Anfangsgründe der Fußballbetrachtung (Archiv)

Dieser Text war nur bis zum 14.7. 2014 gratis online zu lesen. Den vollständigen, im Juni 1990 im Merkur erschienenen Artikel finden Sie kostenpflichtig (für 2 Euro) im Merkur-Volltextarchiv.

Von Martin Seel

Anfangsgründe – Prinzipien – benennen den Grund, auf dem etwas beruht und liefern die Gründe, sich ihm zu widmen. Ihre Darlegung deckt das Sein einer Sache auf und gibt an, was mit ihr anzufangen ist. Ist das Fußballspiel die Sache und seine Betrachtung das fragliche Tun, scheint es keines langen Nachdenkens zu bedürfen. Der Sinn der Sache scheint der, daß eine von zwei Mannschaften gewinnt (oder wenigstens ein Unentschieden rettet), der Sinn ihrer Wahrnehmung, zu sehen, welche das ist. Das ist wahr, nur ist es bei weitem nicht wahr genug. Ein fundierter Enthusiasmus für das Ballgeschehen wird nach dem Sein des Seienden fragen, das im Geviert der Eckfahnen sein Unwesen treibt. Wie Platon wußte, ist nur das ein echter Zeitvertreib, dem aus Leidenschaft für die Wahrheit seiner Leidenschaft nachgegangen wird. Nur wer diese Wahrheit kennt, hat zwingende Gründe, vom 8. Juni bis zum 8. Juli gegenüber der Mitwelt auf das Anschauen der 52 Spiele der Fußballweltmeisterschaft zu pochen. Eine bündige Deduktion des logischen Aufbaus der Welt dieses Spiels liefert somit auch eine Gebrauchsanweisung für das nächstliegende Leben – und außerdem das selten gewordene Beispiel einer Wissenschaft, die von letztbegründeten Grundsätzen schnurstracks zur Vorhersage des Kommenden gelangt. Im Geiste Alfred Jarrys darf sie getrost eine pataphysische heißen.

Der Ball

Alles Große ist einfach, manchmal geradezu simpel. »Der Ball ist rund.« Mit dieser tautologischen Grundfeststellung des Sepp Herberger ist eigentlich alles gesagt. Der Satz zitiert die große Tradition der abendländischen Metaphysik noch einmal herbei und läßt sie mit einem unmerklichen Schritt imAbseits stehen. Der Ball ist das Runde Ganze, Ruhende, Aufgeblasene – und doch das Ding, das, sobald ein Anstoß erfolgt, ständig auf Abwegen ist. Der Ball ist das ewig verspringende Eine, das schlechthin abwegige Ding. Wir spielen und sehen Fußball, um dem Dingen des abwegigen Dinges beiwohnen zu können. Die Wahrnehmung eines Fußballspiels gilt nicht dem Guten, Wahren und Schönen in seiner letztendlichen Identität, sie gilt der Seinsart des Abwegigen in seiner jederzeitigen Ubiquität. Sobald der Ball nach den Regeln der FIFA freigegeben ist, beginnen die modernen Mysterien der Kontingenz.

Gewiß, es gibt andere Ballsportarten. Fußball ist jedoch die freieste von allen. Nur hier ist der Ball – ein wirklich runder Ball – vollkommen in den abwegigen Kontakt mit dem Leib der Spieler entlassen. Er wird hier weder mit Stöcken geschlagen noch mit Klopfern traktiert noch von einer Bande gegängelt. Nur hier kann er vom Fuß behandelt und vom Kopf gestoßen, mit der Hand eingeworfen (bzw. vom Tormann gefangen) und mit allen sonstigen Gliedmaßen abgefälscht werden. Nur hier zeigt der Ball jedem Versuch, ihn zu fassen, sein letztlich unhaltbares Wesen. Nur diese Welt ist alles, was der Ball ist.

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