Brecht und keine Zukunft
Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches
Die Wolga, lese ich, zu bezwingen
Wird keine leichte Aufgabe sein. Sie wird
Ihre Töchter zu Hilfe rufen, die Oka, Kama, Unsha,
Wetluga
Und ihre Enkelinnen, die Tschussowaja, die Wjatka.
Alle ihre Kräfte wird sie sammeln, mit den Wassern aus
7000 Nebenflüssen
Wird sie sich zornerfüllt auf den Stalingrader Staudamm
stürzen.
Dieses erfinderische Genie, mit dem teuflischen Spürsinn
Des Griechen Odysseus, wird alle Erdspalten ausnützen
Rechts ausbiegen, links vorbeigehn, unterm Boden
Sich verkriechen – aber, lese ich, die Sowjetmenschen
Die sie lieben, die sie besingen, haben sie
Neuerdings studiert und werden sie
Noch vor dem Jahre 1958
Bezwingen.
Und die schwarzen Gefilde der Kaspischen Niederung
Die dürren, die Stiefkinder
Werden es ihnen mit Brot vergüten.
Bertolt Brecht. GBA Band 12, Gedichte 2, S. 308f
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„Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im [einund]zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“
Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Band 1-2. „Über den Begriff der Geschichte VIII“. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 1980. S. 697
„Es gab keine Zukunft, aber nicht so wie erwartet.”
Mark Fisher. K-punk: Ausgewählte Schriften 2004-2016. Aus dem Englischen von Robert Zwarg. TIAMAT. Berlin 2020. S. 513
Et kütt wie et kütt, weiß der Rheinländer und beglaubigt damit den unweigerlichen Fluss der Zeit sowie dessen grundsätzliche Autonomie vom menschlichen Handeln. Die Zukunft steht uns unweigerlich bevor, und sie bedarf keines Eingriffs, um stattzufinden. Erträglich wird diese Ohnmacht durch einen bedingungslosen Optimismus. Denn dort, wo ich aufwuchs, weiß man seit jeher: Et hätt noch immer jot jejange.
Mit diesen rheinischen Weisheiten steht man heute einerseits achselzuckend vor den drängenden Problemen unserer Zeit, andererseits aber auch knietief in einer marxistischen Grundsatzdiskussion: Ist der Lauf der Geschichte vorgezeichnet, Exekutierung einer Weltformel, also Naturgesetz, oder menschengemacht? Der Dialektiker antwortet: beides. Der weise Me-Ti in Brechts Buch der Wendungen erklärt: Es reiche eben nicht, bloß auf die Vergänglichkeit aller Dinge hinzuweisen. Man müsse auch darüber sprechen, „wie gewisse Dinge zum Vergehen gebracht werden können”.
Als am 6. Juni 2023 mutmaßlich das russische Militär den Kachowka-Staudamm sprengte, um die ukrainischen Streitkräfte an der Überquerung des Flusses Dnipro zu hindern, wurden über 20.000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche überschwemmt. Die Ernte eines ganzen Jahres wurde zerstört und fruchtbarer Ackerboden weggeschwemmt. Mindestens 150 Tonnen Maschinenöl gelangten in den Wasserkreislauf und verpesteten die gesamte Region bis zum Schwarzen Meer. Auf der einstigen Agrarfläche befürchtet man heute eine Wüstenbildung.
Der Kachowka-Staudamm wurde Mitte der 1950er Jahre fertiggestellt. Er galt, wie sein späteres Stalingrader Pendant, als technologisches Wunderwerk. Ein Monumentalbau, der dem Hunger Einhalt gebieten sollte: ein Symbol für den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt der Sowjetunion und die Überlegenheit des Sozialismus, ein Prelude zum „Großen Stalinschen Plan zur Umgestaltung der Natur”. Mit Brecht könnte man sagen: Auch den Dnipro haben die Sowjetmenschen, wie die Wolga, geliebt, besungen, studiert und bezwungen. Doch was bleibt vom sozialistischen Fortschritt, jetzt, wo das einst fruchtbar gemachte Land zur Wüste zu veröden droht?
Ich bin kein Brechtianer, der den Namensgeber dieses Festivals vom Vorwurf des Stalinismus-Apologeten freisprechen muss. Für mein Anliegen, sein Erbe und seine Fragen für die Jetztzeit urbar zu machen, brauche ich ihn nicht als Helden mit weißer Weste. Ich kann mit seinen Ambivalenzen und Widersprüchen, seiner Feigheit, seinem Opportunismus und seinen blinden Flecken gut leben. Denn nicht zum Denkmal taugt er, sondern zum Werkzeug.
Wir müssen die im Gedicht links formulierte Metapher von Stalin als Fortschritt kritisieren. Wir müssen fragen: Was ist mit der Gewalt, dem Terror und den Säuberungen? Was ist mit dem Gulag? Was war mit Carola Neher und den Millionen anderen Opfern? Welchen Preis hat dieser „Fortschritt” für die Menschen?
Für Brechts Freund Walter Benjamin war jener Rest, der nicht im Narrativ des Fortschritts aufgeht, nicht Krise, sondern Regelfall. Für ihn waren Stalin und Hitler und wären „Klima” und „Corona” keine Unterbrechungen auf dem Weg in die erlösende Zukunft, sondern Teil jenes Trümmerhaufens, auf den der Engel der Geschichte seit jeher blickt, während sich der Sturm des Fortschritts in seinen Flügeln verfängt und ihn vom Paradies in Richtung Zukunft weht. Die Rede vom „Fortschritt” war für Benjamin Ideologie: eine Verschleierung der Gewalt.
„Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist,” schrieb er. Daraus leitet sich ganz konkret ab: Wer sich der Gewalt stellt und „Augsburg” nicht bloß als ideologische Chiffre versteht, setzt sich mit den Menschen in Lechhausen, Oberhausen, Bärenkeller und anderswo auseinander. Und für wen das Theater mehr ist als Ideologie, dem wird die Beschäftigung mit den theatralen Formen besagter Menschen zur Aufgabe. Denn das Leben auf dem Trümmerhaufen der Geschichte, egal ob in Moskau, Istanbul, Addis Abeba oder Augsburg-Oberhausen ist nicht ohne Hoffnung, Liebe, Humor oder Gemeinschaft. Es verschließt nur nicht die Augen vor den Verwerfungen der Welt und misstraut jeder Rede von der Zukunft.
Der Bullshit-Radar der Menschen aus Oberhausen und anderswo ist heute wichtiger denn je, denn die Zukunft ist wieder in aller Munde. Je nach politischer Façon sagt man zu ihr „Servus”, will sie sich zurückholen oder investiert gleich aus Angst vor ihr in Sachwerte wie Immobilien und Gold. Egal, ob Krieg oder Frieden, Wärmepumpe oder Gasheizung, Verbrenner-Motor oder Lithium-Batterie, Deindustrialisierung oder Wachstum, Fachkräftemangel oder „großer Austausch”: Die Zukunft ist Schauplatz eines Kulturkampfes geworden. Jedoch verschleiert dieser das eigentliche Novum unserer Zeit: ihr gänzliches Verschwinden.
Für den Brechtianer und Vorreiter der Beschäftigung mit Science Fiction Darko Suvin war das Zukunftsszenario noch ein Möglichkeitsraum, ein literarisches Mittel der SF, um der Menschheit zu erlauben, die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu überwintern. Für Suvin knüpfte es an die jahrhundertealte Gattung des Reiseberichts über ferne Inseln und Täler an. Es sei eine Art terra incognita, mal dystopisch, mal utopisch, aber immer eine Erweiterung der Möglichkeiten der Gegenwart.
Der erwähnte Kulturkampf um die Zukunft mutet über weite Strecken wie eine Demokratisierung der von Suvin erforschten literarischen Praxis an: Dystopien und Utopien begegnen uns auf allen Kanälen. Die Öffentlichkeit zerfällt in Filterblasen. Die Deutung der Gegenwart verästelt sich in ein Multiversum alternativer Realitäten. Was ist noch wahr? Welchem Kanal kann man glauben? Der Dialektiker Brecht und der Fortschrittskritiker Benjamin lehren uns, diesem Frühling falscher Möglichkeiten zu misstrauen, denn es gibt keine Zukunft mehr. Wir haben sie längst geschrieben.
Als das Bundesverfassungsgericht am 24. März 2021 in seinem „Klimaschutzbeschluss“ die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte als „intertemporale Freiheitssicherung” begriff, goss es in Recht, was naturwissenschaftliche Erkenntnisse seit Langem zu sagen versuchen. Vor uns liegt keine terra incognita, keine neue Welt und keine Indianer, sondern die bitteren Konsequenzen unseres Handelns in der Gegenwart.
Durch den Beschluss des ersten Senats weht ein Hauch von historischem Materialismus. Denn die „Freiheitssicherung“ wird hier nicht als abstrakte überzeitliche Idee konstruiert, sondern als Verteilungsfrage zwischen den Zeitperioden. Es sei die Aufgabe des Staates, dafür Sorge zu tragen, dass sich die durch den Klimakollaps drohenden Freiheitseinschränkungen gleichmäßig über die Zeiten verteilen und kein zukünftiges Volk zu einer „Vollbremsung“, wie die Beschwerdeführer*innen schreiben, gezwungen werde.
Die Idee einer intertemporalen Gerechtigkeit trägt den Erkenntnissen aus Klimaforschung und Geologie (Stichwort: Anthropozän) Rechnung, indem sie einerseits den Planeten Erde als endliche Ressource und andererseits als untrennbar vom Menschen begreift. Das Gericht hat damit auf juristischem Wege zwei Außenräume unserer Imagination kolonisiert und in die „verwaltete Welt“ integriert. Aus Natur wird Kultur und aus der Zukunft ein Vorhof der Gegenwart. Die naiven eskapistischen Vorstellungen von Dschungel, Prärie und Kosmos, von Erlösung, Innovation und Befreiung werden ersetzt durch die Administration der sich auftürmenden Katastrophe. Was bleibt, ist das Hier und Jetzt.
Julian Warner ist künstlerischer Leiter des Brechtfestival Augsburg.