Die Gedächtnislücke von Suwałki

Polnische Urlauber kochen in einem VW-Bus auf dem Parkplatz an der Grenze zu Russland einen Kaffee. Am Beginn der Lücke von Suwałki gibt es weit und breit kein Ausflugslokal. Radfahrer unterbrechen verschwitzt ihre Tour entlang der Green-Velo-Route, die durch den Osten und Norden Polens auf wenig befahrenen Straßen über Wiesen und durch Wälder führt. Eine Tafel gibt Auskunft, dass hier bis zu ihrer Unterwerfung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert baltische Stämme siedelten.

(Dieser Text ist im Januarheft 2023, Merkur # 884, erschienen.)

Im Dreiländereck zwischen Russischer Föderation, Litauen und Polen treffen drei verschiedenen Arten, Zäune zu bauen, symbolisch aufeinander. Der russische Zaun ist grün und kommt ohne Stacheldraht aus, denn eine Videokamera überträgt die Aufnahmen von Ausflugstouristen in die nahe Grenzstation. Ein übergroßes Schild erinnert daran, dass hier wirklich die russische Staatsgrenze liegt und Übertritte umgehend geahndet werden. Auf litauischer Seite steht ein Zaun aus Weißmetall. Er markiert das schmalste Dreieck mit Stacheldraht, obwohl zwischen Polen und Litauen fast durchgehend eine grüne Grenze ohne Schutzanlagen verläuft. Auf polnischer Seite hat die Verwaltung des Kreises Suwałki mit Mitteln der Europäischen Union den 300 Meter langen Fußweg vom Parkplatz zum Dreiländereck als Lernpfad gestaltet.

Am Wegesrand ragen übergroße gelbe Metallbügel aus dem Boden. Die Krönung des Landschaftsensembles mit Zaun bildet eine rundgeschliffene Granitstele, auf der »Rzeczpospolita« steht, um daran zu erinnern, dass südlich der Grenze wirklich Polen liegt. In einer Konferenz rangen Vertreter der anliegenden Kreise um den genauen Standpunkt, verschoben die Markierung des Dreiländerecks um einige Zentimeter und einigten sich darauf, den mühsam errungenen Kompromiss nach dem nahen See zu benennen: Wisztyniec auf Polnisch, Vištytis auf Litauisch und Russisch. Als hier noch die östliche Grenze Ostpreußens verlief, wurde er von den Anwohnern Wistiter See genannt. Er grenzt an die Rominter Heide, die noch bis zur Frühen Neuzeit Teil der großen Wildnis Ostpreußens war.

Der Lehrpfad informiert in lakonischem Tonfall darüber, dass hier das Kaliningrader Gebiet beginnt, weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg begann. Die Autoren teilen nicht mit, dass sich der deutsche Überfall im September 1939 in ähnlicher Weise gegen die Existenz des polnischen Staats und der polnischen Nation richtete wie heute der russische Staat mit Waffengewalt das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Die Lücke von Suwałki an der polnisch-litauischen Grenze gilt als das am schwierigsten zu verteidigende Territorium aller NATO-Mitgliedsstaaten im Fall einer erneuten Ausweitung der Kampfzone. Litauen warnte schon 2014, dass eine russische Aggression nicht in Luhansk und Donezk enden würde.

Am westlichen Beginn der Suwałki-Lücke ist die einfache historische Logik mit Händen zu greifen: Hätte das Deutsche Reich keinen Vernichtungskrieg begonnen, läge heute mit großer Wahrscheinlichkeit jenseits des Wistiter Sees noch immer das ostpreußische Dorf Wenzlowischken und nicht die russische Siedlung Wosnessenskoje. Die grenzüberschreitende Kooperation zwischen Vertretern des Kaliningrader Gebiets und den angrenzenden Bezirken hatte in einer anderen Zeitrechnung stattgefunden.

Historisches Grenzgebiet

Ein Ehepaar aus Wilna ist auf dem Weg zum Urlaub in Masuren. Nach der Besichtigung der Granitstele sagt Irena: »Für Litauen ist die Lücke ganz real. Alle Nachrichten beginnen mit dem Krieg in der Ukraine. Erst dann folgt die angespannte ökonomische Situation.« Für Litauer sei es aber dennoch interessant, jenseits der Grenze unterwegs zu sein, denn die Lücke von Suwałki ist auch ein historisches Grenzgebiet, und das erschwert die Orientierung. Dutzende Dörfer im ehemals ostpreußischen Teil Polens tragen bis heute litauische Namen. Unweit von hier liegt das Dorf Lenkupe, was auf Litauisch »polnischer Fluss« bedeutet.

Wegen seiner baltischen Vergangenheit ist Suwałki auf der mentalen Landkarte Litauens ebenso wichtig wie Königsberg. Jedes Kind lernt in der Schule schon in der ersten Klasse, dass die Suvalkija eine wichtige ethnische Region Litauens ist. Sie ist bis heute nach Suwałki benannt, weil der hier gesprochene Dialekt des Litauischen auf beiden Seiten der polnisch-litauischen Grenze zu hören ist. Daran erinnern das litauische Restaurant Ruta in der polnischen Kleinstadt Puńsk und ein Konsulat im nahen Sejny, das sich um die Belange der litauischsprachigen Minderheit südlich der Grenze kümmert.

Heute dominieren jenseits des Lernpfads dort, wo bis 1991 die Grenze zwischen Sowjetunion und der Volksrepublik Polen lag, grünbewachsene, von Kornfeldern umgebene Hügel. Sie sind allein durchschnitten von den baltischen Arterien für den Gütertransport. Alle Lkw, die Waren zwischen dem Baltikum und Westeuropa transportieren, fahren durch die Lücke von Suwałki. Eine Autobahn zwischen Warschau und Kaunas ist seit Jahren im Bau. Die Vollendung des europäischen Projekts einer Via Baltica auf Schienen scheint noch weiter in der Zukunft zu liegen. Und so wirkt die E67 wie eine Autobahn, die durchgehend über Landstraßen geführt wird. Die 40-Tonner rollen im Sekundentakt in beide Richtungen durch die wellige Landschaft.

Betonpfeiler der Freiheit

Jenseits der großen Verkehrsrouten, die Polen und Litauen verbinden, scheint es immer noch wie ein Wunder, dass die Sowjetunion zunächst ohne Krieg als Imperium von der Landkarte verschwand. Auf dem Weg von Puńsk ins litauische Lazdijai stehen seit der Erweiterung des Schengen-Raums 2007 nur zwei schlichte Grenzschilder im Wald. Wenige Dutzend Meter hinter der unsichtbaren Linie liegt ein aufgegebener Stützpunkt der sowjetischen Grenztruppen. Die zugewachsenen Basketballkörbe mitten im Kiefernwald wirken im Licht der Nachmittagssonne wie die Hinterlassenschaften einer untergegangenen Zivilisation.

Um daran zu erinnern, wie wenig selbstverständlich der Fall des Eisernen Vorhangs war, ließ der Bildhauer Algis Kasparavičius hier am Wegesrand eine drei Meter hohe Betonstele aufstellen, an die von beiden Seiten ein eiserner Haken zu schlagen scheint. Die Skulptur, die mit Unterstützung des Litauischen Kulturrats errichtet wurde, soll »das Bewusstsein für die Bedeutung von Freiheit in Europa wachhalten«, wie der Begleittext erklärt. Auf der anderen Seite des Waldwegs erinnern eigens konservierte sowjetische Anlagen mit Stacheldraht an die ehemals geschlossene Grenze.

Was in Litauen unter Unfreiheit verstanden wird, kann man wenige Kilometer weiter in der Kleinstadt Lazdijai im Museum der Freiheitskämpfer mit eigenen Augen betrachten: Die Zellen des einstigen NKWD– und späteren KGB-Untersuchungsgefängnisses sind für Besucher zugänglich. Am Museum wehen demonstrativ eine litauische und eine ukrainische Flagge, denn von hier aus betrachtet bedeutet der vom KGB-Mann Putin befehligte Angriff auf die Ukraine die gewaltsame Rückkehr des sowjetischen Geheimdiensts mitsamt seiner Methoden in die Gegenwart Europas.

Rückkehr nach Krasnogruda

Nur eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt liegt südlich der Grenze inmitten von Feldern das Landgut Krasnogruda, das einst der Familie des polnischen Poeten Czesław Miłosz gehört hatte. Der Theatermacher Krzysztof Czyżewski machte es gemeinsam mit Gleichgesinnten von der Stiftung Pogranicze (Borderland) zu einem Zentrum des Dialogs. Damit verbunden ist Czyżewskis Vision von der Rückkehr von Gemeinschaften, die ein gemeinsames Gespräch auf Augenhöhe ohne die Verengung auf einzelne Gruppenidentitäten ermöglichen. Er ist überzeugt, dass Europa die Summe der kleinen Vaterländer ist, die man aus dem Polnischen von »Małe Ojczyzny« als Mehrzahl von Heimat übersetzen könnte. Auf dem rotgebeizten hölzernen Portikus ist ein Zitat des letzten Eigentümers Oskar Miłosz zu lesen: »Arm ist dran, wer auszieht ohne zurückzukehren.«

Im vergangenen Sommer sprach in Krasnogruda die ukrainische Schriftstellerin Oksana Zabuzhko mit Czyżewski, Urlaubern und Nachbarn über Europa angesichts des Krieges in der Ukraine. Hier entstand ein Teil ihres gerade veröffentlichten Buchs Die längste Buchtour. [1. Oksana Sabuschko, Die längste Buchtour. Essay. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. Graz: Droschl 2022.] Die Stiftung Pogranicze hatte im März 2022 umgehend fünf Dutzend Ukrainerinnen in ihre Obhut genommen, die vor russischen Bombardements geflohen waren. Unter dem Motto »Sustritsch – Begegnung« entstanden innerhalb weniger Wochen Ausstellungsprojekte und ein Band mit ukrainischer Poesie, die von polnischen Dichtern als Akt der Solidarität übersetzt wurde.

In Sejny hatten Krzysztof Czyżewski und seine Frau Małgorzata schon in den 1990er Jahren die Weiße Synagoge zu einem wichtigen regionalen Kulturzentrum für Litauer, Polen und Nachfahren der Überlebenden der Shoah gemacht. Im Pogranicze-Verlag erschien die polnische Übersetzung von Grigori Kanowitschs Roman über die Stadt Jonava, in deren Ortsteil Rukla heute die Bundeswehr in Litauen stationiert ist. Timothy Snyder, der mit seinem Buch Bloodlands 2010 der blutgetränkten Zone der Vernichtung zwischen Sowjetunion und Deutschem Reich einen Namen gegeben hatte, kam in den vergangenen Jahren stets im August mit der Historikerin Marci Shore und ihren amerikanischen Studierenden aus Yale nach Krasnogruda, um gemeinsam mit Studierenden aus der Ukraine Texte zu diskutieren. Dieses Mal sind viele der Teilnehmer an der Front, um mit der Waffe für den Fortbestand der Ukraine zu kämpfen.

Czyżewski hält die Lücke von Suwałki als Metapher für eine militärische Bedrohung der Region für unpassend: »Die sowjetischen Panzer, die in Kaliningrad und in Belarus stationiert sind, bieten keinen Anlass zur Sorge. Selbst Finnland und Schweden verfügen über weitaus effizientere Waffensysteme, deren Reichweite bis hierher geht. Und sie sind bald Teil der NATO«, erklärt er in Krasnogruda. So sei es entscheidend für einen Sieg gegen Putin, sich auf die eigenen Werte zu besinnen und für diese konsequent einzustehen. Er fügt hinzu: »Viele Menschen im Westen Europas können sich dank des langen Friedens nach 1945 nicht mehr vorstellen, dass das absolute Böse wirklich existiert.« Deshalb unterstützte er im Sommer 2022 auch die öffentliche Spendenaktion zum Kauf einer türkischen Kampfdrohne vom Typ Bayraktar, zu der der polnische Publizist Sławomir Sierakowski aufgerufen hatte. Gemeinsam mit der kulturellen Elite Polens und über zweihunderttausend Spendern gelang es ihnen, innerhalb von vier Wochen über 4,5 Millionen Euro zu sammeln.

Gedächtnislücke von Suwałki

Von Krasnogruda aus betrachtet ist die Lücke von Suwałki auch eine unsichtbare Linie, die verschiedene Erfahrungen von Verfolgung, Flucht und Deportation verbindet, die unterschiedliche Einwohner der historischen Landschaft innerhalb weniger Jahre gemacht haben. Juden aus dem nahen Sejny wurden Anfang November 1939 von den deutschen Besatzern hinter die Grenze nach Litauen vertrieben, wo sie in den folgenden Wintermonaten in einem Lager unter offenem Himmel ausharren mussten. Ab dem Spätsommer 1941 wurden die meisten von ihnen im besetzten Litauen Opfer des Holocaust.

Einer der wenigen Überlebenden, Benjamin Dumbelski, legte im Juni 1946 vor der Jüdischen Historischen Kommission Zeugnis von der Geschichte von Vertreibung und Mord ab. Seine Erzählung über das Lager auf offener Flur fand Eingang in das Archiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Doch ging sie bisher weder in die Geschichte der Stadt Sejny noch der Region dies- und jenseits der Grenze ein. Sie ist aber auch nicht Teil der ostpreußischen Landesgeschichte geworden, obwohl Angehörige der ostpreußischen Verwaltung, deutscher Wirtschaftsverbände, der Polizei, der SS und der Wehrmacht die deutsche Besatzung der Region nördlich und südlich der Lücke von Suwałki in zwei Schritten organisiert hatten. So spielten ab dem Herbst 1939 Gestapo-Beamte aus Tilsit eine zentrale Rolle bei der Errichtung deutscher Gewaltherrschaft in Suwałki, das in Sudauen umbenannt wurde. Im Sommer 1941 zog ein Teil der ostpreußischen Täter weiter, um die Annexion des zuvor sowjetisch besetzten Bezirks Białystok durch das Deutsche Reich abzusichern. Drei Jahre vor dem Ende Ostpreußens organisierten ostpreußische Dienststellen die Verschleppung Zehntausender Polen und Belarussen zur Zwangsarbeit auf deutschen Landgütern, in Werkstätten und Fabriken.

Auch im besetzten Litauen waren Täter aus Ostpreußen für die Planung und Ausführung deutscher Verbrechen verantwortlich. So koordinierte die Stapo-Leitstelle in Tilsit die Ermordung Tausender Juden entlang der nördlichen und östlichen Grenzen Ostpreußens. Den Massenmord an den jüdischen Einwohnern der unmittelbar an der Grenze zu Ostpreußen liegenden litauischen Ortschaft Neustadt delegierte die Leitstelle in Rücksprache mit dem Berliner Reichssicherheitshauptamt an den Grenzpolizeiposten in der deutschen Nachbarstadt Schirwindt, der vor Ort den Erschießungsbefehl gab. Ostpreußische Nationalsozialisten zerstörten jüdisches Leben in Litauen, Kleinstadt für Kleinstadt. 1942 verschwand das jüdische Neustadt. 1945 verschwand die ostpreußische Stadt Schirwindt. Sie wurde nach der weitgehenden Zerstörung im Zuge der Eroberung Ostpreußens durch die Rote Armee nach Gründung des Kaliningrader Gebiets nicht wieder aufgebaut und als Siedlung in unmittelbarer Nähe zur Grenze aufgegeben.

Die deutsche Bevölkerung des nordöstlichen Ostpreußen wurde von den nationalsozialistischen Befehlshabern bis zum letzten Moment gezwungen, vor Ort zu verharren, bevor sie ab dem Spätsommer 1944 oft zu spät vor der heranrückenden Roten Armee floh. Die Erinnerungen an die Kriegsgewalt setzen in vielen deutschen Familien aus Ostpreußen erst kurz vor der Flucht ein, obwohl die Besatzung von Suwałki, Białystok und Neustadt von Ostpreußen aus organisiert worden war und Zwangsarbeiter zum Alltag in Königsberg und Umgebung gehörten.

Auf der Suche nach Martin

Nicht nur die Geschichten der von Ostpreußen aus organisierten Verfolgung gehören zur Gedächtnislücke von Suwałki. Durch die Niederlage des Deutschen Reichs und den daraus resultierenden Verlust der Provinz Ostpreußen brachen im Zuge des beginnenden Kalten Kriegs zuvor noch bestehende Beziehungen mit Menschen in der Region östlich von Ostpreußen ab. Der 2021 aus Belarus nach Polen geflüchtete polnische Historiker Tadeusz Gawin schreibt in einem Brief an das Deutsche Historische Institut Warschau: »Bitte helfen Sie mir bei der Suche nach den Nachfahren der Familie Fabricius aus Königsberg.«

Seine Großtante Anna Barssan hatte während des Zweiten Weltkriegs bei der Familie Fabricius in Königsberg als polnisches Kindermädchen gearbeitet und einen 1939 geborenen Jungen namens Martin betreut. Barssan kam wie Gawin aus Grodno, das heute im Nordwesten der Republik Belarus unmittelbar am östlichen Ende der Lücke von Suwałki liegt. 1939 wurde die damals polnisch-jüdische Stadt zunächst von der Sowjetunion besetzt, bevor sie 1941 für drei Jahre unter deutsche Besatzung kam und Ostpreußen angegliedert wurde.

Gawin sucht bis heute nach der Familie Fabricius, weil es eine besondere Verbindung zwischen Anna und ihrem Zögling Martin gab. Damit erinnert er auch an die Verschleppung des Mannes von Anna Barssan, der in einem Lager in der Nähe von Königsberg Zwangsarbeit leisten musste. Um in seiner Nähe zu sein, fand Anna 1941 Arbeit bei der Familie von Luise und Fritz Fabricius, die am Nassen Garten 29 lebte, und betreute ihren Sohn Martin während des Krieges.

Als sich die Rote Armee näherte, sorgten sich die Eheleute Fabricius um das Leben von Martin und baten Anna, ihn mit zurück in ihre Heimatstadt Grodno zu nehmen. Seine Kinderfrau lehnte ab, weil sie fürchtete, Martin nicht retten zu können und in zusätzliche Probleme verwickelt zu werden. Gawin schreibt fast acht Jahrzehnte später: »Sie behielt Recht, denn nachdem Grodno zum Kriegsende von der Sowjetunion annektiert wurde, kam sie nach ihrer Rückkehr in die UDSSR in ein NKWD-Lager und wurde dort systematisch gedemütigt.« Auch die sowjetischen Deportationszüge, die noch kurz vor dem deutschen Überfall im Juni 1941 aus Litauen und Polen nach Osten rollten, setzten nach der erneuten Einnahme durch die Rote Armee wieder ein. Polen, die sich durch die erzwungene Westverschiebung des Staatsgebiets in der Sowjetunion wiederfanden, waren nach Kriegsende gezwungen, zu entscheiden, ob sie angesichts der einsetzenden Verfolgung vor Ort verharren oder nach Polen ausreisen sollten. Hunderttausende verließen ihre Heimat.

Noch Jahre nach ihrer Freilassung aus dem Lager hielt Anna Barssan die Erinnerung an Martin wach. Da die Menschen im Westen der Sowjetunion unter besonderer Beobachtung standen, hatte sie aber zeitlebens Angst, einen Brief nach Deutschland zu schreiben, und so fand diese Geschichte bis heute nicht den Weg zur Familie Fabricius.

Tadeusz Gawin hat 2022 zwei Wünsche: Er möchte nach dem Fall des Diktators Lukaschenko in ein freies Belarus zurückkehren, in dem die polnische Minderheit nicht unterdrückt wird. Seit März 2021 sitzt der belarussiche Journalist Andrzej Poczobut in Haft, weil er 2005 gemeinsam mit Gawin einen alternativen Bund der Polen gegründet hatte.

Die Lücke von Suwałki endet dort, wo die Dörfer beginnen, in denen die heute verfolgten Angehörigen der polnischen Minderheit in der Republik Belarus leben. Tadeusz Gawin will, dass die Botschaft seiner Tante bei der Familie Fabricius in Deutschland ankommt: »Wir möchten, dass Martin und seine Nachfahren wissen, dass Anna Barssan den kleinen Martin ihr ganzes Leben lang wie ihr eigenes Kind in ihrem Herzen getragen hat.«

Die Gegenwart Flüchtender

Im Białowieża-Urwald, der sich im Süden von Krasnogruda und im Osten von Grodno erstreckt, überqueren seit dem Frühjahr 2021 Menschen aus Irak, Syrien und Afghanistan die belarussisch-polnische Grenze. Im Winter signalisierten grüne Lampen in den Fenstern umliegender Bauern- und Forsthäuser, wo ihnen geholfen wird. Seit August 2021 wenden polnische Grenztruppen Pushbacks an, um zu verhindern, dass die Geflüchteten einen Asylantrag in Polen stellen. Auf deutsche Mobiltelefone, die sich hier bei einem GSM-Sendemasten einloggten, ließ die polnische Regierung einen Monat später automatisch eine Nachricht auf Englisch schicken: »Die polnische Grenze ist verschlossen. Die belarussischen Machthaber haben Dich angelogen. Geh zurück nach Minsk. Nimm keine Pillen von belarussischen Soldaten.«

Aus dem Białowieża-Wald führen die Routen der Schlepper direkt nach Deutschland. Und Lukaschenko versucht noch im Schatten des Kriegs in der Ukraine, die anhaltende Angst vor der Wiederholung der Migrationskrise von 2015 auszunutzen. Deshalb treiben seine Grenztruppen und Spezialeinheiten auch noch im Herbst 2022 Menschen aus anderen Kriegsgebieten über die Grenze. Vom östlichen Ende der Lücke von Suwałki sind es nur 700 Kilometer in die Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt, wo all diejenigen landen, die bei Kontrollen des Bundesgrenzschutzes an der Oder aufgegriffen werden.

Die polnische NGO Grupa Granica dokumentiert unaufhörlich Fälle von Gewalt auf belarussischer Seite und offene Verstöße gegen geltendes EU-Recht auf polnischer Seite der Grenze. Im Internet beschreiben die Aktivisten das Schicksal einer Gruppe von Geflüchteten aus Äthiopien und Eritrea: »Ihren ersten Versuch, die Europäische Union zu erreichen, unternahmen sie Ende August. Sie wurden vom polnischen Grenzschutz festgenommen. Die Beamten nahmen ihre Telefone an sich, zerstörten sie und schoben sie dann illegal auf die belarussische Seite ab. Nach dem Pushback nach Belarus wurden die Flüchtlinge äußerst brutal geschlagen. Die Beamten des belarussischen Grenzschutzes schlugen sie mit Fäusten und traten sie am gesamten Körper, um sie dafür zu bestrafen, dass sie sich aus Polen ausweisen ließen.« Das Verwaltungsgericht in Białystok gab jetzt einer Klage der Helsinki Stiftung statt, die argumentiert hatte, dass die Pushbacks der Grenzbeamten auch nach polnischem Recht illegal seien.

Seit Februar 2022 fanden in Polen über 3,5 Millionen Ukrainerinnen zusammen mit ihren Kindern und Eltern Zuflucht. Die Grenztruppen desselben Staats setzten auch nach dem Białystoker Urteil weiterhin Pushbacks gegen die Menschen fort, die aus Belarus in die Europäische Union kommen, um hier Asyl zu beantragen. Um ihren Grenzübertritt zu verhindern, bauen Polen und Litauen neue Grenzzäune in unmittelbarer Nähe der Lücke von Suwałki. Denjenigen, die sich im Wald verirren, helfen Anwohner zusammen mit einem Netzwerk von Aktivistinnen. Sie warnen jetzt, dass nach dem Herbst an der Lücke von Suwałki der Winter und mit ihm der Frost und der Tod folgen werden.