Die letzten Bürger. Lina E. und Tag X
Wer die Berichterstattung über die Lina-E.-Demonstrationen in Leipzig verfolgt, bekommt den Eindruck, hier habe sich eine Horde destruktiver Charaktere zusammengerottet, um das Gemeinwesen zu bedrohen und Connewitz als Geisel zu nehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Antifa, um die es geht, ist ein Club der Anständigen und Tugendhaften, die sich um den Zustand der Gesellschaft sorgen und dem Staat unter die Arme greifen, wo er schwächelt, was leider oft vorkommt. Bei der Bekämpfung seiner rechtsradikalen Feinde stellt er sich mindestens dusselig, wenn nicht sogar absichtlich ungeschickt an. Dies ist die Lehre aus einigen Jahrzehnten Bundesrepublik, vor allem aber aus dem NSU-Komplex, der die Staatsorgane als dysfunktional geoutet hat. Bürgerliche Kräfte, mit ihrem unbestechlichen Blick für Staatsversagen, wissen seither, dass die Regierung nicht nur als Unternehmer, sondern auch als Polizist scheitern kann. Keiner sieht dies klarer als die Antifa, die der verbreiteten spätabsolutistischen Regierungsfrömmigkeit misstraut und lieber ihrem urbürgerlichen Autonomieinstinkt folgt, was ihnen gerade bei Liberalen und Konservativen Respekt verschaffen sollte.
Die Antifa ist Verfassungsschutz von unten. Sie reist durch das Land, um das Gemeinwesen mit dem Hammer zu verteidigen, der gut nietzscheanisch, also leipzigerisch, als Perkussionsgerät zur Untersuchung des Gesundheitszustands der Gesellschaft sowie zur Gefahrenabwehr benutzt werden kann. Natürlich kommt es dabei mitunter zu Fehlverhalten, das aufgearbeitet werden muss, aber welche Polizeiarbeit war je frei davon? Letztlich hilft die Antifa mit ihrem Einsatz für die öffentliche Sache nicht nur dem Staat, sondern auch den Bürgern, die stets Gefahr laufen, bei der Verfolgung ihrer bourgeoisen Gelüste ihre Pflichten als Citoyens zu vernachlässigen. Gut, dass es die Antifa gibt, die sie hin und wieder daran erinnert, wer sie sind. Antifaschismus ist Vollbürgertum, maximales Engagement für die Polis und damit polizeilicher als die Polizei erlaubt.
Ihr Ärger darüber, dass ihr Einsatz nicht geschätzt wird, ist verständlich. Anstatt sie als Helden bürgerlichen Selbstbewusstseins und zivilgesellschaftlichen Engagements zu feiern, wirft man sie in Gefängnisse, oft länger als ihre neo-nazistischen Gegenspieler. Selbst bei komplizierter Beweislage ist man sich nicht zu schade, „ein Exempel zu statuieren“, wie im Fall Lina E. Und als die Leipziger Antifa ihrem Ärger über das Urteil Luft machen wollte, wurde ihr untersagt, die verweigerte Anerkennung via Demonstration am Tag X einzufordern. Als stolze Bürgerinnen ließen sie sich davon jedoch nicht abbringen und demonstrierten trotzdem. Die Polizei wusste das für sich zu nutzen, trommelte eine kleine Armee aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen, riegelte die halbe Stadt ab und ließ ihre eindrucksvollsten Wasserwerfer vorfahren. Die Botschaft lautete: Wo so viel schweres Gerät ist, da müssen böse Kerle sein. Aber es war nur die Antifa, die stundenlang im Kessel vom Kant-Gymnasium gefangen war, ohne Wasser und Toilettenzugang, und dennoch ihre gute Laune nicht verlor. Das sorgte für Ärger bei der Polizei, die nicht umsonst gekommen sein wollte und nach einigen Stunden eine Rauferei anzettelte.
Die Antifa ist das schlechte Gewissen der Polizei. Vermutlich sitzt der Schlagstock deshalb so locker, weil es nervt, dass sie jemand an ihre Aufgaben erinnert und sie mitunter übernimmt. Doch anstatt der Antifa dankbar zu sein und sie wie Sherlock Holmes bei der Bearbeitung schwieriger Fälle heranzuziehen (worin die Größe der Londoner Polizei bestand, die die sächsische nicht aufbringen kann), verzettelt sie sich in einen Kleinkrieg darüber, wer die Gesellschaft schützen darf. Dieser wird mitunter härter ausgetragen als der eigentliche Konflikt mit dem Gegner, über dessen Identität beim Blick auf die Gewaltstatistik eigentlich kein Zweifel aufkommen dürfte. Er befindet sich rechts, was die Polizei gern anders hätte, weshalb sie mitunter ein miserables Gefahren-Screening betreibt.
Wer sich zum Beispiel in den 1990er und 2000er Jahren am Tag der Jugendweihe auf die Straßen einer ostdeutschen Kleinstadt wagte, der wurde von einem Polizisten gebeten, nach Hause zu gehen, da Nazis unterwegs seien, vor denen er keinen Schutz garantieren könne, weil er hier allein unterwegs sei. Nach einem Wochenende in Leipzig ahnt man, warum die Einheiten an den Brennpunkten fehlen: Sie patrouillieren durch Connewitz, um uns vor unseren Beschützern zu beschützen, was den Schutz allerdings nicht verdoppelt, sondern halbiert, weil sie die Antifa bei den Ermittlungen behindern.
In Connewitz, wo die Antifa aktiv ist, ist die Welt noch in Ordnung. Junge Familien wissen das zu schätzen und strömen in Scharen an den südlichen Stadtrand, wo ihre Kinder behütet zwischen Wäldern und Seen aufwachsen können, weil die Antifa dafür sorgt, dass es kein Naziproblem gibt. Gerade Spießer sollten die Antifa daher zu ihren Verbündeten zählen. Ihre Hingabe ans Gemeinwesen macht sie zu Patrioten, die für Ordnung und Eigeninitiative stehen und garantieren, was andere bloß verkonsumieren.
Bald könnte es mit der Idylle jedoch vorbei sein. Wenn nämlich unser schönes Leipzig in die Fänge der sächsischen AfD gerät (worauf es in Umfragen hinausläuft), bekommt diese Zugriff auf Behörden, die sich ohnehin kein allzu großes Vertrauen erarbeitet haben. Sollten die Sezessionisten („Leipzig raus aus Sachsen!“, Die Partei) bis dahin keinen Erfolg haben, werden die arglosen Leipzigerinnen eine Suppe auszulöffeln haben, die sie sich nicht eingebrockt haben. Die Aufstellung von Abwehrverbänden (möglicherweise nach Vorbild der Eisernen Front, einem Arbeiterbund, der ab 1931 versuchte, die Republik zu verteidigen) wäre dann wohl unumgänglich, um wenigstens für ein bisschen Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Antifa könnte hierbei entscheidende Aufbauarbeit leisten, da sie – bürgerlich-nüchtern, weitsichtig und zielstrebig – schon vor Jahren eine zutreffende Gefahrenprognose aufgestellt und ihre politischen Energien klug investiert hat. Halbbürgerliche Nachzügler, Liberale und Konservative, können dann froh sein, dass es Leute gibt, die mit dem Schlimmsten gerechnet haben, und sich von ihnen in Sachen Landesverteidigung ausbilden lassen.
Dass sich die Verfassung selbst verteidigt, glaubt auch nur eine Paragraphenrepublik aus Karlsruhe, die nicht zufällig ihren Sitz in einer absolutistischen Planstadt hat, während man in Leipzig, der historisch gewachsenen Gerichtsstadt des Landes, ein Gespür für den brodelnden Untergrund des Rechts hat. Die Linde (urbs Libzi = Lindenstadt) ist der Baum der Gerechtigkeit. Die Antifa ihr langer Arm. Und Lina E., deren Initialen dem inoffiziellen Stadtkürzel L.E. entsprechen, ist ihr Symbol. Es prangt auf tausend Hausfassaden, Straßenschildern und Brückenpfeilern, hingesprayt von besorgten Bürgern, die nicht verstehen, warum Antifaschismus ein Verbrechen sein soll, das härter bestraft wird als Faschismus, und warum Anti-Anti-Faschismus als ehrenwerte Haltung gilt, für die man sich landesweit feiert, während ihr schönes Leipzig vor die Hunde geht.