Gesundheitsschutz als Staatspflicht. Eine Erwiderung auf Jürgen Habermas

Jürgen Habermas hat in einem kürzlich erschienenen Suhrkamp-Band mit dem Titel „Freiheit oder Leben?“ eine in zwei früheren Artikeln vorbereitete und mit anschwellender Vehemenz vorgetragene Position zur Pandemiepolitik entwickelt, die näherer Betrachtung lohnt. [1. Jürgen Habermas, Grundrechtsschutz in der pandemischen Ausnahmesituation. Zum Problem der gesetzlichen Verordnung staatsbürgerlicher Solidarleistungen. In: Klaus Günther/Uwe Volkmann (Hrsg.), Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft. Berlin: Suhrkamp 2022.; Klaus Günther/Jürgen Habermas, „Kein Grundrecht gilt grenzenlos“. In: DIE ZEIT, Nr. 20, 2020; Jürgen Habermas, Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 9, 2021.]

Die medial geführten Debatten hätten es versäumt, so Habermas’ grundlegende Beobachtung, die Zielsetzung der Pandemiepolitik herauszuarbeiten. Behelfsmäßig diente jahrelang eine grafisch anschauliche rote Linie, nämlich die Zahl der Krankenhausbetten, allzu unhinterfragt als Richtmarke für Gewährung und Entzug von Freiheiten. Diese Heuristik schließe allerdings voreilig das Recht auf Leben mit medizinischer Versorgung kurz: Unter der Hand tausche der eigentlich angestrebte Infektionsschutz mit der bloßen Zusicherung von Behandlungschancen im Notfall. Das aber sei eine „Herabstufung des Ziels“. An diesen Befund schließt Habermas unvermittelt eine Frage an, deren Tendenz den Fluchtpunkt seines Arguments schon ahnen lässt. Zu klären sei, „ob die Regierung eines Verfassungsstaates überhaupt das Recht hat, Politiken zu verfolgen, mit der [sic] sie – ganz unabhängig vom Auslastungsgrad des Gesundheitssystems – eine wissenschaftlich vorhersehbare, also nach menschlichem Ermessen vermeidbare Steigerung der Infektions- beziehungsweise Sterbezahlen in Kauf nähme“. Habermas’ Antwort lautet: Nein, dieses Recht habe die Regierung nicht. Vielmehr müsse sie so viele Infektionen wie irgend möglich verhindern, und zwar ohne Rücksicht auf soziale, ökonomische, rechtliche Zielkonflikte. Dieses „Minimierungsziel“ sei in allen liberalen Verfassungsstaaten jeder politischen oder gerichtlichen Abwägung enthoben.

Es wäre verfehlt, diese These als bloße Erinnerung an den hohen Stellenwert des Lebensschutzes zu lesen. Erstens versteht Habermas unter „vermeidbar“ tatsächlich jede Infektion, die nach dem jeweiligen Stand von Technik, Medizin und Staatsgewalt theoretisch zu verhindern wäre. Zweitens bezog sich das Minimierungsziel in einer kürzeren Fassung von 2021 noch auf „Todesfälle“ – nun hingegen avanciert es an einer sonst gleichlautenden Stelle zur verschärften „eigentlichen Aufgabe, die Infektionszahlen zu minimieren“. War der Staat 2021 noch „verpflichtet, die Zahl der an Corona Verstorbenen so niedrig wie möglich zu halten“, erstreckt sich diese Verpflichtung 2022 auf „die Zahl der an Corona Erkrankten und Verstorbenen“. Drittens habe der Staat die bloße „Inkaufnahme“ vermeidbaren Leids uneingeschränkt zu verantworten. Es sei ihm mithin untersagt, in seinem Aktionsradius irgendeinen Schaden seiner Bürger „in Kauf zu nehmen, also selber zu verursachen“. Daraus ergebe sich seine Pflicht, „alles zu vermeiden, was das Leben von Bürgern aufs Spiel setzt“, und handele es sich nur um „mögliche Nebenfolgen“ seines Tuns und Lassens. Was bezweckt Habermas mit diesen Forderungen? Offenkundig soll seine moralphilosophische Darlegung mit einer Überbietung konkurrierender Expertisen das Recht auf Leben leichtfertigen Relativierungen entziehen. Im Zuge dessen weist er den politischen Richtungsstreit in die denkbar engen Grenzen des „von vornherein als erforderlich anerkannten Ziels“ der Infektionsminimierung.

Welchen Zuschnitts der verbleibende Spielraum wäre, steht Habermas klar vor Augen. Er bedauert Merkels „Führungs- und Gestaltungsschwäche“ im Angesicht politischen Widerstands und wünscht sich rückblickend „erheblich strengere Verhaltensvorschriften und Auflagen“. Dafür lobt er die koreanische Regierung, die „einer disziplinierten Bevölkerung mit rechtzeitig verordneten strikten Auflagen und dem klugen Einsatz von Informationstechniken“ beigestanden hätte. Die praktischen Konsequenzen nennt er nicht beim Namen: mediale Einschüchterung, Standortkontrolle während der Quarantäne, massenhafte Auswertung von Bewegungsdaten, Zahlungsverkehr, Überwachungskameras.

Solche Politik wäre freilich nur um den Preis einer kühnen Neuinterpretation der Verfassung zu haben, für die sein Text einen „Vorschlag“ unterbreitet. Demnach entlocke der medizinisch-technische Fortschritt dem Grundgesetz einen bis dato verkapselten normativen Gehalt: Der bedingungslose Lebensschutz liege schon in der staatlichen Verpflichtung auf die Menschenwürde mitbeschlossen. Erklärtermaßen soll diese „Anregung“ auf nicht weniger als einen „prima facie Vorrang des Rechts auf Leben und Gesundheit vor allen übrigen Grundrechten hinauslaufen“. Nun erwähnt das Grundgesetz das „Recht auf Gesundheit“, dem hier Verfassungsrang beigemessen wird, nicht einmal. Aber sieht man davon einmal ab, setzt sich der Vorschlag auch über zwei im deutschen Verfassungsrecht gängige Mahnungen hinweg: erstens die Krise nicht zum Anlass zu nehmen, Grundrechte einander pauschal über- und unterzuordnen; zweitens die Menschenwürde als Höchstwert nicht in einem einzelnen Recht aufgehen zu lassen, etwa indem man es zu ihrer logischen Voraussetzung erklärt. Das gilt auch und gerade für Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Denn schon der nächste Satz lautet: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Zwischen beiden Sätzen liegt ein Atemzug.

Die Auflösung dieser Aporie ist Habermas kein möglicher Gegenstand vernünftigen Dissenses. Vereinzelte polemische Einsprengsel durchsetzen den sonst kühlen Ton. So attestiert er Gegnern der Regierungspolitik etwa einen „ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte“ – eine aufschlussreiche Formulierung insofern, als die Mitte erst dann ein Extrem bilden kann, wenn man selbst das Zentrum festlegt Der Beitrag verhallt auf einer unversöhnlichen Note: „Und die derart gerechtfertigten Maßnahmen dürften wohl nur noch von libertären Coronaleugnern als Auswuchs einer fragwürdigen Biopolitik verleugnet werden können“.

All dies dokumentiert die Beweislast, das „von vornherein als erforderlich anerkannte Ziel“ der Infektionsminimierung auch als solches zu erweisen. Habermas bedient sich dazu der Denkfigur des Kreislaufs, die bereits das rechtstheoretische Hauptwerk Faktizität und Geltung verklammerte: [1. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.] In Ausübung ihrer politischen Autonomie, zuvorderst ihres Wahlrechts, räumen sich die Staatsbürger gegenseitig subjektive Freiheiten ein; die so abgezirkelte Privatautonomie befähigt und motiviert sie wiederum zur kommunikativen Gestaltung ihres Gemeinwesens. So entspringen Demokratie und Rechtsstaat einer gemeinsamen Wurzel und erhalten sich gegenseitig. Legitim ist diese Ordnung, insoweit sie die notwendigen Bedingungen für faire Diskurse verbürgt.

Der pandemische Ausnahmezustand veranlasst Habermas nun zu einer erheblichen Revision dieses Modells. Das Virus habe das übliche Wechselspiel zwischen privater und politischer Autonomie, Eigennutz und Gemeinwohlorientierung gestört, beanspruche der Infektionsschutz die Kooperationsbereitschaft freier Bürger doch in beispielloser Weise. Unter diesen Umständen müsse der Staat schon aus praktischen Gründen zwangsbewehrt Solidarität einfordern, um den Kreislauf wiederherzustellen, dem er seine Legitimität verdankt.

Hier reißt der Argumentationsstrang ab, ehe er das angepeilte Beweisziel erreicht. Denn strittig ist ja nicht, dass uns die Pandemie außergewöhnliche, ungleich verteilte Solidarleistungen abverlangte – das nämlich könnte niemand ernstlich bezweifeln. Strittig ist, dass diese Solidarität zwingend am Minimierungsziel zu bemessen wäre – und zwar selbst dann, wenn sich Gerichte, Parlamente und Öffentlichkeit dagegen wehrten. Erst vermöge eines entsprechenden Beweises könnte die Moralphilosophie im Alleingang die paradoxe Strategie rechtfertigen, „mit einem temporären Rückfall unter das rechtliche Niveau reifer Demokratien“ deren Fortbestand zu sichern.

Woraus könnte sich der unbegründete Überschuss dieser Forderung speisen? Mindestens einen Hinweis enthält Habermas’ frühe Warnung in DIE ZEIT (Nr. 20, 2020), jede Abwägung des Lebensschutzes schicke sich an, „das Risiko des Todes von ein paar mehr oder weniger Alten, die ihr Leben ja ohnehin gelebt haben, in Kauf zu nehmen“. Jeder versuchten Aufrechnung von Leben, jedem zynischen Kosten-Nutzen-Kalkül, jeder utilitaristischen Anwandlung soll eine kompromisslose Pflichtethik zuvorkommen. Stützen kann sich diese auf die diskursethische Fundierung der Grundrechte in Faktizität und Geltung: Am Leben und gesund zu sein, zählt zu jenen Voraussetzungen von Diskursen, die sich ihre Teilnehmer zwingend wechselseitig zugestehen müssen. Das demokratische Gespräch darf nicht den Tod oder die Krankheit auch nur eines konkreten oder statistischen Beteiligten beschließen.

Eine solche Verabsolutierung setzt auch nach Maßgaben der Diskursethik einen überraschend undurchlässigen Filter für moralisch zulässige Politiken. Hätte nämlich der Staat kategorisch „alles zu vermeiden, was das Leben von Bürgern aufs Spiel setzt“, und dränge parallel das verflüssigte Gewaltpotential des Staates immer tiefer in die Kapillaren der Gesellschaft ein, dann dürfte im Straßenverkehr wie im Brandschutz, in der Klimapolitik wie in der Landesverteidigung nicht einmal eine Debatte über den Grundsatz der unbedingten Risikominderung stattfinden. Denkt man die Sache zu Ende, zeigt sich auch die logische Kehrseite des Minimierungsziels: Der Staat müsste die Gesamtlebenszeit seiner Bevölkerung über deren Köpfe hinweg maximieren (lässt man den Sonderfall des selbstbestimmten Sterbens außer Acht).

Freilich provoziert Habermas’ These noch eine ganze Reihe weiterer Einwände. Da wären zunächst die verdeckten Zielkonflikte innerhalb des neuen Supergrundrechts. Denn insofern man unter „Gesundheit“ mehr verstehen will als das Nichtvorliegen einer SARS-CoV-2-Infektion, müsste es gleichermaßen die körperlichen, psychischen, sozialen Folgeschäden der Gegenmittel in Anschlag bringen. Da wären die komplexen Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Gesundheit und gutem Leben. Dieses Trilemma träte sicherlich schärfer hervor, wenn man das Minimierungsziel, das ja durchaus für alle liberalen Verfassungsstaaten gelten will, an Volkswirtschaften erprobte, die monatelange Lockdowns nicht mit Zins- und Fiskalpolitik abfedern können. Da wäre die nivellierte moralische Unterscheidung, ob eine Rechtsgemeinschaft die gezielte Schädigung bestimmter Bürger billigt oder den wahrscheinlichen Nachteil einer hypothetischen Anzahl. Da wäre die Möglichkeit, Widerstand gegen den Primat des Gesundheitsschutzes künftig als verfassungsfeindlich zu werten. Diese Suggestion droht mindestens unter autoritär geneigten Regierungen interessierte Abnehmer zu finden. Da wäre die fatale Unklarheit in der Frage, wer eigentlich über Ausnahmezustände entscheidet, die es gestatten oder sogar erfordern, die kollektive Selbstbestimmung zeitweise außer Kraft zu setzen.

Derlei diskutieren die anderen Autoren des Suhrkamp-Bandes vielstimmig und wie zum Beweis, dass Habermas’ Überlegungen eher Teil als Ende eines vernünftigen Diskurses sind. Darin die Möglichkeit von Zwist und Zweifel zu wahren, heißt aber nur: die ursprünglichen Absichten der Diskurstheorie selbst zu erneuern. Man braucht Habermas bloß beim Wort zu nehmen, um die jüngste Anpassung seiner Theorie zu kritisieren. So mahnte er 1992 noch an: „Der Streit um das richtige paradigmatische Verständnis eines Rechtssystems, das sich als Teil im Ganzen der Gesellschaft reflektiert, ist im Kern ein politischer Streit. Im demokratischen Rechtsstaat betrifft er alle Beteiligten, er darf sich nicht nur in den esoterischen Formen eines von der politischen Arena entkoppelten Expertendiskurses vollziehen“. Gerade wenn eine spezialisierte Avantgarde anlässlich einer tiefen Krise die liberale Verfassungsordnung pauschal umdeutet, bewährt sich dieser Rat.

Verfolgt man die Fährte einer immanenten Kritik weiter, eröffnet sich der Weitblick der Originalfassung auf ungeahnte Weise. Tatsächlich waren heute einschlägige Warnungen längst in ihr angelegt. Schon ihrem Kern widerstrebt der Anspruch, die schwierigste Abwägung der Grundrechte seit Bestehen der Bundesrepublik der Debatte zu entziehen und an ihre Stelle einen moralphilosophischen Monolog zu setzen. Auch warnte Habermas damals davor, politische Konflikte durch wissenschaftliche Expertisen zu präjudizieren; warnte vor Tendenzen, Parlamente per Verordnungspolitik zu umgehen; warnte vor der latenten Gefahr jeder Kritik im Modus der Selbstvergewisserung, das Vorherrschende mit dem Vernünftigen zu identifizieren. Vor diesem Hintergrund verblüfft die abstrakte Verpflichtung auf ein unhintergehbares Minimierungsziel, ähnelt diese doch jenen „normativistischen Ansätzen, die stets Gefahr laufen, den Kontakt mit der gesellschaftlichen Realität zu verlieren“– und vor denen Habermas wiederum eindringlich warnte, weil sie dem freien Selbstentwurf eines Staatsvolks viel zu viel vorwegnähmen. Solchen Gefahren nicht zu erliegen, gerade wenn die Umstände dazu verleiten, ist der Ertrag, den wir heute mit Habermas gegen Habermas wenden können.

An der Form der politischen Auseinandersetzung entscheidet sich letztlich auch, ob die vergangenen Jahre de- oder repolitisierend wirken werden. Eben damit beschäftigte sich Habermas in seiner ersten akademischen Veröffentlichung, der 1961 erschienenen empirischen Untersuchung Student und Politik. [1. Jürgen Habermas u.a., Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. Neuwied: Luchterhand 1961.] Es trieb ihn damals die Sorge um, dass sich auf längere Sicht in der Grundrechtsauslegung „verwirklichen könnte, was heute erst Tendenz ist: alles für das Volk, aber nichts durch das Volk“. Dann degradiere sich der Souverän zum „Objekt der Fürsorge“, der „selber nicht nur nichts zu tun braucht, sondern auch nicht mehr viel tun kann“, weil die wirklichen Alternativen schon zu seinem Besten vorentschieden seien. Und dann sei geradezu nachvollziehbar, wenn zynische, ironische, indifferente, naive und autoritäre Neigungen zum neuen politischen Syndrom zusammenträten. In den 1960ern kam es anders. Und heute?