Big Bla-Bla. Die Reaktionen auf die ‚Big-Data-Bombe‘ sind Diskursverknappung

Die Nachricht verbreitete sich am Samstag schnell: durch die Kombination psychometrischer Verfahren und gezieltem Werbetargeting, will die britische Firma Cambridge Analytica (CA) – ein Tochterunternehmen der Wahlberatungsagentur Strategic Communications Laboratories (SCL) – nicht nur den Ausgang der US-Wahlen, sondern zuvor bereits das Brexit-Votum entscheidend zugunsten der späteren Gewinner beeinflusst haben.

In einem ausführlichen Artikel im Schweizer Magazin beschreiben Mikael Krogerus und Hannes Grassegger, wie CA mithilfe der sogenannten ‚Ocean‘-Methode zunächst Persönlichkeitsprofile potentieller Wählerinnen und Wähler erstelle, um diese mit Analysen des individuellen Online-Verhaltens sowie demographischen Daten zu verbinden und zur Grundlage für personalisierte Werbeanzeigen auf Facebook zu machen. Die Analyse einer Person nach den Kriterien ‚Offenheit‘, ‚Gewissenhaftigkeit‘, ‚Extraversion‘, ‚Verträglichkeit‘ und ‚Neurozentrismus‘ gebe die Anleitung für die spezifische Darstellungsweise einer Anzeige: ob text-, bild- oder videobasiert, ob in aggressiven oder sanften Tönen. In seiner Wahlkampfkampagne habe Donald Trump seine politischen Botschaften derart an einem einzigen Tag in 175000 Variationen verbreiten können, jede einzelne zugeschnitten auf das statistisch antizipierte Profil der jeweilig adressierten Rezipientinnen und Rezipienten.

Als Urheber dieser Methode stellen Krogerus und Grassegger den polnischen Forscher Michael Kosinski vor, der mittlerweile als Assistant Professor an der Stanford University, USA lehrt. Ausgehend von einer zunächst simplen App zur Integration der ‚Ocean‘-Methode in Facebook, habe Kosinski sein Verfahren über Jahre weiterentwickelt. Die Verbindung der ausgewerteten Fragebögen mit den auf Facebook zugänglichen Information zu Posts, Shares und Likes einer Person, hätten eine immer präzisere Einschätzung und Vorhersagbarkeit ihrer Verhaltensweisen ermöglicht: „70 Likes reichen, um die Menschenkenntnis eines Freundes zu überbieten, 150 um die der Eltern, mit 300 Likes kann die Maschine das Verhalten einer Person eindeutiger vorhersagen als deren Partner.“

Als politisches Instrument aber hätten erst die Firmen SCL und CA diese Methode missbraucht. Über einen ehemaligen Assistenzprofessor aus seiner Studienzeit in Cambridge, habe sich SCL Kosinskis Verfahren zu eigen gemacht, um damit in den USA millionenfach Persönlichkeitsprofile potentieller Wählerinnen und Wähler zu erstellen. Im Vergleich zu herkömmlichen, d.h. rein demographischen Methoden in Wahlkampagnen, würden dadurch nicht mehr bloß Wählergruppen, sondern mit Namen, Anschrift, Hautfarbe, sexueller Orientierung und vielen weiteren Eigenschaften identifizierbare Individuen Ziel einer angeblich passgenau auf ihre Persönlichkeit zugeschnittenen Botschaft. Bewerkstelligt über die Daten, die sie in Form von Likes, Shares und Onlinequizzes freiwillig über sich preisgegeben haben. Dafür sei allein CA verantwortlich, beteuert Kosinski, er habe lediglich gezeigt, „dass es die Bombe gibt“, gezündet hätten sie andere.

Noch am selben Tag wurden Zweifel an der Belastbarkeit dieser Darstellung laut. Die Geschichte eines einzelnen, tragischen Helden, der von einem Züricher Hotelzimmer aus im Fernsehen mit ansehen muss, wie seine Forschung in eine politische ‚Bombe‘ verwandelt wird, klang zu grell, als dass sie in dieser Form stimmen konnte. In Gegenreaktion zirkulierten auf Twitter und Facebook mehrere bereits vor der US-Wahl verfasste Artikel, in denen die angebliche Leistungsfähigkeit der von CA verwendeten Methoden als bloße Rhetorik der Anbieterfirma bezweifelt wurde: ein Beweis ihrer tatsächlichen Effizienz stehe aus, mehrere Kunden – etwa Ted Cruz, einer der früheren Aspiranten auf die republikanische Kandidatur, – hätten die Zusammenarbeit bereits nach kurzer Zeit wieder eingestellt.

Diese über das Wochenende in Reaktion auf Krogerus’ und Grasseggers Artikel an verschiedenen Stellen aktualisierte Kritik ist in dieser Form jedoch unzureichend. Richtig ist es, die übertriebene Darstellung des vermeintlichen Einflusses psychometrischer ‚Big Data‘-Technologien aus journalistischer Perspektive als unredlich herauszustellen, zumal die relativierenden Fakten bereits bekannt waren. Trotz der permanenten Zuspitzungen ist der Artikel jedoch nicht als eine monokausale Erklärung des Wahlausgangs durch eine neue Technologie der Verhaltensmanipulation zu lesen. Jenseits dieser aus dem Munde des CA-Geschäftsführers in Krogerus‘ und Grasseggers eigenen Text hinüber wehenden PR-Großspurigkeit und Omnipotenz-Fantasien bieten die Autoren die Beschreibung eines konkreten Zusammenhangs von Technologie, Ideologie und Politik sowie der gesellschaftlichen Folgen der hier entstehenden  Infrastruktur

Eine Kritik allein der Leistungsfähigkeit der Methoden und ihrer technologischen Implementierung lässt die Effekte und Motivation ihrer Verwendung sowie das dabei zugrunde liegende Menschenbild aus dem Blick. Dass der Versuch unternommen wird, politische Standpunkte in ein Kippbild mit individualisierten Facetten aufzulösen, in denen jede potentielle Wählerin und jeder Wähler sich selbst in der eigenen Meinung wieder zu erkennen glauben soll, ist kein rein technologisches Problem, sondern eines der mutwilligen, politischen Entfremdung. Das Menetekel einer drohenden Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger durch invasive Methoden der Manipulation spiegelt jedoch nicht bloß die Angst der Gegner von ‚Big Data‘ wider, sondern zuerst einmal das größenwahnsinnige Versprechen derjenigen, die diese Technologien anbieten. Der Skandal liegt nicht in der Frage, inwiefern diese Versprechen eingelöst werden können, sondern in der Tatsache, dass politische Parteien sich darauf einlassen. Das zugrunde liegende Menschenbild machen sie sich damit zu eigen: im Glauben an die in Prozentzahlen angebbare Mess- und Steuerbarkeit der Menschen liegt hier die Anmaßung. Ist dieser Glaube einmal angenommen, bleibt der Rest eine Frage der Optimierung.

Wenn nur ein Drittel der von Krogerus und Grassegger dargestellten Entwicklung halb zutrifft, besteht noch ausreichend Grund zur Unruhe. Lässige Gesten der Souveränität, die diese mit Verweis auf ihre Vorgeschichte in Praktiken der demographischen Forschung als altbekannt zu normalisieren versuchen, verkennen bereitwillig den qualitativen Sprung, der hier erfolgt ist. Das Schulterzucken ist nicht nur arrogant, sondern auch Zeichen des Einverständnisses mit der diagnostizierten Tendenz. Nicht dieses Einverständnis selbst, sondern dass es unmarkiert, im schlimmsten Fall sogar unreflektiert bleibt, ist das Problem. Zum technologischen Wandel und dessen gesellschaftlichen und anthropologischen Implikationen sind viele Haltungen möglich und legitim: sei es Affirmation, Optimismus, Neugier, Staunen, Kritik, Skepsis oder Ablehnung. Diese Pluralität macht den Reichtum eines Diskurses aus. Fahrlässig sind allein Resignation, Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber dem eigenen Verhalten in und zu dieser Frage.

Sie im Zusammenhang zu stellen wäre richtig. Das Internet kann nicht auf die Alternative ‚Utopie‘ oder ‚Dystopie‘ verkürzt werden. Eine Kritik, die nur auf technologischer oder nur auf ideologischer Ebene argumentiert, verhindert eine Auseinandersetzung um die emanzipativen und die totalitären Potentiale von ‚Big Data‘ gleichermaßen. Sie blockiert den produktiven Streit um die Wünschbarkeit gesetzlicher Restriktionen oder die Förderung freiwilliger Selbstregulation. Diesem Streit aber hätten vor allem die politischen Parteien sich erst einmal offen zu stellen, anstatt ihn bereits im Wahlkampf zu entscheiden, indem sie versuchen, die Wählerinnen und Wähler bestimmten Technologien zu unterwerfen.

Ein auf Sensation getrimmter Zeitschriftenartikel mag für eine solche Auseinandersetzung nicht die beste Basis bieten, gibt in der Offenlegung der sich gerade konstituierenden Infrastruktur aber immerhin einen Anstoß. Seine blinde Annahme und seine einseitige Kritik dagegen kommen bisher von beiden Seiten der Diskursverknappung gleich.