• Silos systematisch aufbrechen. Gespräch über Friedrich Kittler

    Hinweis der Redaktion: Dies ist die Langfassung des im April 2023 in der Printausgabe erschienenen Texts *** “Unter technologischen Bedingungen verschwindet die Literatur … im Untod ihres endlosen Verendens.” So steht es, fast am Ende, geschrieben in Friedrich Kittlers Aufsatz Draculas Vermächtnis von 1982. Zusammen mit anderen Texten aus dieser Zeit ist er im ersten erschienenen Band der Werkausgabe Kittlers. Mit den technologischen Bedingungen der Digitalität setzt sich die Ausgabe auseinander und modelliert neue Standards, wie mit Archiv und Gedächtnis umgegangen werden kann. Daher lohnt es sich, gemeinsam darüber nachzudenken, wie das endlose Verenden der Literatur und des Schreibens über Literatur und andere Medien gestaltet werden können. Am 26. September 2022 habe ich das in einem Gespräch versucht. Teilgenommen an dem Gespräch haben Moritz Hiller, Medienwissenschaftler an der Bauhaus-Universität Weimar und Mitherausgeber der Werke Kittlers; Susanne Holl, die den 2011 verstorbenen Kittler noch während seiner Lehrtätigkeit in Bochum kennenlernte und 1995 heiratete; Kathrin Kur von der Data Futures GmbH, einem Nonprofit-Unternehmen aus Leipzig, das die technische Infrastruktur für die Edition  entwickelt; Tom Lamberty, dem Verleger von Merve, wo die Kittler-Ausgabe erscheint; Martin Stingelin, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Dortmund und ebenfalls Mitherausgeber der Werkausgabe. Guido Graf Ich habe davon gehört, dass eine Werkausgabe von Friedrich Kittler in Arbeit ist. Als ich die Ankündigung von Merve gesehen habe, dass der erste Band erscheint, war ich erst mal verwirrt über den Titel I.B.4 und habe dann, als ich das Buch in den Händen hielt, bei einem Text gedacht, in dem es um das Schreien auf Bühnen, Platten und Papieren geht: Den hätte ich damals kennen müssen, als ich mit Friedrich Kittler in einem Café in Berlin Tempelhof gesprochen habe. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem er damals wohnte, haben wir in einem Lokal zusammengesessen, im Hintergrund lief Karnevalsmusik, und wir sprachen für ein Hörstück, an dem ich gearbeitet habe, über das Schreien. Susanne Holl War das 1998? Guido Graf Ja, genau. Susanne Holl  Es ging um Literaturgeräusche, nicht wahr? Ich wollte ohnehin fragen, ob dieses Interview tatsächlich zustande kam und ob es gesendet wurde. Damit hängt nämlich auch eine erste Antwort auf  noch nicht einmal gestellte Frage zusammen, warum das eigentlich so lange dauert. Wir müssen sehr, sehr viel aus dem Nachlass aufarbeiten. Dazu gehören viele Korrespondenzen, aus denen wir dann erst erfahren, dass es so ein Interview von Guido Graf mit Friedrich Kittler gegeben hat. Guido Graf Das ist tatsächlich gesendet worden. Allerdings nur Teile daraus, in einem Feature. Wir konnten damals nicht in der Wohnung sprechen, weil die Handwerker im Haus waren. Aber die Radiobedingungen waren durch die Hintergrundmusik auch in der Gaststätte nicht gerade ideal. In Bezug auf den Gegenstand unseres Gesprächs war es auch interessant war. Das war meine erste Begegnung mit Kittler. Ich habe ihn dann später noch mal in Hamburg im Literaturhaus gesehen, wo er mit Durs Grünbein ein Gespräch über dessen Descartes-Buch geführt hat. Nach seinem Tod habe ich bis 2022 kaum noch etwas von Kittler gelesen. Aber als ich jetzt, im Jahr 2022, den ersten Band der Werkausgabe in den Händen hielt, habe ich mich gefragt, will ich noch mal Kittler lesen? Diese Frage würde ich aber gerne an Sie alle zurückgeben. Warum jetzt Kittler lesen? Warum sollte jemand heute etwas, ob das ein früher Text ist wie die, die jetzt in dem Band sind, oder auch etwas, was sehr viel später entstanden ist, von Friedrich Kittler lesen? Kathrin Kur Die Idee des Verschwindens des Materiellen, Kittlers Hinterfragen von Materialität und Technologie ist für mich sehr relevant. Martin Stingelin Guido hat eine doppelte Frage gestellt und ich versuche, dreifach zu antworten. Seit Ende der 1970er Jahre, als er zum ersten Mal publizistisch in Erscheinung getreten ist, hat Friedrich Kittler eine bis heute anhaltende Aktualität in mehrfacher Hinsicht bestritten, behauptet, verkörpert. Er hat die Germanistik in die Medienwissenschaft überführt. Er hat die Germanistik überrascht durch den Umstand, dass die von ihr behandelten Texte geschrieben worden sind, indem er nachfragt, was es heißt, dass Texte geschrieben worden sind. Nicht immer mit Feder und Tinte, früher mal auch in Stein gemeißelt. Irgendwann gab es eine Mechanisierung des Schreibens durch die Erfindung der Schreibmaschine, dann eine Digitalisierung des Schreibens. Kittler war der erste, der, indem er dies reflektiert hat, die Germanistik in die Medienwissenschaft überführt. Die Welt ist bis heute darüber überrascht, und zwar vollkommen zu Recht. (lesen ...)