Feministische Philosophie

Die feministische Philosophie gehört zu den spannendsten und innovativsten Strömungen der gegenwärtigen Philosophie. Sie nutzt die begrifflichen und methodischen Mittel der Philosophie und wendet sie unmittelbar auf Fragestellungen an, die zumeist einen eminent politischen Charakter haben. Sie verletzt dabei selbstbewusst überkommene Unterscheidungen – etwa die zwischen praktischer und theoretischer Philosophie – und veranschaulicht ihre Überlegungen selten an bloß ausgedachten Fällen oder unter Zuhilfenahme kontrafaktischer Situationsbeschreibungen.

(Dieser Text ist im Februarheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Die Fälle, die sie heranzieht, um ein Argument zu erhärten, sind in der Regel reale Fälle, die Beispiele, die sie anführt, stammen häufig aus dem eigenen akademischen und nichtakademischen Alltag. Feministische Philosophie nimmt Stellung, sie versteckt sich nicht hinter Modellen philosophischer Objektivität, sie ist, wie man früher in Frankfurt sagte, offen interessegeleitet. Sie sieht sich als Teil der feministischen Bewegung im Ganzen und verwechselt sich keinesfalls mit dieser. »Feminismus«, so Amia Srinivasan, »ist keine Philosophie, keine Theorie, ja, nicht einmal eine Anschauung. Er ist vielmehr eine politische Bewegung, die die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändern soll.« [1. Amia Srinivasan, Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Anne Emmert u. Claudia Arlinghaus. Stuttgart: Klett-Cotta 2022.]

Interessanterweise provoziert aber gerade diese klare Anbindung an eine soziale Bewegung Stellungnahmen, die die feministische Philosophie als Philosophie infrage stellen. Das zeigt sich zum einen an manchen außerakademischen Reaktionen auf Beiträge der feministischen Philosophie, zum anderen aber auch an Debatten, die innerhalb der feministischen Philosophie selbst geführt werden. Was den ersten Punkt angeht, konnte man beispielsweise erstaunt zur Kenntnis nehmen, wie vernichtend manche Rezension zu Kate Mannes Erfolgsbuch Down Girl: Die Logik der Misogynie in deutschsprachigen Zeitungen ausfiel und dass es gerade der philosophische Charakter des Buches war, der dabei negativ markiert wurde.

Diba Shokri etwa hielt dem Buch seine unhistorischen, bloß spekulativen Abstraktionen vor, ausgerechnet Svenja Flaßpöhler attestierte ihm »grandiose« Unterkomplexität, es bewege sich in einem »akademischen Kokon« und verfehle zentrale Aspekte weiblicher Wirklichkeit. Ähnlich Kerstin Maria Pahl, auch sie warf Manne vor, oberflächlich, unhistorisch und kontextlos zu argumentieren. Shokri schließlich lancierte noch einen besonders schweren Vorwurf, indem sie Manne vorwarf, die Binarität der Geschlechter zu zementieren, gegen die sie doch ankämpfe. [1. Diba Shokri, Welche Wörter braucht der Feminismus? In: FAS vom 17. März 2019; Svenja Flaßpöhler, Opfer sind kein Theoriespielzeug. In: Zeit vom 7. März 2019; Kerstin Maria Pahl, Das Patriarchat als Allerweltsformel. In: FAZ vom 28. Mai 2019.]

Aber auch innerhalb der feministischen Philosophie selbst gibt es Debatten, die den Status des eigenen Tuns befragen. So warf Sally Haslanger vom Massachusetts Institute of Technology der bereits zitierten Amia Srinivasan in einer durchaus fairen und ausgewogenen Rezension ihres vielbeachteten Buches Das Recht auf Sex: Feminismus im 21 Jahrhundert vor, nicht wirklich zu verstehen, wie Gesellschaft funktioniere, und deswegen naive Vorschläge zur Verbesserung der Situation für Frauen zu machen. [1. Sally Haslanger, Feminism and the Question of Theory. In: The Raven, Fall 2021 (ravenmagazine.org/magazine/feminist-critical-consciousness-and-the-question-of-theory/).] Gute Gesellschaftskritik brauche eine gute Sozialtheorie, eine solche fehle aber in Das Recht auf Sex. Srinivasan, ihrerseits Professorin für Philosophie an der University of Oxford, nutzte die Gelegenheit eines Interviews prompt und bestritt die Notwendigkeit, feministisch inspirierte politische Anliegen einzig im Lichte umfassender Theorieannahmen artikulieren zu können. [1. What should feminist theory be? An interview with Amia Srinivasan. In: Radical Philosophy, Nr. 2/12, Spring 2022.] Haslangers Lektüre ihres Buches, so Srinivasan, offenbare ein extrem beschränktes Verständnis dessen, was feministische Theorie sein könne und sei zu weit entfernt von der tatsächlichen Geschichte feministischer Praxis.

Misogynie: Ein hilfreicher Begriff?

Worum geht es in diesen inner- und außerakademischen Debatten? Offensichtlich lastet auf der feministischen Philosophie ein größerer Druck mit Blick auf ihren Theoriecharakter, als das bei weniger praxisnahen Feldern der Philosophie der Fall ist. Kate Mannes Down Girl mag helfen, diesen Punkt genauer zu untersuchen. Manne arbeitet nach eigenem Bekunden in der »Tradition der analytischen feministischen Philosophie«, was unter anderem bedeutet, dass Begriffsfragen für ihren Ansatz eine erhebliche Rolle spielen. Man nehme nur den Titelbegriff des Buchs, Misogynie. Manne setzt keineswegs voraus, dass er sich von selbst verstünde und tut viel, um ihn vom landläufigeren Begriff »Sexismus« abzugrenzen.

Was ist Misogynie? Misogynie ist das »Exekutivorgan« einer patriarchalischen Ordnung, »das die allgemeine Funktion hat, dessen herrschende Ideologie zu kontrollieren und durchzusetzen«. [1. Kate Manne, Down Girl. Die Logik der Misogynie. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2019.] Obwohl Misogynie also mit Frauenfeindlichkeit zu tun hat, bezieht sie ihre frauenfeindlichen Energien aus dem überkommenen Reservoir patriarchalischer Denkmuster und kümmert sich darum, die mit diesen Denkmustern verbundenen Rollenzuschreibungen zu implementieren und praktisch wirksam werden zu lassen. Sexismus wiederum dient als »Rechtfertigungsorgan« der patriarchalischen Ordnung, er liefert die Begründungen für die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Sexismus, so heißt es einmal, »trägt einen Laborkittel, während Misogynie auf Hexenjagd geht«.

Nimmt man die Metapher der Gewaltenteilung ernst, auf die Manne anspielt, wird schnell deutlich, dass Misogynie ihrer Einschätzung nach besonders dann relevant wird, wenn Frauen sich gegen patriarchalische Strukturen wehren oder aus ihnen ausbrechen, wenn sie aufmüpfig, selbstbewusst oder fordernd werden, wenn sie nicht länger nur die gebende Rolle einnehmen wollen, beruflich Erfolg haben oder das »Nein« für sich entdecken. Misogyne Strukturen herrschen da, wo Frauen für den Rollenbruch bestraft werden, wo sie getötet, vergewaltigt, diffamiert, beleidigt oder entlassen werden. Sie herrscht aber umgekehrt natürlich auch da, wo sie für rollenkonformes Verhalten gelobt, geliebt oder befördert werden.

Misogynie, das ist enorm wichtig für Mannes Buch, ist wesentlich ein reaktives und reaktionäres Phänomen. Wenn die Rezensentinnen monieren, die Frauen hätten doch beträchtliche Fortschritte mit Blick auf Gleichberechtigung und Gleichstellung erzielt, und Manne ein viel zu düsteres und einseitiges Bild der Gegenwart vorwerfen, übersehen sie, dass diese Fortschritt und Regression zusammendenkt. Fortschritt und Ressentiment sind vereinbar, Frauen können auf Abneigung stoßen, »eben weil sie in manchen Bereichen rasche gesellschaftliche Fortschritte erzielen«.

In diesem Sinne ist es auch wenig hilfreich, dem Buch historische Unkenntnis vorzuwerfen. Zum einen würde dieser Vorwurf so gut wie jedes analytisch orientierte philosophische Werk treffen; zum anderen wäre mit dem Einwand, auch vergangene Gesellschaften seien doch immer schon patriarchalisch und sexistisch gewesen, nicht viel gewonnen. Natürlich ist das Phänomen nicht neu. Aber Manne interessiert sich für die Gegenwart, sie interessiert sich für die Trumps und Bolsonaros, für die Orbáns und Höckes, für die nicht enden wollenden Femizide, die erstarkenden Anti-Abtreibungsbewegungen und, ja, auch für Hillary Clinton und die Fülle an Diffamierungen, die sie zu erdulden hatte.

»Bern the witch« – das galt als Motto unter manchen Anhängern von Bernie Sanders. Dieses Phänomen der Frauenverachtung ist neu, denn es reagiert auf die erzielten Erfolge der Frauenbewegung und wäre missverstanden als bloße Fortsetzung des Alten. Die misogyne Exekutive sieht sich gleichsam genötigt, einzugreifen, wo sie vorher ruhig und gelassen bleiben konnte, weil an den patriarchalen Strukturen nicht umfassend gerüttelt wurde. Die brutale Reaktion des Regimes im Iran auf die Forderungen der Frauen (und längst auch vieler Männer) – das ist Misogynie im Sinne Mannes.

Mit diesen Überlegungen ist das philosophische Gewicht des Buches aber immer noch nicht angemessen erfasst. Weil sie sich darüber im Klaren ist, dass Misogynie als Begriff für strukturelle Formen der Bestrafung weiblicher Unbotmäßigkeit schwer eingängig ist, versteht sie ihren eigenen Entwurf von Anfang an als »Vorschlag«, und zwar einen »ameliorativen«. Untersuchen wir Begriffe in »ameliorativer« Perspektive, fragen wir nicht einfach, wie diese Begriffe tatsächlich verwendet werden, und buchstabieren auch nicht nur unser intuitives Vorverständnis des Begriffs aus; wir fragen vielmehr, wozu er dienen, welchen Nutzen er uns bringen kann, in gewisser Weise erfinden wir den Begriff oder verbessern ihn, um zu schauen, ob er bestimmte Phänomene unserer Lebens auf interessante Weise entschlüsselt. Manne folgt hier dem Ansatz Sally Haslangers, und ohne diesen begriffstheoretischen Hintergrund bleiben wichtige Pointen des Buches unverständlich. [1. Sally Haslanger, Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik. Hrsg. und mit einem Nachwort von Daniel James. Berlin: Suhrkamp 2021.]

Wenn Manne etwa ausführlich auf die so genannten Isla-Vista-Morde eingeht, sieht sie klar die Gefahr, dass sie das Phänomen, das sie beschreiben möchte, durch Einzelfallbeschreibungen für Psychologisierungen öffnet und damit die Einsicht in den strukturellen Charakter der Misogynie aufs Spiel setzt. Beim Amoklauf von Isla Vista in Kalifornien (2014) tötete der zweiundzwanzigjährige Elliot Rodger zunächst drei Männer in seiner Wohnung und fuhr dann mit seinem Auto zu dem Haus einer Studentinnenverbindung an die University of California in Santa Barbara. Wie ein von ihm ins Netz gestelltes Pamphlet deutlich machte, waren die Frauen sein eigentliches Ziel, ihnen galt sein »Tag der Abrechnung«, denn Frauen hatten ihn, in seinen Augen, nicht genug begehrt und sich stattdessen anderen Männern zugewandt. Er konnte glücklicherweise nicht in das Haus eindringen und tötete wahllos zwei Frauen, die sich zufällig in der Nähe aufhielten, eine dritte wurde verletzt. Im Anschluss tötete und verletzte er weitere Menschen, bevor er sich das Leben nahm.

Für manche stehen die Morde Rodgers für umfassenden Frauenhass und manifestieren damit Misogynie, andere widersprechen dieser Deutung. Hatte er nicht auch Männer ermordet? Wie konnte er Frauen hassen, wenn er doch zugleich ihre Liebe suchte? Hatte er nicht ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter? Dieser Deutung nach ist Rodger schlicht ein psychotischer Massenmörder, dessen »Krankheit« man nur unter Einsatz individualpsychologischer Mittel hätte diagnostizieren können.

Für Manne besteht das große Problem dieser individualisierenden Deutung darin, dass sie die »treffende Benennung eines potenziell wirkmächtigen Problems« erschwert. Die mit Misogynie einhergehende genderbasierte Unterdrückung haftet an gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen und wird immer dann virulent, wenn patriarchale Normen verletzt werden. Einzeltaten stehen deswegen immer für mehr, auch Rodger wollte seiner eigenen Erklärung nach einige Frauen töten, um sich durch sie hindurch stellvertretend an allen zu rächen.

Trotzdem bleibt das Problem, wie man philosophisch strukturelle Frauenverachtung konstatiert, wenn man sich methodisch immer nur auf Einzelfälle beruft. An diesem Punkt setzt nicht nur die Kritik der Feuilletons an, auch Srinivasan wirft in dem bereits genannten Interview analytisch orientierter Philosophie vor, ihre Begriffsbildungen zu stark von oben herab zu entwickeln, ja, sie spricht gar von »begrifflicher Technokratie«, um diejenigen zu kritisieren, die meinen, man könne, im philosophischen Sessel sitzend, unsere Alltagssprache verbessern.

Zur Frage struktureller Benachteiligung

Im Hintergrund der Kontroverse über Begriffsbildungen ist damit ein zweites Thema aufgetaucht, das sowohl innerhalb als auch außerhalb der feministischen Philosophie umstritten ist. Es geht um die Frage nach der Existenz struktureller Benachteiligung. Auch wenn man feststellen kann, dass die akademische feministische Philosophie recht geschlossen argumentiert und die Existenz des Phänomens nicht bezweifelt, möchte wiederum Srinivasan gewisse Differenzierungen in die Debatte einführen, um allzu einseitige Theoriepositionen zu brechen.

Viel forscher sind manche Stimmen des populären Feminismus. Sie kämpfen nicht, wie Manne, mit dem Phänomen, sondern leugnen – mal mehr, mal weniger direkt – seine Existenz. So behauptet Svenja Flaßpöhler in ihrem umstrittenen Buch Die potente Frau, dass die #MeToo-Bewegung Frauen zu sehr als Opfer beschreibe und dadurch eine Schwäche konstruiere, die auf einer psychischen Ebene dazu führe, dass Frauen sich nicht hinreichend gegen männliche Gewalt zur Wehr setzen würden. »Hören wir also auf, die männliche Macht zu stützen, indem wir uns schwächer machen, als wir sind«, so lautet das Schlussplädoyer ihrer Polemik. [1. Svenja Flaßpöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit. Berlin: Ullstein 2018.]

Sicher, dieser Beschreibung liegt eine hochproblematische Täter-Opfer-Umkehr zugrunde, das Opfer wird zumindest mit in die Verantwortung an seinem Unglück gezogen. Auch scheint Flaßpöhler nicht in der Lage, in #MeToo einen wichtigen ersten Schritt zur Aufhebung des Opferstatus zu sehen, als wäre die Artikulation von bislang verschwiegenen Gewalterfahrungen nicht absolut zentral für die Schaffung gesellschaftlicher Differenzerfahrungen, die im besten Fall kollektiv etablierte Selbstverständnisse aufbrechen.

Wichtiger aber, der krude Individualismus des »Höre auf, dich permanent als Opfer zu sehen« übersieht völlig die vielfältigen und komplexen strukturellen Voraussetzungen individueller Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen. Der gelegentlich geäußerte Appell, es mit ein wenig mehr Resilienz zu versuchen (die Erfolgsgeschichte dieses neoliberalen Kampfbegriffs ist noch zu schreiben), bleibt hohl und zynisch, wenn diese Faktoren nicht berücksichtigt werden.

Wie wichtig die Frage struktureller Benachteiligung ist und wie ernst das Thema in der feministischen Philosophie genommen wird, zeigt sich an einem schönen Aufsatz von Sally Haslanger: Was ist eine (sozial-)strukturelle Erklärung? [1. Der Aufsatz ist in Haslangers Band Der Wirklichkeit widerstehen enthalten.]  Haslanger stellt sich ein Paar vor, Larry und Lisa. Lange führen sie eine gleichberechtigte Beziehung. Doch dann bekommen sie ein Kind, Lulu, und Lisa kündigt ihren Job. Will man diese Entscheidung erklären, könnte man ganz individualistisch vorgehen: Lisa glaubt, es sei das Beste für ihre Familie, den Job zu kündigen und bei ihrem Kind zu bleiben.

Aber mit dieser Erklärung übersieht man viele Faktoren, die in Lisas Entscheidung hineinspielen. So verdient Larry mehr als Lisa, und es erscheint ihm deswegen sinnvoll, seinen Job nicht zu kündigen. Ohne diese Entscheidung macht Lisas Entscheidung keinen Sinn. Hätten nicht beide kündigen können? In der Welt, in der wir leben und in der Kindergartenplätze rar oder teuer sind, ist das keine echte Option. Wir leben nicht einfach als isolierte Monaden, wir sind situierte Akteure: »Als Individuum hätte Lisa sich anders verhalten können – sie hätte Larry und Lulu verlassen können –, aber als Mutter /Ehefrau in diesem System war das keine Option.«

Natürlich hätte Lisa auf eine Beziehung oder ein Kind verzichten können, auch hätte sie gegen die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern angehen können, aber was immer sie hätte tun können, sie wäre immer Teil von vielfältig verflochtenen Beziehungen gewesen, die auf die eine oder andere Weise ihr Verhalten beeinflusst hätten. Diese Überlegungen leugnen nicht agency, sie kontextualisieren sie und machen sie erst verständlich in ihrer je spezifischen Gestalt. Die Illusion, die damit gebrochen wird, ist die Illusion der ganz und gar freien individualistischen Handlungsmacht, die von manchen populären Feministinnen gelegentlich arglos gefeiert wird.

Srinivasan nun rechnet in Das Recht auf Sex auf ihre Art durchaus mit dem Faktor struktureller Benachteiligung, aber sie weigert sich, die Handlungsmacht des Individuums im Strukturellen zu versenken. Vielleicht ist das auch ein Grund, weswegen ihr Buch ungleich positiver rezensiert wurde als Mannes düstere Diagnose der Gegenwart. Grundsätzlich wirkt Das Recht auf Sex lebensnäher. Hier einige Kapiteltitel: »Die Verschwörung gegen Männer«, »Gespräche mit Studierenden über Pornografie«, »Das Recht auf Sex«, »Warum man nicht mit seinen Studierenden schlafen sollte«.

Der titelgebende Essay »Das Recht auf Sex« bezieht sich interessanterweise ebenfalls auf die Taten Elliot Rodgers, nimmt aber eine ganz andere Wendung als bei Manne. Srinivasan fragt nicht so sehr, ob Rodgers Morde misogynen Charakter hatten, sie fragt vielmehr nach der Struktur seines Begehrens. Von wem wollte Rodger begehrt werden? Warum glaubte er, sexuell entitled zu sein, also das Recht auf Sex mit Frauen zu haben, die seiner Vorstellung von Attraktivität entsprachen?

Es geht Srinivasan, mit anderen Worten, darum, sexuelle Vorlieben einer »politischen Prüfung« zu unterziehen und nicht so zu tun, als sei unser sexuelles Begehren eine natürliche, nicht weiter erklärbare Tatsache. Die Fragestellung ist riskant, denn für Srinivasan besteht kein Zweifel daran, dass manche Menschen »ungerechtfertigterweise sexuell marginalisiert oder ausgegrenzt werden«. Ihre Körper gelten als sexuell unattraktiv, sie haben die falsche Hautfarbe, sind zu arm, körperlich eingeschränkt oder passen nicht in heteronormative Muster geschlechtlicher Anziehung. Nein, ein Recht auf Sex gibt es nicht, aber es müsse doch der Versuch unternommen werden, Sexualität von gesellschaftlichen Prägungen und Einflüssen zu befreien. Diese Befreiung, darin liegt eine der Pointen Srinivasans, muss an strukturellen Problemen ansetzen (Rassismus, Klassismus, Ableismus, Heteronormativität), aber »die Erkenntnis, dass ein Problem strukturell ist, entbindet uns nicht von der Aufgabe, darüber nachzudenken, wie wir als Individuen darin verwickelt sind oder was wir dagegen unternehmen sollten«.

Diese Mischung aus lebensnahen Beispielen, einer Sensibilität für strukturelle Einflüsse auf individuelles Handeln bei gleichzeitiger Einsicht in die Tatsache, dass Strukturen sich erst ändern, wenn Individuen sich ändern, machen Srinivasans Variante der feministischen Philosophie zugänglicher als Mannes und Haslangers eher systematisch orientierte Studien. Tatsächlich legt Srinivasan an manchen Punkten nahe, dass starre Theoriepositionen generell wichtigen feministischen Anliegen hinderlich sind.

Wird etwa im Zuge der #MeToo-Bewegung gefordert, man möge Frauen, die den Vorwurf sexueller Belästigung erheben, zunächst Glauben schenken (»Believe women«-Politik), dann bringt Srinivasan für diese Haltung zwar Verständnis auf, fordert aber doch deutliche Differenzierungen ein. Soll man immer einer weißen Frau Glauben schenken, die einen schwarzen Mann der Vergewaltigung bezichtigt? Neigen wir dann nicht dazu, weiße Frauen als typische Opfer schwarzer Männer zu sehen, und übersehen die schwarzen Frauen, die Opfer schwarzer Männer sind? Hypersexualisieren wir auf diese Weise nicht schwarze Männer gemäß tiefsitzenden rassistischen Stereotypen? Pauschale Forderungen danach, allen Frauen Glauben zu schenken, nur das will Srinivasan deutlich machen, verfehlen die komplexe Wirklichkeit diskriminatorischer Praktiken und helfen manchen gesellschaftlichen Gruppen mehr als anderen.

Ähnlich vorsichtig urteilt Srinivasan über Mainstream-Pornografie und Prostitution. Srinivasan leugnet nicht, dass Mainstream-Pornografie Macht hat und vor allem auf junge Leute großen Einfluss ausübt. Ihre eigenen Studenten und Studentinnen bestätigen das. Trotzdem ist sie gegen ein pauschales Verbot von Pornografie. Ja, die Masse an Pornografie ist sexistisch und bedient männliche Dominanzfantasien.

Die These aber, pornografische Dominanzdarstellungen führten direkt zu realer Dominanz, unterschreibt Srinivasan dann doch nicht: »Wie simplifizierend dieses Bild ist, macht nicht zuletzt das notorisch unregierbare Unbewusste deutlich: Wer weiß schon, was dieses aus dem macht, was unser Bewusstsein ›gut‹ oder ›schlecht‹ findet?« Prostitution schließlich sei oft von Gewalt und Zwang geprägt, nicht selten treibt ökonomische Not Frauen in die Prostitution. Srinivasan sieht das. Ein Verbot der Prostitution aber oder eine Kriminalisierung des Gewerbes würde den Frauen nicht helfen, Prostitution werde weiter existieren, mehr noch, Illegalität werde die bereits geschwächten Sexarbeiterinnen nur weiter schwächen. Pure Verbots- oder Kriminalisierungspolitik übersehe schlicht die komplexe Realität derjenigen, in deren Namen von Emanzipation und Befreiung die Rede sei.

Wie also umgehen mit all der vom männlichen Blick dominierten Pornografie und den auch von Srinivasan durchaus eingestandenen dunklen Seiten der Prostitution? Nicht verbieten, nicht kriminalisieren – so viel ist klar. Aber was dann? Srinivasan ist hier etwas einsilbig. Irgendwie müssen wir weg von der Pornografie, schon allein um einer »gestärkten erotischen Vorstellungskraft« willen, aber wie genau die Macht des pornografischen Apparats gezügelt werden soll, bleibt unklar. Da Prostitution wesentlich durch ökonomische Ungleichheit entsteht, müsse genau diese viel stärker bekämpft werden: öffentliche Finanzierung von Wohnraum, ärztliche Versorgung, Bildung, Möglichkeiten der Kinderbetreuung, anständige Jobs, garantierte Mindestlöhne, demokratische Kontrolle der Betriebe – das sind nur einige der Forderungen Srinivasans, die sich an manchen Stellen als sozialistische Feministin bezeichnet.

Allemal in den USA sind dies »harte« Forderungen, der Vorwurf, Srinivasan meide solche Forderungen, ist ungerecht. [1. So Katha Pollitt, Feminists on All Sides. In: Dissent, Nr. 69/1, Winter 2022.] Trotzdem klingt es ein wenig danach, als ob ein kompletter Systemwechsel nötig sei, um Prostitution entweder überflüssig zu machen oder in einen rechtlich und sozial geschützten Beruf zu verwandeln. Werden derartige Überlegungen den Sexarbeiterinnen mehr helfen als Forderungen nach Verboten oder Kriminalisierung?

Eine falsche Alternative

Zwei Vorwürfe wurden erwähnt, mit denen die feministische Philosophie konfrontiert ist und die sie gerade als Philosophie einer sozialen Bewegung treffen. Zum einen das Problem akademischer Abstraktheit oder Theorielastigkeit. Die böse Polemik, mit der Mannes Down Girl gestraft wurde, findet ein entferntes Echo in Srinivasans Behauptung, ein großer Teil der feministischen Philosophie sei zu weit entfernt von den realen Belangen weiblicher Praxis und Erfahrung. Doch diese Kritik ist kaum hilfreich. Solange Philosophie keine empirische Forschung wird, muss sie mit Abstraktionen, mit Modellen oder eben mit idealtypisch beschriebenen Einzelfällen arbeiten.

Charles W. Mills etwa unterscheidet deskriptive Modellierungen von idealisierenden Modellierungen. In beiden Fällen gilt: Die Modellbeschreibungen müssen abstrahieren von bestimmten Aspekten der Wirklichkeit. Aber während sich die deskriptive Modellierung auf wesentliche Elemente des beschriebenen Gegenstands konzentriert und nahe an seinen wirklichen Eigenschaften bleiben will, entwirft die idealisierende Modellierung den Gegenstand so, wie er idealerweise sein sollte. Nur die idealisierende Modellierung kann also als wirklichkeitsfern bezeichnet werden, sie will gewissermaßen auch gar keine Repräsentation von Realität liefern. [1. Charles W. Mills, »Ideal Theory« as Ideology. In: Ders., Black Rights /White Wrongs. The Critique of Racial Liberalism. Oxford University Press 2017.]

Weder Haslanger noch Manne aber wird man eine idealisierende Modellierung der von ihnen beschriebenen Phänomene vorwerfen können. Es gibt kein idealisierendes Modell für Femizide. Es gibt einzig Versuche, reale Einzelfälle als repräsentativ für Haltungen, Einstellungen und Strukturen zu skizzieren, die über sie hinausgehen. Diskussionen sind hier unausweichlich. Guter Philosophie aber gelingt an der detaillierten Durchdringung einzelner Fälle oft mehr als methodisch sauber durchgeführten empirischen Erhebungen. Sicher, ob Mannes Begriff der Misogynie sich ähnlich erfolgreich durchsetzen wird wie die Begriffe des Sexismus oder der sexuellen Belästigung, ist offen, das weiß auch Manne. Die Annahme aber, es gebe keine ernstzunehmenden backlash-Phänomene in Reaktion auf errungene Erfolge der Emanzipation ist schlicht abenteuerlich.

Ohnehin ist unklar, warum Srinivasan die Nähe zur Geschichte feministischer Praxis und einen eher analytisch-begrifflichen Zugang zum Thema starr gegeneinander stellt. Die Alternative ist falsch. In manch dürrer analytischer Begriffsakrobatik verbergen sich nicht selten harte ideologische Positionen. Der allseits verehrte Harry Frankfurt liefert fortlaufend passende Beispiele für derartige Verdeckungsstrategien. Sally Haslanger ihrerseits unternimmt immer wieder Versuche, ihre eigene akademische Praxis feministisch zu interpretieren. [1. Sally Haslanger, Changing the Ideology and Culture of Philosophy: Not by Reason (Alone). In: Hypatia, Nr. 23/2, Mai 2008.] Gleiches gilt für Kate Manne, die in einem fast schon persönlichen Essay darüber nachgedacht hat, warum es in der Philosophie so wenige korpulente Körper gibt. [1. Kate Manne, Diet Culture is Unhealthy. It’s Also Immoral. In: New York Times vom 3. Januar 2022.]

Was die andere Seite angeht, die von Srinivasan beschworene feministische Praxis, so beschreibt sie sich oft in Begriffen, die bislang Unsagbares sagbar machen. Allein die Formel »#MeToo« ruft sofort Assoziationen wach, in denen sich reale Phänomene und ihre Bewertung wirkmächtig verdichten. Praxis interpretiert sich. Natürlich dreht die analytische Philosophie viel zu oft eine Menge Locken auf einer Menge Glatzen. Aber die feministische Philosophie, die sich klug analytischer Mittel bedient, bemüht sich um eine Sprache und um Deutungen, die uns alle angehen und die im besten Fall dazu führen, bekannte (Selbst)Deutungsmuster infrage zu stellen.

Wer Zweifel daran hat, dass diese Philosophie das leisten kann, lese das fantastische Kapitel »Hass vermenschlichen« in Mannes Down Girl oder Sally Haslangers beeindruckendem Aufsatz »Aber Mama, bauchfreie Tops sind süß!« Soziales Wissen, soziale Struktur und Ideologiekritik. [1. Ebenfalls in dem Band Der Wirklichkeit widerstehen enthalten.]