Reflexe. Zur Wiederauferstehung des poststrukturalistischen Popanzes im deutschen Feuilleton

“C’est que les faits, nous pouvons les tenir à distance. Tandis que les représentations ne sont rien sans nous.”

Claude Lefort, Le Monde, 9. Mai 1978

Dass im Feuilleton kräftig ausgeteilt wird, ist zu begrüßen. Nur die Treffsicherheit lässt bisweilen zu wünschen übrig. Liest man die Einlassungen zu französischen Philosophen, die in den letzten Monaten in deutschsprachigen Zeitungen erschienen sind, staunt man nicht schlecht, weil diese Denker überhaupt nicht wiederzuerkennen sind. Es sind groteske Karikaturen, Pappkameraden, die man sich in einer Mischung aus Missgunst und geistiger Trägheit zusammenbaut, um Halt durch Abstoßung in einer unsicheren Gegenwart zu finden. Manche Debatten altern erstaunlich schlecht. Selbst seinem ärgsten Gegner wünscht man nicht, noch einmal die Meilensteine der theory wars der achtziger Jahre abschreiten zu müssen, was einige Journalisten jedoch nicht daran hindert, auf der Klaviatur der alten Affekte gegen die Pariser Theorieproduktion zu spielen.

So fuhr Ijoma Mangold in der Zeit vom 19. September harte Geschütze auf und mokierte sich über jene, die der Versuchung erlagen, „den Wahnsinn als rebellisches Aufbäumen gegen den Konformismus der Gesellschaft zu verherrlichen“. Gemeint waren vor allem Foucault und Gilles Deleuze, die „im Psychotiker, im „Schizo“ den freien Geist feierten, der die Ordnungsmacht des Diskurses sprengt“. (Dass man nach dem Schizo bei Foucault vergeblich suchen wird: geschenkt. Hauptsache es knallt.) Noch etwas verstimmt vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen schob Thomas Assheuer am 17. November hinterher, dass solche desaströsen Politikwechel nicht überraschen sollten, wenn Akademiker sich einreden, in der „postmodernen Moderne seien alle Klassenkämpfe passé und es komme nur auf Bildung an, auf Wissensmanagement und viel, ganz viel Identitätspolitik“. Die Bemerkung zielte zwar auf US-Universitäten, aber ursprünglich kam dieses Übel aus Frankreich. Schon am 29. September hatte Assheuer die Quintessenz des Poststrukturalismus in eine griffige Formel gepackt: Die Vertreter jener Denkschule waren überzeugt, das „Zeitalter der Aufklärung liege im Sterben und ihre Ideale (Vernunft, Demokratie, Fortschritt) seien Schnee von gestern“. [1. Konkret treibt Assheuer insbesondere das Wirken Jean Baudrillards um, auf das er schon unmittelbar nach den Anschlägen von Nizza (Zeit vom 21. Juli 2016) zu sprechen kam.] Auf Zeit Online erklärte Felix Stephan am 10. November „den Einzug Donald Trumps in das Weiße Haus“ umgehend zum „finalen Triumph der Postmoderne über die Moderne“. Hier war er also: „der Sieg der Ideologiekritik über den Rationalismus“. Mit Blick auf die aktuelle politische Lage stellte auch der Ethnologe Thomas Hauschild dem Poststrukturalismus in der Welt vom 17. November eine vernichtende Bilanz aus. So jammerte er über eine intellektuelle Kultur, „für die sich alles in ‚postmodernen Diskurs’ auflöst“. Darüber hinaus tritt er dafür ein, von nun an den meckernden Gestus runterzufahren und die „anthropologischen Grundbilder von Rasse, Geschlecht, Familie” endlich auch “faktisch” ernst zu nehmen. (Natürlich würde man gern genauer wissen, was das konkret bedeuten soll.) In der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. September 2016 hatte der polnische Dichter Tadeuzs Dobrowski in eine ähnliche Kerbe geschlagen. Seine bête noire: Jacques Derrida. Der Identitätsverlust und die Gleichmacherei, die Derridas Texte nach sich zögen, führten zu “Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus”. Die Folgen von Derridas intellektueller Verantwortungslosigkeit sind dem Autor zufolge in Polen zu besichtigen: „Der Nationalismus wächst auf der Welle der kulturellen Ununterscheidbarkeit.” Das cahier de doléances ist also randvoll.

Was kann man angesichts eines solchen Florilegiums historisch unbeleckter und begrifflich haltloser Behaupterei überhaupt tun? Im Folgenden soll weniger vom Poststrukturalismus und der Postmoderne die Rede sein als von einzelnen intellektuellen Werdegängen und Konstellationen. [2. Das Augenmerk richtet sich dabei ausschließlich auf die französische Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die US-amerikanischen Ausläufer des sogenannten Poststrukturalismus, die nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten – zu Recht oder zu Unrecht – aufgrund ihres Festhalten an identity politics ins Kreuzfeuer polemischer Debatten gerieten, würden eine gesonderte Abhandlung verdienen.] Reduziert man so den Abstraktions- und Bezichtigungsgrad, ergeben sich präzisere Möglichkeiten der geschichtlichen Einordnung. Die Historisierung bietet sich nicht zuletzt deshalb als Vorgehensweise an, weil hier Tote angerufen und wenn nicht an ihre Verantwortung, so doch an ihre Verfehlungen erinnert werden.

Derrida und différance

Man könnte lange über die Selbstverständlichkeit diskutieren, mit der Dobrowski Vernunft und nationale Kulturen – mitsamt ihrer “Erhabenheit”, die keine “Überheblichkeit oder Arroganz sein soll” – als potenzielle Verbündete vorstellt. Beim Rückblick auf das 20. Jahrhundert wäre es zumindest denkbar, dass jemand vorsichtige Zweifel an dieser These anmeldet. Es soll aber in erster Linie, um Dobrowskis Deutung von Derridas Begriff der différance gehen, der dem Autor zufolge einem alles homogenisierenden Relativismus Tür und Tor öffnet.

Wenn dem tatsächlich so ist, wäre Derrida mit seinem Projekt gescheitert, schließlich entstanden seine Arbeiten zum Thema in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Relativismus. Die différance sollte dabei auf die zeitliche Dimension hinweisen, die jeder Form von Rationalität innewohnt – eine Rationalität, die Derrida übrigens nicht in Zweifel zog. Vielmehr fragte er nach den Bedingungen, unter denen Rationalität möglich ist. Daher rührte sein frühes Interesse an den Schriften Husserls zur Geometrie.

Die jüngere Forschung hat die Behauptung, Derrida sei ein antirationalistischer Denker, nach Strich und Faden auseinandergenommen. [3. Edward Baring, The Young Derrida and French Philosophy, 1945-1968, Cambridge, Cambridge University Press, 2011. Ich stütze mich im Folgenden aber vor allem auf die 2016 an der Universität Cambridge eingereichte, bislang noch unveröffentlichte Dissertation von Giovanni Menegalle, Politics at the Closure of Metaphysics: Derrida Before the Political Turn. Dem Gespräch mit dem Autor verdanke ich absolut entscheidende Anregungen.] Derrida war durchaus ein Kritiker gewisser Formen der Vernunft, aber dann sollte man hinzufügen, dass diese Kritik sich als Fortsetzung der kritischen Arbeit Kants verstand, der gegen die metaphysischen Auswüchse des Vernunftbegriffs bei Leibniz und Wolff zu Felde zog. Die différance bezeichnet dabei eine Spannung zwischen der Endlichkeit unserer Erfahrung und der Unendlichkeit des Vernunfthorizonts, die angenommen werden muss, aber niemals ein für alle Mal begründet werden kann. Derridas Philosophie ist ein Appell, diese Spannung nicht aus den Augen zu verlieren und die Vernunft vor ihrer Entstellung zu bewahren, die droht, wenn Rationalität zu einem metaphyischen Objekt überhöht wird. Von diesem Appell findet sich bei Dobrowski keine Spur. Was bleibt, ist die “Schlinge eines masochistischen Skeptizismus”. Schlimmer noch: Philosophen nach Derrida  fühlten “sich befreit von der Pflicht, nach der Wahrheit zu suchen”, weil fortan “alles Mögliche Wahrheit repräsentieren” könne. Dabei dispensiert sich Dobrowski ohne Umschweife selbst von der Pflicht, nach der Wahrheit eines Werks zu suchen, das er ablehnt. Es würde nicht überraschen, wenn Derrida auch dafür die Verantwortung übernehmen muss. Man möchte diesen Text möglichst schnell vergessen. Aber etwas hallt nach:  Dobrowskis tapfere Klagen über “Kosmopoliten, welche die Quelle der polnischen Geschichte nicht spüren.”

In den neunziger Jahren verlieh Derrida zunehmend seiner Befürchtung Ausdruck, der Nationalismus könnte in Europa wieder zu einer treibenden politischen Kraft werden. Der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien beunruhigte ihn zutiefst. Schon seit 1984 hatte er sich in seinem Seminar an der École des hautes études en sciences sociales mehr als vier Jahre lang mit dem Thema “Nationalität und philosophischer Nationalismus” befasst. Die Vorlesungsmanuskripte sind in Archiven zugänglich, wurden aber noch nicht veröffentlicht. Mit seinen Studenten las Derrida Fichte, Nietzsche, Adorno, Arendt, aber auch Richard Wagner und den französischen Historiker Jules Michelet. Er argumentierte, dass nationalistische Umtriebe vor allem dann in Gewalt umschlagen können, wenn eine kulturelle Verbundenheit eingefordert wird, die mit sich selbst über alle Unterschiede hinweg identisch ist. Derrida vollzog keineswegs die Aufhebung der Unterschiede, er kritisierte sie. Statt ihn als Wegbereiter des Nationalismus an den Pranger zu stellen, wäre es aufschlussreicher, die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt seines Werkes zu richten, der in den nächsten Jahren dank der Publikation seiner Vorlesungen weiter an Bedeutung gewinnen wird: Derrida als philosophischer Analytiker des Nationalismus.

Ain’t Nothing Like the Real Thing, Baby

Ein Leitmotiv des Unbehagens am französischen Denken zielt auf den vermeintlichen Reduktionismus dieser Theoretiker. Die Welt? Ein Text. Außer Sprache nichts gewesen. Aber was passiert dann mit der wahren Wirklichkeit, wo die ganzen Menschen wohnen? Unter allen erdenklichen Anwürfen erweist sich dieser als der wohl bizarrste. Natürlich war beispielsweise Foucault ein Diskursanalytiker, aber diese Arbeiten dienten ihm häufig als theoretische Grundlage für sein gesellschaftliches Engagement. Ich würde gern wissen, welches Bild sich die Leute eigentlich von der Lage in den französischen Gefängnissen und Psychiatrien der sechziger Jahre machen. Über Jahre hinweg setzte sich Foucault für Reformen im Justizwesen und der medizinischen Versorgung ein. Er gehörte 1971 zu den Mitbegründern der Groupe d’information sur les prisons, die sich überaus konkrete Ziele setzte: „Wir wollen darüber berichten, was ein Gefängnis ist: wer wie warum dorthin muss; was sich darin abspielt; wie die Insassen und die Wärter leben; wie es um die Gebäude, die Ernährung, die hygenischen Bedingungen bestellt ist; welche Regeln einzuhalten und welche medizinischen Untersuchen zu durchlaufen sind; welche Beschäftigungsmöglichkeiten es gibt; wie man wieder rauskommt; was es heißt, in einer Gesellschaft wie der unseren aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein.“ [4. Création d’un groupe d’information sur les prisons, in: Esprit, März 1971, S. 531f. Unterzeichnet haben diesen Appell Michel Foucault, der Gräzist Pierre Vidal-Naquet und Jean-Marie Domenach, zu jener Zeit Herausgeber der katholischen Zeitschrift Esprit. Verfasst hat ihn im Wesentlich aber Foucault. Kurz darauf schloss sich auch der Journalist Claude Mauriac, der für den konservativen Figaro schreibt, der Gruppe an. Bündnisse jenseits des eigenen Milieus einzugehen – darauf verstanden sich französische Intellektuelle in den siebziger Jahren hervorragend.]

Wie verhält es sich nun mit dem Schizo bei Deleuze und Guattari? Auch liegt den theoretischen Überlegungen eine institutionelle Praxis zugrunde. In der südwestlich von Paris gelegenen Klink La Borde wollte man psychisch Kranke nicht nur wegschließen, sondern in das Leben der Gemeinschaft einbinden. Die Klinik wurde 1953 eröffnet, konnte jedoch bereits auf eine illustre Vergangenheit zurückblicken. So diente Saint-Alban, der unmittelbare institutionelle Vorgänger von La Borde, während des Zweiten Weltkriegs als Sammelstelle, an der sich Widerstandstruppen im Kampf gegen die nationalsozialistischen Besatzer mit Waffen versorgen konnten. Viele der jungen Ärzte waren selbst in der Résistance aktiv. 1955 nahm Deleuzes zukünftiger Schreibpartner Félix Guattari in La Borde eine Tätigkeit als Psychotherapeut auf. Das tägliche Leben und die gemeinsamen Aktivitäten mit den Patienten ließen ihm die zahlreichen Einschränkungen und das physische Leid, dem psychotische Patienten ausgesetzt waren, deutlich vor Augen treten – dazu musste man keinen weißen Kittel tragen. Auch in La Borde kam die Elektroschock-Therapie zur Anwendung. Allerdings wollte sich Guattari nicht damit abfinden, dass die Patienten ihr Leben im Schatten ihrer Krankheit fristen müssen. Angst, Verzweiflung, Katatonie hießen die Gegner, die, wenn sie schon nicht zu bezwingen waren, zumindest in Schach gehalten werden konnten. [5. Vgl. dazu auch die eindrücklichen Schilderungen von Marie Depussé, die zu jener Zeit Literaturstudentin an der ENS war und lange selbst mit suizidalen Depressionen rang. Für sie war La Borde ein Zufluchtsort, der Besserung verhieß und brachte. Marie Depussé, Dieu gît dans les détails, Paris, P.O.L, 1993; Marie Depussé  und Félix Guattari, De Leros à La Borde, Paris, Nouvelles Éditions Lignes, 2011.] Daher bemühte er sich um einen regen kulturellen Austausch. Natürlich gab es dort auch Parties, aber es darf davon ausgegangen werden, dass es nicht der Wahnsinn war, den sie dort feierten, sondern das Leben. So trat in den siebziger Jahren zum Beispiel das französische New Wave-Duo Elli et Jacno dort auf.

Psychiatrie, Gefängnis, sexuelle Minderheiten – sind das nicht genau jene Randgruppen, die den Blick auf das Los breiter Bevölkerungsschichten verstellen? In einem Interview mit Bernard-Henri Lévy (zu BHL später noch mehr), das im März 1977 im Nouvel Observateur veröffentlicht wurde, warnte Foucault davor, die bloße Zugehörigkeit zu einer Minderheit als einen moralischen Mehrwert zu deuten und sich schon deswegen auf der „richtigen Seite“ zu wähnen. Diese Einstellung war ihm schon bei Marxisten zuwider, für die das Proletariat niemals falsch liegen konnte. Gleichzeitig störte er sich daran, dass in der publizistischen Kultur der vermeintlich nivellierten französischen Mittelschichtsgesellschaft gern und oft über die Arbeiterklasse geredet wird, ohne dabei das Bedürfnis zu verspüren, sie zu Wort kommen zu lassen. In den Gründungsjahren der linken Zeitung Libération begeisterte sich Foucault für die Idee einer Arbeiterkolumne: Es gebe „grundlegende Erfahrungen“ im Leben eines Arbeiters, die nur dann in „Zeitungen auftauchen“, wenn sie auch zur Blattlinie passen. Eine solche Kolumne hingegen hätte das Zeug dazu, gewerkschaftliche und intellektuelle Kräfte für die kommenden Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern zu bündeln. [6. Michel Foucault, Pour une chronique de la mémoire ouvrière, Libération, 21. Mai 1973.] Wer über Knast und Psychiatrie nicht reden will, sollte zu den Abgehängten schweigen. (In den USA wurden mehr als fünf Millionen Menschen, die wegen schwerer Verbrechen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden, das Wahlrecht entzogen.)

Rasse und Nation

Gilles Deleuze wies die Rolle des kritischen Kritikers stets von sich. (Unvergessen seine einsilbige Entgegnung auf die telefonische Frage eines Journalisten, für wen er bei den Parlamentswahlen 1978 stimmen würde: „Les intellectuels ont raison de se taire“ – dann legte Deleuze auf.) Er sah sich eher in der Rolle des konzeptuellen Wilderers, ein philosophischer Eindringling, der in die Begriffsgebäude seiner Kontrahenten eindringt, um sie völlig auf den Kopf zu stellen. Erst jetzt beginnt man, sich das ganze Ausmaß dieses Unterfangens zu vergegenwärtigen. So arbeitete Guillaume Sibertin-Blanc in einer bahnbrechenden Studie minutiös heraus, dass sich die politischen Passagen in Tausend Plateaus an Carl Schmitts Nomos der Erde abarbeiten, anschmiegen und schließlich in Richtung einer anarchistischen Alternative abbiegen. [7. Guillaume Sibertin-Blanc, Politique et État chez Deleuze et Guattari, Paris, Puf, 2013.] Noch frappierender ist allerdings der Dialog mit Georges Dumézil, einem der frühen Förderer Foucaults, der sich als Spezialist für indoeuropäische Studien einen Namen machte.

Ende der siebziger Jahre zeichnete sich in der intellektuellen Szene Frankreichs die Möglichkeit einer Annäherung ab, auf die man lieber verzichtet hätte. Die hegelianisch-marxistische Geschichtsphilosophie hatte zu jenem Zeitpunkt ihren Kredit weitgehend verspielt. Zu deterministisch und unbeugsam waren die ehernen Gesetze der historischen Evolution. Zudem hatte dieses Entwicklungsdenken nicht-europäische Volksgruppen in den Wartesaal der Geschichte verbannt. Entweder waren diese gleich ganz aus dem historischen Prozess ausgeschlossen oder sie galten schlicht als hoffnungslos rückständig. Ethnologen wie der 1977 bei einem Motorradunfall früh verstorbene Pierre Clastres versuchten diese Rangordnung zu invertieren. Das gleichberechtigte Nebeneinander der Nationen sollte die Hierarchie der auf dem Zeitstrahl der Geschichte aufgereihten Gesellschaften ersetzen. Geographie statt Temporalität. Plötzlich gab es Großstadtindianer, die es sich zur Aufgabe machten, die von Clastres beschriebene Staatsfeindschaft indigener Volkgsgruppen in die westeuropäischen Ballungsräume zu tragen.

Doch die politische Gemengelage war in Wahrheit ungleich komplizierter. Seit den sechziger Jahren hatte sich in Frankreich eine Nouvelle Droite mit intellektuellem Anspruch herausgebildet. Die dazugehörige Zeitschrift Nouvelle École verfolgte aufmerksam die ethnologischen Debatten. Dazu kamen die bereits erwähnte Renaissance der indoeuropäischen Studien unter Georges Dumézil. Obwohl Dumézil konservativ war, in seiner Jugend auch der Action française nahestand, ging er im Gegensatz zur Neuen Rechten, die ihn immer wieder für ihre eigenen Zwecke vereinnahmen wollte, allerdings nie davon aus, dass es sich bei den Indoeuropäern um eine Rasse, ja sogar um den gemeinsamen arischer Vorgänger der Europäer  handelte.

1978 gab der Philosoph François Châtelet, ein enger Freund von Deleuze und Guattari, den dreibändigen Sammelband Histoire des idéologies heraus. Dort fanden sich Texten von radikalen Linke neben Beiträgen zur indoeuropäischen Ideologie, die von Leuten verfasst waren, die in den Jahren darauf stramm nach rechts umschwenkten. [8. Vgl. dazu Maurice Olender, Race sans histoire, Paris, Seuil, 2009.] Die Wertschätzung der irreduziblen Pluralität der Gesellschaftsformen und Volksgruppen auf der Erde wanderte aus den anti-imperialistischen Milieus in neo-heidnische und neurechte Strömungen ein. [9. Châtelet selbst distanzierte sich radikal von den Neuen Rechten.] Gesellschaften sind verschieden, der Westen sollte jede bevormundende Einmischung unterlassen, Nationen haben ein Recht auf Selbstbestimmung – aber eben auch auf ethnisch-kulturelle Homogenität. Jeder bleibt für sich. Einwanderungsstopp. In einschlägigen Kreisen spricht man seitdem vom Ethnopluralismus – eine Idee, auf die sich heute Kubitschek, Teile der AfD und der Franzose Renaud Camus einigen können.

Didier Eribon, damals noch nicht der Autor von Rückkehr nach Reims, sondern ein junger Journalist im Umfeld von Foucault, nahm Dumézil gleich zweimal in Schutz, nachdem ihn der italienische Historiker Carlo Ginzburg in einem in der historischen Zeitschrift Annales erschienenen Essay in die Nähe von Neofaschisten rückte: zunächst in einem Interviewband, der noch zu Lebzeiten Dumézils erschienen ist, später dann in einer Monographie, deren Titel als rhetorische Frage daherkam: Faut-il brûler Dumézil? Doch es waren Deleuze und Guattari die sich nicht trotz, sondern gerade wegen der neurechten Aneignungsversuche ausführlich mit Dumézils Schriften beschäftigten. Sie legten ihre Resultate in Tausend Plateaus vor. Der Dumézil, der uns aus diesen Seiten entgegentritt, ist ein gelassener Entmystifizierer, der nur zu gut um die magischen Elemente weiß, die Theorien politischer Souveränität und Homogenität innewohnen. Keine politische Korrektheit, nirgends. Keine Empörung, keine Dekontaminierung, sondern mitten rein ins Gewühle. Große Heiterkeit macht sich in diesen Passagen breit. Die germanischen Krieger stehen bei Deleuze und Guattari nicht länger im Dienst der völkischen Selbstermächtigung, sondern sind politischen Ordnungsprinzipien äußerlich und potenziell sogar gefährlich. Mit diesen Kriegern ist im Grunde kein Staat zu machen.

Die Umdeutung der indoeuropäischen Ideologie ist eine Sache. Der Vormarsch des Front national in den achtziger Jahren war eine andere. Félix Guattari vermutete, dies sei nur der Anfang eines größeren historischen Zyklus in der westlichen Welt. Seine späten Arbeiten widmeten sich dieser neuen identitären Dynamik. Für Guattari stellt der Wunsch, sich hinter die Grenzen des Nationalstaats zu verbarrikadieren und das wahre Volk vom Rest abzugrenzen, einen Neo-Archaismus dar, der auf die fragil gewordenen „existenzielle Territorien“ von Individuen verweist. Diesen Begriff prägte Guattari in den achtziger Jahren, um den vielschichtigen und widersprüchlichen Welterfahrungen jenseits der puren Diskursivität gerecht zu werden. Die Komplexität, der Menschen in zeitgenössischen Gesellschaften ausgesetzt sind, geht einher mit dem Bedürfnis, existenzielle Territorien zu stabilisieren und Schutzräume wie Nation, Familie und Religion zu sichern. [10. Dazu vor allem der postum erschienene Essayband Félix Guattari, Qu’est-ce que l’écosophie ?, 1985-1992, Paris, Lignes, 2013.] Solange die Philosophie keine Antwort auf diese Ängste und Unsicherheiten hat, solange sie keine neuen, anderen, besseren Möglichkeiten zu leben aufweist, solange sie nicht in der Lage ist, weiträumigere existenzielle Territorien aufzuzeigen, die mehr bieten als die Teilnahme am Geschehen des Weltmarktes – solange wird sie keine Antworten auf die reaktionären Herausforderungen der Gegenwart finden. Dass Guattaris Ansatz bislang nicht weiterverfolgt wurde, ist zu bedauern.

Der verantwortungsvolle Intellektuelle

Aber es sieht nicht so aus, als ob sich daran demnächst etwas ändern wird. Als Nils Minkmar im Spiegel vom 17. September das geistige Gelände Frankreichs überblickte, blieb von der Euphorie der sechziger Jahre kaum etwas übrig. Ein einziger „Held“ habe sich in unsere Gegenwart gerettet: Bernard-Henri Lévy. Andere mögen die Zeit des Aufruhrs überlebt haben, aber bei den meisten ist der Lack doch ab. Die Fahne des „engagierten Intellektuellen“ und der moralischen Instanz der westlichen Welt muss BHL, „der Letzte seiner Art“, nun alleine hochhalten. Die Offenherzigkeit und Chuzpe, mit der Minkmar hier über einen guten Bekannten schreibt, wie er nicht einmal, nicht zweimal, sondern gleich dreimal betont, hat durchaus charmante Züge. Nur ahnt er selbst, dass viele nicht in dieses Loblied einstimmen wollen. Woher kommt diese Missgunst gegenüber einem Intellektuellen, der vielen „den letzten Nerv raubt“? Ist es Neid? Sein Auftreten? Sein Wohlstand? Die Dauerpräsenz in den Medien? Gut möglich. Aber da ist noch mehr.

Als BHL 1977 ins Rampenlicht trat, ließ er seine Widersacher ziemlich alt aussehen. Wie runtergewirtschaftet Teile der kommunistischen Linken in Frankreich waren, offenbarte sich in der Fernsehsendung Apostrophes. Der erstaunte Moderator Bernard Pivot sah dabei zu, wie ein 29-jähriger BHL den ebenfalls eingeladenen Vertretern der kommunistischen Partei die Leviten las. Eine einfache Frage genügte: Wie oft hat die offizielle Parteizeitung L’Humanité eigentlich offen gegen Stalinismus und Autoritarismus in den eigenen Reihen Stellung bezogen? Diese Abrechnung war überfällig und BHL war nicht der einzige, der darauf drängte. Auf Widerwillen in akademischen Zirkeln stieß der junge Philosoph aber nicht nur infolge seiner Fernsehauftritte, sondern aufgrund der Verdächtigungen, in denen er sich gefiel.

BHL scheute vor Denunziationen nicht zurück. Foucaults Arbeiten beeindruckten ihn nachhaltig, aber die „Philosophie des Begehrens“, die Deleuze und Guattari entwickelten, war ihm ein unerträglicher Dorn im Auge. So insinuierte BHL, die Autoren des Anti-Ödipus hegten klammheimliche Sympathien für den Linksterrorismus. Guattaris Weigerung, Gruppen wie die roten Brigaden oder die RAF öffentlich zu verurteilen, entsprang keiner strategischen Entscheidung, sondern einer taktischen Überlegung. Man muss dieses Kalkül nicht gutheißen, aber man kann versuchen, die Beweggründe zu verstehen. Ende der siebziger Jahre erlebte Guattari in Italien nach 68 einen zweiten politischen Frühling, der im Zeichen der „Autonomie“-Bewegung stand. Nicht wenige in Bologna sympathisierten mit den Roten Brigaden. Zeitgenössische Beobachter berichteten immer wieder davon, wie Guattari jungen Militanten, die auf der Kippe standen, ins Gewissen redete, um sie vom Weg in das Morden abzubringen. Paradoxerweise besaß er eine umso größere Glaubwürdigkeit, weil er sich in den Medien zum Terrorismus nicht äußerte. Jean Chesneaux, ein Freund und Mitstreiter, geht rückblickend sogar so weit zu behaupten, dass es gerade dem Einsatz linker Intellektueller wie Guattari zu verdanken war, dass Frankreich eine RAF erspart blieb. Guattari selbst bemerkte vor Vertrauten dazu spöttisch, im Grunde müsste ihm der französische Staat eine Sicherheitsdividende auszahlen. Diese Dinge konnte und wollte Lévy nicht sehen.

Dazu kam die fast schon schirrmacherhafte Nachlässigkeit im Umgang mit Fakten und Zitaten, die in Lévys Texten zum Vorschein kam. Als er 1979 Testament de Dieu veröffentlichte, ein Essay, das den ganz großen Bogen schlägt von der Bibel zu Pol Pot, ohne dabei die Nürnberger Prozesse zu vergessen, platzte dem Gräzisten Pierre Vidal-Naquet der Kragen. Das Buch wimmele von Ungenauigkeiten, falschen Zitaten und unhaltbaren Behauptungen. Bereits zuvor hatte der Philosoph und Hebraistiker Shmuel Trigano in Le Monde auf eklatante Fehler in Testament de Dieu hingewiesen. Vidal-Naquet legte nach und ging hart mit dem Wochenmagazin Le Nouvel Observateur ins Gericht, das zuvor hymnisch über das Buch berichtet hatte. Genüsslich zählte Vidal-Naquet die Versäumnisse und Patzer auf. BHL mache aus Piräus eine Person und aus der kleinasiatischen Stadt Halikarnassos einen griechischen Autor. Robespierre wird als Gottesmörder und Religionsfeind abgekanzelt. Dabei schickte er sich an, dem revolutionären Frankreich einen “Kult des höchsten Wesens” zu hinterlassen. Von einem Text des Philosophen Benjamin Constant heißt es, er knüpfe an eine Vorlage des Historikers Fustel de Coulanges an, die allerdings erst mehr als vierzig Jahre später entstanden ist. Auch in Sachen Quellenforschung legt BHL beträchtliche Kreativität an den Tag. So zitiert er eine Zeugenaussage Himmlers aus der Zeit der Nürnberger Prozesse – eine gespenstische Geschichte, denn der Reichsführer SS hatte sich bereits im Mai 1945 das Leben genommen.

Lévys Reaktion? Das sei nichts als Pedanterie, der Versuch, einen Unangepassten mundtot zu machen. Seine Verlegerin Françoise Verny wurde noch deutlicher: Nichts als “pisse-froids”, Spielverderber seien da am Werk: “Was nerven die denn rum, die verstehen nichts von Ungezwungenheit.” Der Philosoph Cornelius Castoriadis, der sich 1979 in die Debatte einschaltete, war der Meinung, BHL erweise der gemeinsamen Suche nach Wahrheit einen Bärendienst. Castoriadis ging sogar noch weiter. Lévy, der die Öffentlichkeit sucht und einfordert, höhle die Mechanismen aus, aus denen die gesellschaftliche Dynamik des Denkens und Diskutierens ihre historische Kraft geschöpft hat: die sorgfältige Recherche, das Überprüfen eigener Behauptungen, das Zusammentragen von empirisch belastbaren Nachweisen, die gewissenhafte, historisch akkurate Beweisführung. Wie konnte es soweit kommen, dass ein Autor n‘importe quoi schreiben und damit als Intellektueller überaus erfolgreich sein kann?

Jean Daniel, Gründer und Herausgeber des Nouvel Observateur war etwas geniert von der Heftigkeit der Reaktion und sah sich genötigt, Castoriadis’ Vorwürfen einen kurzen Text voranzustellen, in denen er sich von der Kritik distanzierte. Castoriadis hielt dagegen. Mit einem demokratischen Geistesethos habe Le Testament de Dieu jedenfalls wenig zu tun. Dafür zeuge Lévys Vorgehen von zu großer Geringschätzung: gegenüber dem Denken, gegenüber den Lesern, gegenüber der Wahrheit. Massenmedialität heißt eben nicht automatisch Demokratisierung des Wissens, die Celebrity-Kultur ist nicht gleichbedeutend mit der Demokratisierung des Ruhmes und die Teilzeitberücksichtigung von Fakten und Forschung, die auch jüngere Veröffentlichungen wie Qui a tué Daniel Pearl ? (2004) und De la guerre en philosophie (2010) charakterisiert, sollte nicht mit dem Aufbrechen verknöcherter akademischer Strukturen verwechselt werden. Was BHL tut und wie er es tut, “sagt etwas über uns aus”, schreibt Nils Minkmar. Dem Phänomen des Postfaktischen, das mit der Präsidentschaft von Donald Trump eine neue Qualität erreicht hat …. Nein, eben nicht – das ist genau der vereinfachende Kurzschluss, den es zu vermeiden gilt. Je größer die Verwirrung der Gegenwart, desto dringender  ist historische Genauigkeit bei den Erklärungsversuchen geboten.