiert. Zum Verhängnis wurde es, weil mein damaliger Doktorvater dann, als ich die Arbeit fertig hatte, mir sagte, so ginge das nicht. Ich habe dann erstmal abgebrochen und erst ein paar Jahre später bei Jürgen Manthey die Promotion abschließen können. Jetzt ist für mich interessant, was eigentlich noch taugt von der damaligen Begeisterung? Wie sieht es mit der heutigen Relevanz Kittlers aus? Auch etwa für meinen Kontext am Literaturinstitut Hildesheim, an der sogenannten Schreibschule. Wie integriert sich eigentlich das Schreiben von Friedrich Kittler in das, was seitdem auch in der Medienwissenschaft, in der Literaturtheorie etcetera passiert ist.

Martin Stingelin Wenn die Studierenden nach dem Abitur an die Universität kommen, lassen sie sich in den ersten Veranstaltungen gerne durch Texte überraschen. Und jetzt gibst du ihnen Draculas Vermächtnis zu lesen. Dracula, von Bram Stoker, ist vielleicht das einzige Buch, das sie sowieso außerhalb der Schullektüre schon gelesen haben, und jetzt lesen Sie den Text von Friedrich Kittler. Danach sind sie einfach restlos begeistert. Jeder einzelne seiner Texte ist immer noch aufs Neue überraschend. Dass die Geisteswissenschaften insgesamt etwas gealtert sind und daher kaum mehr zu überraschen, ist eine ganz andere Frage. Hätten wir Ihnen den Geist vielleicht rechtzeitig ausgetrieben, wären sie überraschungsfreudiger. Gib den Leserinnen und Lesern Kittlers Texte an die Hand und sie können sich von jedem Einzelnen überraschen lassen.

Tom Lamberty Für mich ist das noch keineswegs durch. Auch wenn ich jetzt alle so tun, als hätten sie das alles verstanden, wovon Kittler spricht: aber sie handeln ja nicht danach. Kittler stellt fest, dass alle jetzt mit der Turing-Maschine arbeiten, also mit dem Computer, und endlich werden diese Gräben zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gebridget, weil man sozusagen mit dem gleichen Instrument arbeitet. Und dann gehört im Nachsatz natürlich immer die Feststellung dazu: Geisteswissenschaftler denken immer noch, sie hätten eine Schreibmaschine vor sich. Und dieser Gedanke ist vielleicht hier und da intellektuell begriffen, aber in der Arbeitsweise sehe ich das nicht. Ich war am letzten Wochenende in Basel auf einem Historikerkongress und deren Unbewusstheit, was die eigene Materialität des Arbeitens angeht, ist nach wie vor gigantisch. Da geht es, Guido, für mich noch ein bisschen weiter. Das ist ein sehr grundsätzliches Problem: Wie überbrückt man die Sprachschwierigkeiten, wie übersetzt man zwischen nach wie vor einer Ingenieurwissenschaft, die dabei ist, eine völlig vollkommen neue Infrastruktur für die gesamte Wissensverarbeitung zu bauen, und einer Geisteswissenschaft, die sich doch immer noch recht stieselig anstellt, das auch nur wahrzunehmen und auch systematisch daran zu arbeiten, was das für das eigene Arbeiten eigentlich bedeutet. Ich sehe da nicht, und das nicht aus einer akademischen Binnenperspektive, aber aus einer Außenperspektive, den Fortschritt. Der ist noch nicht so dicke, salopp gesprochen.

Guido Graf Absolut. Das können alle nachvollziehen, die in irgendeiner geisteswissenschaftlichen Disziplin unterwegs sind.

Tom Lamberty Du kannst das genauso in die Frage mappen: was heißt Verlegen heute? Für mich ist Kittler extrem fruchtbar und er ist einer der wenigen, der in der Breite darüber nachgedacht hat. Immer noch. Meine theoretische Inspiration für das, was ich versuche, mit Merve zu entwickeln, kommt nach wie vor aus seinen Texten und nicht aus irgendwelchen anderen. Ich wurde initiiert mit Grammophon Film Typewriter und habe damals gesagt: Wie geil ist das? Da ist jemand, der kommt aus der Akademie und schreibt ein Buch, das jemand aus der Kunst oder Kultur schreiben könnte. Für mich war das eine perfekte Mischung aus Theorie und stilistischer Schönheit und dann auch noch mit Bildern angereichert, bis hin zum Layout von Brinkmann & Bose. Das letzte Mal davor hatte ich eine ähnliche Epiphanie mit Theweleits Männerphantasien. Es ist ja auch kein Zufall, dass die beiden so eng zusammengehören.

Martin Stingelin Noch mal zur  Aktualität von Friedrich Kittler. Er war ein Grenzgänger. Er hat die Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland überschritten und hat die Grenze zwischen grundständiger Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft verschoben. [Technische Unterbrechung der Aufnahme] .

Martin Stingelin Wie immer du dieses Gespräch transkribiert in den Druck umsetzt: Diese Störungen, die gerade aufgetreten sind, müssen in irgendeiner Form dokumentiert werden. Es ist genau das, worum es Kittler ging: Diese Störungen waren genau das, woran sich Kittlers Reflexionen entzündet haben. Zum anderen möchte ich vorschlagen, nicht von Spaß zu sprechen. Kittler ist kein Spaß-Autor. Spätestens in der Redaktion des Gesprächs könnte jeder von uns das mit Freude ersetzen..

Susanne Holl Das habe ich mir überlegt, Martin. Aber es ist tatsächlich ein Spaß im Ernst. Auch dort, wo es wirklich sehr zur Sache geht.

Moritz Hiller Ich möchte unbedingt noch Lust als Alternative zu Spaß und Freude anbieten. Wir haben alle die Aufschreibesysteme gelesen und mit der Lust, die lacht, hört es da auf. Dann ist nichts mehr aufzuschreiben.

Susanne Holl Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach sind mir immer wieder junge Leute über den Weg gelaufen, die an Kittler arbeiten in dem Sinn einer, was Moritz gefordert hat, Historisierung. Das tun sie auch mit einer gewissen Freude, was einen auf den Stil zurückbringt, weil er sehr viel plastisch macht. Als eine Figur in der Konstellation, wie sich die Medienwissenschaft konstituiert, gibt sie dank des sehr reichhaltigen Nachlasses zu forschen auf. Und ganz kittleresk oder foucaultsch gedacht sind die Analysen der Gegenwart im strengen Sinn eigentlich nicht machbar, aber die Archive der Vorgegenwart erlauben uns, Sachen durchzudenken. Wenn man eine Antwort darauf sucht, was unsere gegenwärtige Lage ist, was auch wieder so in Kittler’scher Manier formuliert ist, haben wir an Kittler selbst die Möglichkeit, die Sache historisch zu befragen und von da aus denken zu können.

Guido Graf Mit einem Nachlassbewusstsein ist Kittler ja nicht allein. Bei Autor:innen, die viel mit Archiven arbeiten, findet man diese Signale oft schon sehr früh in Werk und Korrespondenzen, wie etwas für die Nachwelt aufbereitet werden kann. Seit wann wird überhaupt an der Ausgabe gearbeitet? Wieviele Leute arbeiten daran und wie lange wird es bei dem riesigen Umfang des Nachlasses dauern?

Martin Stingelin Susanne, korrigiere mich: Moritz ist etwas später hinzugetreten, ich glaube, seit 2012. Ursprünglich geplant für den Fink Verlag, dem es zu langsam ging und der sich durch eine Abmahnung aus der Ausgabe verabschiedet hat. Im Merve Verlag konnte dann ein mehr als nur glücklicher Nachfolger gefunden werden. Dann musste aber erst einmal überhaupt, um diese Ausgabe auf eine philologisch gesicherte Grundlage zu stellen, der Nachlass erschlossen werden. Das war bis Februar/März 1989 vergleichsweise einfach, weil Friedrich Kittler in seinem Vor- und Nachlassbewusstsein eine chronologische Liste über Entstehungszeiten und Publikationszeiten seiner Publikationen unter den Voraussetzungen der noch nicht vorgenommenen Digitalisierung geführt hat. Digitalisiert überliefert sind dann Festplatten, die nach Marbach gegangen sind, wo man sich dort aber erst neu zu orientieren lernen musste. Man hat externe Experten hinzugezogen und herauskam dabei eine ganz neue Software für die Erschließung digitaler Bestände, der Indexer. Das war 2012 und wir dachten, in drei, vier Jahren spätestens sollte der erste Band erscheinen. Aber es hat halt gedauert und jetzt liegt der erste Band vor. Aber Tom, was rechnest du, wie lange es mit der Ausgabe dauern wird?

Tom Lamberty Ich hoffe sehr, dass ich die noch zu Lebzeiten komplett sehen werde. Da gibt es, Guido, letzten Endes viele Faktoren. Martin hat einige schon erwähnt. Das Ganze ist sehr komplex, aber auch, weil es jeweils Band-Editor:innen gibt. Das heißt, wir haben auch von dem ganzen Personal der Edition, wie du dir denken kannst, eine bunt gemischte Truppe am Start. Dann gibt es editorische Fragen wie: Wie erschließe ich bestimmte Sachen? Wir haben bei Kittler ein tolles und insofern auch exemplarisches Modell für jemanden, der analog anfängt und digital aufhört. Wie gehe ich also mit so einem Nachlass insgesamt um? Da gibt es Fragestellungen, die man so noch nie behandelt hat. Und das kostet alles Zeit, wenn man das alles durchdenken will, bis hin zu der Frage natürlich auch, wie editiert man eigentlich jemanden wie Kittler? Man kann eben nicht gut guten Gewissens nur eine Printausgabe machen und so tun, als wäre man damit noch im 19. Jahrhundert. Sondern bei uns läuft die ganze Zeit die Frage mit, wie wir Teile des Werkes auch digital so edieren, dass die aber in einem sinnvollen Zusammenhang mit der Print-Edition stehen werden. Am Anfang überlegt man sich die Komplexität nicht, sondern geht ein bisschen nassforsch daran. Da kommt eine Susanne Holl in den Verlag und fragt: Tom, wollen wir nicht? Und dann merkt man, dass man auf sehr vielen noch beweglichen und einfach noch nicht gefestigten editionstechnischen Gründen steht. In dieser Phase sind wir, glaube ich, immer noch. Ein paar Sachen haben wir jetzt erledigt, so dass wir wissen, wie das Format der Print-Edition aussieht. Aber was die Erschließung der Texte angeht, da sind wir sicher nicht vor weiteren Überraschungen gefeit.

Moritz Hiller Die Erschließung läuft seit über zehn Jahren. Wir sind sehr weit gekommen, aber abgeschlossen ist diese Arbeit noch nicht. Der digitale Nachlass umfasst, nach meinem letzten Kenntnisstand, insgesamt über sieben Millionen Dateien, da ist noch einiges zu tun. Abgesehen davon sind es um die 40 Leute, die derzeit mehr oder weniger aktiv an der Ausgabe mitarbeiten, die als Herausgeber:innen designiert sind oder jetzt eben schon konkret an ihren Bänden oder in ihren Abteilungen tätig sind.

Der Indexer – „Intelligent Recursive Online MetadatA Identifikation Engine“ for unstructured born digital data sets –: Das DLA Marbach hat mit dem Nachlass von Thomas Strittmatter im Jahr 2000 erstmals digitale Komponenten erworben. Das DLA hat dafür einen Workflow zur Erhaltung und Entwicklung von digitalen Nachlassobjekten entwickelt, der sich auf statisches, textuelles Material mit überschaubarem Umfang anwenden lässt. Die Hinzufügung vollwertiger Autoren-PCs mit ihren auf Festplatten gespeicherten Datenbeständen hat jedoch gezeigt, dass das für Disketten entwickelte Verfahren nicht für große Datenmengen skaliert. Der Nachlass des Medien- und Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittler (1943-2011) enthält u.a. 756 vervielfältigte Datenträger (Disketten, CD-Rs, aber auch neun Festplatten). Hierfür wurden Softwaretools zur automatischen Analyse großer, unstrukturierter Datenmengen entwickelt, die die Auswahl und Entwicklung relevanter Dateien überhaupt erst möglich machen. Eines dieser Tools ist die Indexer-Software. [1. Vgl. Jürgen Enge, Heinz Werner Kramski: Exploring Friedrich Kittler’s Digital Legacy on Different Levels. Tools to Equip the Future Archivist, in: Proceedings of the 13th International Conference on Digital Preservation. iPRES 2016. Bern 2016, 229–236, https://zenodo.org/record/1255965/files/IPR16.Proceedings_4_Web_Broschuere_Link.pdf?download=1. ] Nach der Erschließung der physischen Archivalien durch Indexierung und Katalogisierung mit dem Indexer benötigte das Projekt eine Infrastruktur für die nachhaltige Aufbewahrung digitalisierter Assets, sowie den damit verbundenen Forschungsdaten, die auch noch weiter produziert werden. Freizo ist die Recherche-Plattform und gibt Daten nach InvenioRDM aus. InvenioRDM ist ein standardbasiertes Repository, das den langfristigen Erhalt von Forschungsinvestitionen ermöglicht. Die zukünftige Entwicklung und Wartung von Repository-Software – einschließlich der Einbeziehung neuer Standards und der Behebung von Sicherheitslücken und der Weiterentwicklung einzelner Softwaretechnologien – liegt in der Verantwortung des internationalen InvenioRDM-Konsortiums.

Susanne Holl Vielleicht sollten wir hier auf den Editionsplan zu sprechen kommen, denn mit der Erschließung einher ging auch die konzeptionelle Arbeit – wie die Edition aufgebaut sein sollte. Ganz am Anfang stand die Idee, thematisch zu ordnen. Kittler hat einen, wenn man so will, ersten Editionsplan hinterlassen: ein Blatt Papier, auf dem er die Sparten „Literatur“, „Philosophie“, „Medien“, „Krieg“, „Musik“ usw. anführt. Da wären wir ihm auch gerne gefolgt, wenn es angesichts des Kittlerschen Oeuvres nicht völliger Unfug wäre. Es verzahnt ja gerade die Felder – zum Beispiel, um einen weiteren Text aus dem nun erschienenen Band anzuführen, „Nietzsche, der mechanisierte Philosoph“ die Philosophie- und Mediengeschichte. Dann hatte die Edition lange Zeit den Arbeitstitel „Schriften, Stimmen, Hard- und Software“. Das erschien als elegantes Konzept, um die Vielschichtigkeit des Kittlerschen Werks abzubilden. Allen voran eine Abteilung „Stimmen“ sollte der wachsenden Zahl ungedruckter Vorträge, die die Nachlassrecherche zu tage förderte, gerecht werden. Da haben wir teils Audio-Video-Materialien, teils Textzeugnisse, letztere teils durchformuliert, teils in Sprechnotizen. Und weiter macht einen relevanten Teil des Nachlassbestands Kittlers Medienpraxis aus: zum Ersten der Synthesizer, in sechs Kuben gelötet und hunderten Blättern von Schaltungsnotaten verzeichnet, zum zweiten die Computerprogramme, tausende von Codezeilen, die mathematische Aufgabenstellungen formulieren und dann hauptsächlich Bilder be- oder errechnen. Man hätte diese Werkteile auch unter „Schriften“ fassen können, denn gerade die Leute vom „Lötwerk“ und „Programmierwerk“ haben immer insistiert, dass ihre Materialien durchaus Schriften sind. Das kann man mit einem Kittler-Titel auf den Punkt bringen: „Die Schrift des Computers – A Licence to Kill“ heißt ein unveröffentlichter Vortrag. Wir haben auf Herausgeberkonferenzen lange sowohl den Titel des Ganzen als auch den Plan darunter diskutiert und durchgespielt, bis wir für „Werke“ entschieden und festgestellt haben, dass auch der zweite, immer noch thematisch unterschiedene Editionsplan sich als nicht tragfähig erwiesen hat.

Moritz Hiller Schließlich haben wir radikal vereinfacht: Es gibt „Zu Lebzeiten Veröffentlichtes“, das ist die Abteilung I, und es gibt „Nachlass“, das ist die Abteilung II. Abteilung I reiht nach Formaten auf: I.A die Monographien etwa Der Traum und die Rede oder die Aufschreibesysteme, I.B die kleineren Schriften in 13 Bänden von 1971 bis 2010, I.C die Vorlesungen Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft und Optische Medien, I.D  Interviews und Sendungen. Die Abteilung II ist fast spiegelbildlich aufgebaut: In II.A haben wir den Torso des zweiten Bands von Musik und Mathematik; in II.B zwei Bände kleinerer Schriften, das sind hauptsächlich Vorträge aus der Schreibmaschinenzeit bis 1989 und der Computerschreibzeit ab 1990. In II.C werden zum Beispiel die Vorlesungen Radio und Musik und Mathematik erscheinen, hinzu kommt eine noch nicht vollständig ausgewertete Reihe von Seminaren. Ebenso steht in II.D die Anzahl der Interviews noch nicht fest. Wir müssen hier offen für Neuzugänge bleiben, sollte zum Beispiel Guido Graf sich entschließen, dass er sein gesamtes Interview mit Friedrich Kittler herausgeben möchte. I.E heißt „Schaltungsnotationen“ und wird die Materialien zu Kittlers Synthesizer aufarbeiten. I.F, das „Programmierwerk“, soll nicht nur Kittlers Codes ausführbar machen, sondern auch das Weiterprogrammieren anbieten. Und zuletzt gibt es noch II.G, „Brouillons“, das sind einige hundert kurze Schreibmaschinen-Essays und -Studien zu ganz unterschiedlichen Themen. Mit diesem Editionsplan haben wir eine feste und zugleich flexible Rahmenstruktur. Während fix ist, was in Abteilung I ediert wird, nämlich alles, was zu Lebzeiten Kittlers erschienen ist, muss Abteilung II flexibler sein. Die Brouillons und Seminare können auch in kleineren Modulen ediert werden. Im Editionsplan, wie er jetzt steht, gibt es Platz dafür. Zur Zeit ist eine Seminartrilogie „Technische Voraussetzungen der Literatur um 1900“ aus den frühen 1980er Jahren in Arbeit, ein großartiger Packen von Typoskripten und Kassettenrecorder-Mitschnitten. Es wird, nach dem ersten Print-Band I.B.4, nun das erste Modell für die Online-Ausgabe.

Susanne Holl Das ist wichtig und ich möchte es noch einmal betonen: Unser Editionsplan-Rahmen umfasst Print und Digital. Das war erst nach dem – wie Martin vorhin gesagt hat – glücklichen Verlagswechsel zu Merve möglich. Wir wollen und müssen weiter Bücher machen, denn zu Kittlers Vermächtnis gehört das Buch als Medium. Man betrachte einmal die Aufscheibesysteme schlicht als typographisches Ereignis.

In der Abteilung I produzieren wir primär Bücher, die dann sekundär auch auf der Plattform sind. In der Abteilung II erscheinen auch Bücher. Aber Anderes, wie die „Technischen Voraussetzungen der Literatur“ fordern die digitalen Publikationsmöglichkeiten ein, also Faksimile von Schreibmaschinenseiten, Audios und Transkriptionen zusammenzubringen. Das ist nun unter einem Dach und, fast noch wichtiger: unterm selben Dach wie der Output wird auch der Input bearbeitet.

Kathrin Kur Ohne so ein auf Standards basierendes Repository wie InvenioRDM zusammen mit der Forschungsplattform freizo für die Daten, mit der man eigentlich alles bearbeitet, wäre das ganze Unterfangen gar nicht möglich. Eine Frage, die sich aus meiner Sicht sofort stellte, war die Notwendigkeit, kommentieren zu können: von editionsinternen Arbeitskommentaren bis hin zu Stellenkommentaren, die Teil der Publikation werden. Wo werden diese Kommentare gesammelt, wie kann man das aufbewahren, wie kann man das für weitere Forschung und für die Zukunft erhalten? Ohne diese Plattform, wo das alles untergebracht wird und die Open Source ist, wäre das nicht möglich. Bei der Buchgestaltung war die Frage, wie kann man die Kommentarebene abheben? Also einerseits den editorischen Teil und andererseits die Texte von Kittler. Wie kann man die Stellenkommentare, den Apparat, die dokumentarischen Nachworte von Kittlers Texten visuell trennen? Wir haben das mit einer leichten Graustufe in der Typographie gelöst, damit Eingriffe sichtbar bleiben und die Texte für sich stehen.

Guido Graf Ist diese Plattform adaptiert oder extra für dieses Projekt entwickelt worden?

Kathrin Kur Die Grundlage gab es, eben die Forschungsplattform freizo, aber dann ist das natürlich alles konfiguriert und angepasst worden um das editorische Projekt realisierbar zu machen. Man muss die Möglichkeit für die Kommentare haben, man muss das korrigieren können, man muss Zitate verlinken. Die Editoren müssen einander Kommentare schreiben können. Es ist ein Forschungstool.

Guido Graf Kann man sich das so vorstellen, dass die Texte, die ediert werden auch, auf dieser Plattform annotiert und kommentiert werden können? Das heißt, sie müssen alle digitalisiert erst mal vorliegen. Und dann wird das Ganze in den Container Edition gegossen?

Kathrin Kur Genau. Wir haben eine Sammlung, das Archiv. Dann haben wir die Aufbereitung. Es gibt also Digitalisate und dann gibt es von allem auch noch Transkriptionen. Es gibt die Korrekturphase, es gibt die Kommentare. Also mehrere Ebenen, die, was für die Zukunft natürlich besonders wichtig ist, in die digitale Edition einfließen können.

Tom Lamberty Das Schöne ist, dass das Kittlers eigenes Medien-Modell abbildet: Speicherung, Verarbeitung und Verteilung. Und das ist auch tatsächlich ganz grundsätzlich mal so gedacht gewesen.

Kathrin Kur Es gibt natürlich auch noch Tonaufnahmen, es gibt Synthesizer, Circuit Diagrams, Lectures usw., also noch viele andere Medien, die in die Edition einfließen und auch noch aufbereitet werden.

Martin Stingelin Formatgerechtigkeit. Das war eine schon von Kittler vorweggenommene Idee, die in den von ihm als Stimme überlieferten Interviews hervorgebracht haben. Er war ein Grenzgänger, der nicht nur Deutschland mit dem französischen theoretischen Denken vertraut macht und die Germanistik in die Medienwissenschaft überführt. Er sieht, dass Schreiben nicht länger nur mit Tinte und Feder geführt und mechanisiert wird, sondern digitalisiert. An der Digitalisierung interessiert ihn, dass man die Codes knacken will. Entsprechend war auch in seinem eigenen Editionsplan die letzte Abteilung: Codes. Er programmiert. Er bringt auch seinen Studierenden Programme bei. Er hat das dokumentiert. Diese Programme kann man nicht drucken. Man kann die Begleitmanuale drucken. Aber formatgerecht müssen sie sein, werden wir sie im Internet zugänglich machen. Und zwar OpenSource, dass man damit auch weiterarbeiten kann. Kittler hat darüber hinaus noch selbst einen Synthesizer gelötet. Auch dafür gibt es Blaupausen und dafür ist ein eigener Band vorgesehen. Was diese Person verkörpert, ist, alle Grenzen zu sprengen, und wir versuchen das jetzt zu dokumentieren. Aber das heißt eben auch für uns, dass wir Grenzen überschreiten müssen.

Kathrin Kur Um auf die Aktualität zurückzukommen und, was ich am Anfang meinte mit dem Materialismus: Hier ergibt sich eben die Möglichkeit, mit Kittlers Nachlass in digitaler Form zu arbeiten, mit Archiven zu arbeiten und sie als Produktionsorte von Wissen zu benutzen also einfach in der aktuellen Medienkultur des Archivs praktisch zu werden. Das macht Kittler relevant.

Susanne Holl Das wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Aber ich glaube, worauf es jetzt ankommt, ist, dass gerade von Data Futures, also Tom, Kathrin und Peter Cornwell, eine Infrastruktur bereitgestellt, entwickelt wird, die dann auch ausbaufähig werden muss, damit wir dieses Projekt auf gute Füße stellen können, die dann auch nachhaltig bestehen bleiben. Wir denken uns jetzt nicht irgendetwas aus und dann wird es mal eben kurz programmiert und in ein paar Jahren ist es dann perdu oder nicht mehr einsetzbar. Daher finde ich die Frage, wie lange es noch geht, nicht die richtige, sondern: In welche Richtung gehen wir jetzt? Wir entwickeln im Moment eigentlich mehr die Tools, in dem wir an der Edition arbeiten, damit diese Tools auch den Notwendigkeiten des Materials folgen.

Tom Lamberty Im Grunde ist das applied Kittler, was wir hier versuchen. Und da ist vieles Neuland. Ein Aspekt, den Susanne gerade nannte, ist wirklich das Thema Long Term Preservation. Wie kann ich dafür sorgen, dass die Sachen in 20, 30 Jahren überhaupt noch accessible sind? Eine zweite Sache, die so nicht sichtbar wird, die ich noch erwähnen möchte: Wir bauen hier, was die IT-Architekturen angeht, kein Silo. Nein, wir bauen etwas, was mit anderen Datenbeständen systematisch verknüpfbar ist. Auch das ist eine Forderung von Kittler, die systematische Vernetzbarkeit von Wissen. Er hat immer gegen die Silos gearbeitet und genau diesen Aspekt von Turing-Maschinen stark gemacht hat, dass sie das können, was eben die alten Medien viel schlechter konnten und über Fußnoten und Zitationen gelöst haben. Jetzt kann man es implementieren. Das ist für mich ein zweiter wichtiger Punkt. Wir haben das Problem Long Term Preservation, was wir versuchen zu lösen, und das andere ist tatsächlich, Kittler offen zu halten für andere Datenbestände und nicht der Verliebtheit in die Benutzeroberflächen auf den Leim zu gehen, sondern tatsächlich sich viel stärker zu fragen: Was kann das denn eigentlich strukturell leisten? Eine Wissen verarbeitende Maschine? Wir zielen stärker darauf zu sagen, wie können wir diese Silos systematisch aufbrechen?

Guido Graf Das scheint mir auch ein ganz wichtiger Punkt, auch in Bezug auf das, was Kathrin Kur betont hat in Bezug auf die Materialität der Kommunikation, deren Praxis, der hier wiederum eine neue Praxis folgt, eine Editionspraxis. Ich habe mich früher mal eine Zeit lang mit Editionsphilologie beschäftigt, vor allem mit Briefeditionen und hatte gegenüber lang andauernden Editionsprojekten nicht selten den Eindruck, dass ihre Dauer dazu diente, Stellen zu finanzieren. Angesichts der Dauer dieser Kittler-Werkausgabe frage ich mich, ob es nicht ohnehin viel wichtiger ist, die beschriebene Anschlussfähigkeit auch in technischer Hinsicht zu gewährleisten und weiter zu fragen, wie modellhaft kann das auch für ganz andere Texte sein? Besteht diese Anschlussfähigkeit auch insofern, dass wir darüber nachdenken, wie andere zeitgenössische Werke ediert werden können.

Tom Lamberty Meine persönliche Hybris wäre tatsächlich, das Referenzmodell zu liefern und nicht das nächste schöne Silo. Die Beispiele, wo es so gemacht worden ist, sind Legion. Gerade in den Humanwissenschaften. Ich will da jetzt niemandem auf die Füße treten und konkrete Beispiele zitieren. Aber es wird nicht genug über die Langlebigkeit eines solchen Vorhabens nachgedacht, über die Finanzierbarkeit auch über eine lange Zeit, die institutionelle Begründetheit. Woran also klemme ich das, damit ich weiß, dass es auch in 30 oder 40 Jahren noch weitergehen kann? Insofern ist Susannes Punkt an der Stelle, jetzt nicht aufs Tempo zu drücken, sondern eher auf die Nachhaltigkeit zu achten, goldrichtig. Mir ist es wichtiger, dass wir irgendwann sagen können, das sind die wichtigen Grundpfeiler, die es braucht für eine zeitgenössische Edition im 21. Jahrhundert.

Moritz Hiller Wenn man sich das Gesamtpaket dieses Nachlasses anschaut, würde ich nicht wagen, final einzuschätzen, wie beispielhaft das ist, weil diesen Nachlass in seiner Heterogenität auch eine gewisse Singularität auszeichnet. Das ist ein sogenannter Gelehrten-Nachlass, wie das in Marbach heißt, eines Gelehrten, der Zeit seines Lebens alphabetische Texte schreibt, der dann aber ab den 1970er Jahren auch anfängt, einen Synthesizer zu löten, also sich mit Elektrotechnik auseinandersetzt, der dann Ende der 1980er Jahren anfängt, am PC zu programmieren: Ob in Marbach noch einmal ein Nachlass ankommt, der diese Heterogenität zeigt, ist fraglich. Nichtsdestoweniger nötigt genau dieser Nachlass Institutionen und Praktiken der Philologie wie die Editionsphilologie dazu, ihren Gegenstandsbereich, ihre Verfahren, die grundlegenden Begriffe und ihre Adressaten grundlegend zu befragen. Welche Erscheinungsform hat dieser Logos, der zum Gegenstand der Philologie wird? Was ist ein Text und von wem wird er gelesen? Werden Menschen oder Maschinen adressiert? Die Reflexion darüber und die Infrastrukturen, die dafür eingerichtet werden, wie etwa der Indexer in Marbach oder das, was wir im Rahmen der Ausgabe mit Data Futures versuchen, werden hoffentlich auch zu einem sinnvollen Umgang mit allen künftigen Nachlässen beitragen. Gerade im Zeitalter dessen, was heute unter dem Namen Digital Humanities läuft, ist der Nachlass Kittlers schon paradigmatisch.

Guido Graf Wenn ich auf das Feld der Gegenwartsliteratur schaue, haben wir ja jetzt schon eine ganze Reihe von Autor:innen, wie Barbara Köhler, Thomas Meinecke, Marcel Beyer, Thomas Kling, von dem jetzt schon eine noch ganz traditionelle Werkausgabe erschienen ist, die alle in unterschiedlichen Medien unterwegs sind oder waren. Mit dem Verständnis von Edition und Archiv, über das wir jetzt sprechen, ginge es etwa in einer Werkausgabe von Thomas Meinecke zum Beispiel auch darum, seine Tätigkeit als DJ abzubilden.

Tom Lamberty Da stimme ich Dir vollkommen zu. Auch was an Netzliteratur, Blogs zum Beispiel, an den Literaturarchiven gesammelt wird oder werden sollte, stellt die vor enorme Herausforderungen. Das ist ein hochkomplexes Gebiet und ein aberwitziges Gebiet, auch was das Volumen angeht. Wenn man sich überlegt, was heute an rein digitalen Texten produziert wird und an wie vielen Orten, kann einem flau werden. Trotzdem brauchen wir natürlich Werkzeuge dafür, wie wir damit umgehen, und vor allem ein politisches Verständnis, wie wir damit als Gesellschaft umgehen wollen.

Kathrin Kur Als Grundlage gibt es bei uns dieses agnostische Denken, also plattformunspezifisch da heranzugehen. Bei Data Futures geht es auch darum, Tools zu entwickeln, die übergreifend sind, die man auch in anderen Bereichen benutzen könnte.

Guido Graf Wie steht es mit der Finanzierung?

Tom Lamberty Wir erhalten großzügige Druckkostenzuschüsse von der Hubert Burda Stiftung. Wird das reichen? Wenn man sich überlegt, dass auch wieder Geld zurückfließt aus Verkäufen und so weiter, reicht es. Üblich ist das nicht. Das ist eine prekäre Ausgabe unter editionsökonomischen Bedingungen. Viele Leute bekommen keinen Cent dafür, dass sie daran arbeiten. Die Ökonomie ist prekär, aber sie hat einen resilienten Aspekt dabei. In ihrer Prekarität schaut sie, dass sie besser überleben kann. Es steckt auch eine ganze Menge Geld von Data Futures drin, auch Merve-Geld drin. Trotzdem würde ich sagen, dass diese Edition nicht an der Finanzierung scheitern wird. Wenn, dann scheitert sie eher an der Komplexität oder an der Hybris ihres Anspruchs.

Guido Graf Irgendwann muss man sicher sehen, ob diese Hybris noch ein Gegenstück hat. Ich hänge immer noch so ein wenig an dem Werkbegriff. Es steht ja auch Werkausgabe auf dem Cover. Auf der anderen Seite gibt es den Komplex des Basteln und Experimentierens bei Kittler. Eigentlich ist das eine Vervollkommnung von ästhetischer Theorie und Praxis. Ich habe es, glaube ich, bei Dieter Mersch gelesen, der in Bezug auf Adornos Ästhetische Theorie betont hat, dass man den Titel auch so verstehen kann, dass diese Theorie eben eine ästhetische ist, sie also nicht allein von Ästhetik handelt, sondern selbst ästhetisch ist. Das greift auf das auf, was die meisten eingangs schon gesagt haben zur Freude, der Lust, dem Spaß am Lesen. Was macht das aber mit dem Edieren, mit dem Werkbegriff, mit dem Textbegriff, mit dem Blick auf Archiv und Gedächtnis? Wird Marbach also nicht nur jetzt vorbereitet sein auf andere Autoren mit Festplatten, sondern ist einfach die Perspektive darauf, wie man zukünftig über Werke spricht, über Texte nachdenkt, notwendigerweise eine andere?

Martin Stingelin Am Ende stehen wir irgendwo zwischen 32 und 36 gedruckten Büchern. Wir haben eine Internetplattform, über deren Nachhaltigkeit Tom gemeinsam mit Kathrin nachdenkt. Ich habe hier diese großen gelben Bände. Das sind Friedrich Nietzsches Notizhefte. Und dann noch ein Band mit den losen Blättern. Wen interessiert das und wie lange noch? Wir kämpfen und es ist meine feste Überzeugung, dass es sich lohnt, darum zu kämpfen. Aber welche Person hat am Ende noch alle 32 Bände bei sich stehen und pflegt die übernächste Plattform, die ihr noch zur Verfügung gestellt wird, um das insgesamt zu erforschen? Kämpfen wir dann noch als Verlorene?

Guido Graf Vielleicht ist das auch gerade die falsche Frage. Alle Leute mit Bücherwänden kennen es, dass jemand kommt und fragt, ob man das alles gelesen hat. Selbstverständlich nicht. Und genauso hinfällig ist auch diese Frage, ob man jetzt alle Bände der Kittler-Ausgabe beisammen hat. Für die Nachhaltigkeit scheint doch viel wichtiger zu sein, was man mit diesem oder jenem Teil dieses Werkes anfängt. Mich interessiert, wie diese Verbindung von Basteln und Experimentieren sowie Theorie auf der anderen Seite weiterwirkt.

Martin Stingelin Ja, genau. Ich drücke meinen Studenten einen Text in die Hand und sage ihnen: Lies diesen einen Text und das Ereignis ist da.

Susanne Holl Ob am Ende alle 32 Bände und zusätzlich noch die Onlineausgabe bei jemandem versammelt ist, und wer das alles liest, können wir nicht sagen. Unsere Aufgabe ist es bereitzustellen. Jeder Aufsatz, der in dem jetzt vorliegenden Band I.B.4 wieder abgedruckt ist, hat einen Ort bekommen. Die Werkausgabe von Friedrich Kittler ist streng chronologisch nach Entstehungsdaten und nach Schreibzeiten aufgebaut, und nicht danach, wann die Texte erschienen sind. Das können wir, weil Friedrich Kittler eine reichhaltige Eigendokumentation hinterlassen hat, etwa die Werkliste, in der Kittler, so lange er die Schreibmaschine benutzt hat, die Entstehungsdaten notiert hat. Daran schließt sich der digitale Nachlass an, der durch den famosen Indexer ebenfalls die Entstehungsdaten dank Metadaten, dank Timestamps sich sehr gut dokumentieren lässt. Hinzu kommt die Korrespondenz mit Herausgebern, Verlegern usw. in etlichen Kästen oder E-Mails. Ob es ein Text ist, der mehrfach erschienen ist, in fünf Sprachen übersetzt wurde, ob es ein Text ist, der als Vortrag gehalten wurde und dann von Friedrich Kittler selbst vergessen wurde, aber jetzt in den unveröffentlichten Schriften enthalten ist: Wir geben den Texten einen Index, aus dem heraus dann Bücher produziert werden, die man sich in den Schrank stellen kann, mit dem man aber auch anders umgehen kann und nur bestimmte Texte adressiert, eine bestimmte Timeline, ein bestimmtes Thema. Wir liefern die Perlenschnur, von der man dann wieder eine agnostische Perlenschnur knüpfen kann, die nur auf Daten passiert, mit der man die semantischen Verknüpfungen selbst vornehmen und eben sehen kann, was man mit Kittler anfängt.

Moritz Hiller Als Antwort auf die Frage, wie der Gegenstand einer Theorie, eines Schreibens, eines Denkens auch auf die Bauform dieses Schreibens, Denkens oder dieser Theorie zurückschlägt, will ich noch mal hervorheben, dass all diejenigen, die diesen Band I.B.4 in die Hand nehmen, feststellen werden, dass die Ausgabe zwei sehr grundlegende Gestaltungsprinzipien hat. Das eine ist die chronologische Ordnung, die sich nach dem Beginn der Schreibzeit der Texte richtet. Sie wird es am Ende ermöglichen, den Denk- und Schreibverlauf innerhalb von Kittlers sogenanntem Werk nachvollziehen zu können. Der Band I.B.4 ist da interessant, weil es um die heiße Zeit von 1981 bis 1983 geht: Es ist die Zeit von Kittlers Habilitationsverfahren, der Gastprofessuren in den USA. Der Sound und die Kriegsgeschichte tauchen hier erstmals als Forschungsgegenstände auf. Themen, die dann bis zum Ende Kittlers Denken und Schreiben mitbestimmen werden. Die Chronologie der Texte wird ein wichtiger Baustein sein, um diese von mir erhoffte Historisierung des Werks Kittlers zu ermöglichen. Das zweite Gestaltungsprinzip ist der modulare Aufbau: Einigermaßen untypisch an der Ausgabe ist, dass in den Bänden nicht zunächst der Hauptteil mit allen Texten steht, auf den dann geschlossen der Apparatteil folgt. In der Werkausgabe stellt dagegen jeder Text eine autonome Einheit dar, auf den direkt im Anschluss sein jeweiliger Apparat folgt, in dem Entstehung, Publikations- und Überlieferungsgeschichte des Textes sowie die an ihm erfolgte Editionsarbeit dokumentiert werden. Dieser modulare Aufbau weist schon voraus auf die Verzahnung der Printanteile der Ausgabe mit ihren digitalen Anteilen. Denn diese Gestaltung im Druck entspricht ja einer Logik, die aus dem Digitalen kommt: Die Möglichkeit der Rekombination von Dingen, die nicht mehr monolithisch gesetzt sind, wie das im Print der Fall ist, ist eine Gestaltungsweise, die das Digitale erlaubt. Tom hat auch darum von der Überzeugung gesprochen, den Bestand nicht in der Art eines geschlossenen Silos gestalten zu wollen. Auf der Plattform wird es dann möglich sein, sich die Texte so zusammenzustellen, wie es für etwa die eigene Arbeit sinnvoll erscheint. Hier wird man dann auch diskursive Texte mit den ,Autographen‘ der anderen Abteilungen kombinieren können: Abschnitte der Aufschreibesysteme etwa mit den Schaltungsnotationen des Synthesizers. Oder Protected Mode mit bestimmten Sourcecodes oder der Selbstdokumentation von Hardware-Konfigurationen. Und all das soll dann wieder als Print on Demand in den Druck überführbar sein. Damit ist, denke ich, in Ansätzen auch eine Antwort auf die Frage nach dem Werkbegriff – zumindest dieser Werkausgabe – gegeben.