Affirmative Ethik. Zu Rosi Braidottis Hegel-Lecture

Dahlem war zu Hegels Berliner Zeit kaum mehr als ein größerer Bauernhof weit außerhalb der Stadt. Erst nach seinem Tod wurde das Gebiet auf kaiserlichen Erlass zum Wissenschaftsstandort ausgebaut, einem deutschen Oxford, zumindest dem Anspruch nach. Dahlem verbindet also auf den ersten Blick nichts mit Hegel. Trotzdem lädt das „Dahlem Humanities Center“ jährlich zur „Hegel-Lecture“ ein, mittlerweile einer festen Institution im akademischen Kalender Berlins, die so prominente Intellektuelle wie André Glucksmann oder Slavoj Zizek anziehen konnte. Die Namenspatronage Hegels ist dabei inhaltlich gedeckt: Als Philosoph der Freiheit passt er tatsächlich ganz gut nach Dahlem, wo vor 75 Jahren die Freie Universität gegründet wurde, an der auch das „Dahlem Humanities Center“ beheimatet ist.

Freiheit ist ein großes Wort. Negativ lässt sie sich als die Abwesenheit von Zwang bestimmen, als eine Freiheit von, positiv begreift man sie als eine Freiheit zu. Die positive Version steht gegenwärtig etwas höher im Kurs, weil sie auch Verwirklichungsressourcen berücksichtigt. Aber für Rosi Braidotti, die die 10. Hegel-Lecture gehalten hat, ist auch dieser Mittel und Möglichkeiten reflektierende Begriff noch zu eng. Als Denkerin der Emanzipation wählt sie in Freiheitsfragen die höherstufige kollektive Perspektive; ihr geht es weniger um Freiheit als um Befreiung.

Braidotti ist ein waschechtes Kind des Poststrukturalismus, gehört zu denjenigen, die noch bei Foucault und Deleuze in Paris gehört haben. Erste Bekanntheit erhielt sie mit ihrer „Nomadischen Theorie“, die der grenzüberschreitenden Mobilität sozialer Gruppen eine gesellschaftsverändernde Orientierung abzugewinnen weiß. Im vergangenen Jahr gewann sie auch die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums, da sie der Biennale in Venedig als theoretische Inspirationsquelle diente.

In Dahlem trug sie eine Skizze ihrer „Affirmativen Ethik“ vor. Darin kommt der erwähnten Positivität eine eigentümliche Funktion zu. Denn eine affirmative Ethik betont in einer ersten Linie die unterstützenswerten gesellschaftlichen Kräfte, also das Transformative und Kreative gegen die Beharrungskräfte des Bestehenden. Das ist im Kontext der Emanzipation sicherlich nicht ungewöhnlich, aber angreifbar. Wo ist in so einem Ansatz die Kritik, wo das Negative?, kann man sich fragen. Wer seinen Adorno gelesen hat, verdächtigt den positiven Ansatz schnell, zum Ideologischen und Konformistischen zu tendieren, weshalb Braidotti frühzeitig klarstellt, dass es ihr nicht um Optimismus geht und auch nicht um das, was sie „Wellnesstheorie“ nennt: Ziel des Denkens kann nicht sein, dass die Leute sich unmittelbar wohlfühlen.

Wohl aber sollen sie befähigt werden. Auf Spinoza zurückgreifend, verwendet Braidotti den Begriff des Potenzials, in dem sowohl das Vermögen als auch die Kraft steckt, um dies aber sogleich wieder von einem falsch verstandenen Empowerment oder einer neoliberalen Selbstoptimierungsideologie abzugrenzen. Ihr geht es nicht um die psychologische Ebene. Die affirmative Ethik verlangt vom Subjekt nicht, sich besser auf die schlechte Welt einzustellen, sondern zu erkennen, dass die Welt schlecht ist: „Es ist nicht dein Problem“, wenn du leidest, sagt Braidotti, „es ist ein Problem“. Mit etwas Zuspitzung wird dadurch die Formel der 1960er und 1970er, das Private sei politisch, wieder umgedreht: Möglichkeitsbedingung für die durchaus angestrebte Selbstermächtigung des Subjekts ist weniger die Veränderung seiner Nahbeziehungen als die der Wirklichkeit. Denn mit Braidotti: „Irgendetwas stimmt hier nicht!“

Affirmation bedeutet bei Braidotti also alles andere als die Akzeptanz des Bestehenden, wohl aber die seiner Problematizität. Fast schon zu pragmatisch, führt sie in Fallstudien vor, welcher Art die Probleme sind, die die affirmative Ethik im Blick hat, und wie sie mit denselben verfährt. Das erste Beispiel ist Technik. Wie die Debatte um Künstliche Intelligenz gezeigt hat, sorgen sich viele Menschen um die unabsehbaren Folgen autonomer Supercomputer. Gleichzeitig lässt sich die Technologie auch für sinnvolle Dinge einsetzen. Mit Affirmation ist hier jedoch wiederum nicht die Wahl der letzteren

Perspektive gemeint, da dies zu leicht in Richtung eines blinden Fortschrittsoptimismus tendieren würde. Mit dem Silicon Valley will Braidotti nichts zu tun haben. Aber noch weniger mit der Angstmacherei. Denn die hält sie – und das spricht aus ihrer Sicht auch gegen den Negativismus der kritischen Theorie – für einen wesentlichen Zug rechten Denkens; und gerade diesem möchte sie etwas entgegensetzen.

Man hat es hier mit einem Grundpfeiler von Braidottis Philosophie zu. Ihr Denken ist methodischer Antifaschismus. Hat man einmal erkannt, dass der Faschismus eine Ideologie der Angst ist, etwa vor Überfremdung oder geheimen Verschwörungen, liegt nahe, diesem Denken eine Zuversichtstheorie entgegenzusetzen. Die Affirmationsethik fungiert als „Antidot“ auf die „Katastrophologie“ der Rechten.

Braidotti muss ihre Ethik also zwischen reaktionärer Panik einerseits, und kapitalistischer Euphorie andererseits hindurchschiffen. Vielleicht bringt nichts die paradoxe Grundidee ihrer praktischen Philosophie so klar zum Ausdruck wie der Umstand, dass sie Künstliche Intelligenz mit der Atombombe vergleichen und das ernst meinen kann, sich also wirklich auch persönlich um die von autonomen Rechnern ausgehende Gefahr sorgt, und trotzdem darüber lustig über diese Angst macht. Ihrer Philosophie ist es ernst. Aber so ernst auch wieder nicht. Der Witz, die humorvolle Selbstdistanzierung verbindet Braidotti mit der von ihr eher abgelehnten dialektischen Philosophie.

Wie also umgehen mit der durchaus echten Gefahr? Indem man eine realistische „Risikoanalyse“ betreibt! Mit einem weiten Begriff vom Künstlichen erschließe sich, dass die gefahrenvolle Technologie sich bereits unseres Alltags bemächtigt habe, sodass die Übernahme der Maschinen nicht als ein Zukünftiges gefürchtet werden müsse, sondern bereits Gegenwart sei. Man denke nur an Implantate, Drogen oder die Fürsorge, mit der Menschen ihre Handyakkus pflegen. Eine maschinenstürmerische Position verfehlt schlicht die Realität. Statt sich die Roboterdystopie auszumalen, gelte es, die Gefahr richtig abzuschätzen, der Forschung gegebenenfalls Grenzen zu ziehen und diese vor allem als eine kollektive Entscheidung zu begreifen. Der Vorschlag lautet: Akzeptieren wir, dass wir abhängig sind. Aber lasst und politisch darüber beratschlagen, wovon wir es sein wollen; überlassen wir es nicht den Konzernen.

Braidotti muss sich nicht vorwerfen lassen, das Beispiel gewählt zu haben, weil Künstliche Intelligenz gerade in aller Munde ist. Vielmehr beschäftigt sie sich mit dem Thema seit Jahren und gilt neben Donna Haraway als eine der wichtigsten Denkerinnen des Posthumanismus. Diesen sollte man, wie sie in einer sehr erhellenden Wende erklärt, nicht für die Konzeption wahnsinniger Feministinnen halten, sondern für den status quo der bürgerlichen Produktion. Enhancementechnologie sorgt für enorme Profite. Analytisch befinden wir uns also schon lange im Posthumanismus. Kritisch wird die Sache, frei nach Marx, wenn sich das Bewusstsein davon etabliert.

Weniger auf Marx als abermals auf Spinoza beruft sich indes Braidotti. Dessen Immanenzbegriff ist ihr das Vorbild: Wie sich in Spinozas Philosophie alles im Innenraum Gottes zutrug, der aus diesem Grunde pantheistisch mit der Natur im ganzen gleichgesetzt werden konnte, so begreift Braidotti alle Phänomene als Variationen derselben Materie. Das lässt sich ökologische applizieren, wie die zweite Fallstudie, der Klimawandel, zeigt. Der besondere Dreh der spinozistischen Perspektive ist es, das Klima nicht als Problemgegenstand und damit auch nicht als Objekt einer möglichen Beherrschung zu denken, sondern als dasjenige, indem sich die Menschen vorfinden. Wieder gilt es eine Abhängigkeit zu akzeptieren: Der Mensch ist Teil der Natur; Umwelt darum eigentlich ein etwas irreführender Begriff. Auch künstliche Intelligenz bricht nicht aus der Natur aus. Sie verkörpert das Geistige nur etwas anders als der Mensch.

Logisch geht es darum, Differenzen ohne Unterordnung zu denken. Der Mensch unterscheidet sich von anderen Tierarten, ist aber nicht besser oder schlechter als diese. Hier beruft sich Braidotti auch auf

einen Deleuzeschen Materialismus. Ziel müsse eine nichthierarchische Lebensphilosophie sein, für die sie schöne Formeln findet, etwa die, das Verständnis vom Ökosystem an die Stelle des menschlichen Egosystems zu setzen. Mit dem Introsong eines bekannten Highschool-Films: We´re all in this together. Von der Reflexion auf die konstitutive Verbundenheit mit anderen Arten verspricht sich Braidotti zudem Einsichten über das Wesen des Menschen. Die Reduktion seines von der Aufklärung herrührenden Selbstbewusstseins würde ihn erst ermächtigen, wahrhaft Mensch zu sein. Wieder so eine schöne Formel: Aus der Negation des Anthropozentrismus erwächst die echte Anthropologie.

Man kann sich fragen, ob in dem Auftrag, der dem Menschen damit zukommt, nicht doch etwas von den Forderungen der Aufklärung erhalten bleibt, die Braidotti als vermeintlich westliche verwirft. Dies wäre wohl auch die Stelle gewesen, um das Verhältnis zu Hegel zu klären, von dem sich die Italienerin ebenso scharf abgrenzt, ohne doch so recht zu erläutern, inwiefern sich ihr Konzept einer Situiertheit des Geistes eigentlich von dessen Naturphilosophie unterscheidet. Der Hinweis auf die idealistische Hierarchie reicht hier aus. Durch deren Fehlen will sich Braidottis Relationismus – Differenz ohne Suprematie – auszeichnen. Aber wie passt das dann zu Spinozas monistischer Theosophie, die mit Sicherheit Unterschiede kannte, aber in der wohl kaum die Dimension eines letztlich obersten Begriffs, Gott, eliminiert werden kann?

Solche Fragen darf Braidotti ausblenden, weil sie sich an diesem Abend in Dahlem nicht auf reine Philosophie konzentriert. Die Emerita spricht als Aktivistin. Ihr geht es darum, im intellektuellen Handgemenge den negativistischen Kollegen von Houellebecq bis Sloterdijk etwas entgegenzusetzen. Nebenbei erklärt sie der Jugend, wie man an Stipendien kommt, um den theoretischen Kampf fortzusetzen. Mit Sicherheit ist sie auch eine Predigerin, die den sinistren Gegenwartsdenkern, aber auch dem wirklich zahlreich an diesem Sommerabend erschienenen Publikum die Angst nehmen möchte. Performativ führt sie ihr Verständnis vom positiven Denken vor. Selten wurde im großen Hörsaal der FU so viel gelacht. Und das, obwohl die Gefahr so groß ist. Braidotti beweist die Kraft ihrer Fröhlichen Wissenschaft durch den eigenen Auftritt.