Vergangenheit, die vergeht. Der Greifswalder Streit um Ernst Moritz Arndt
Die Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald ist Geschichte. Der akademische Senat der Universität hat sich mit Zweidrittelmehrheit entschieden, das Namenspatronat zu beenden. Damit wird eine Entscheidung revidiert, die 1933 im Dunstkreis der Nationalsozialisten gefällt, vom real existierenden Sozialismus bestätigt und im wiedervereinigten Deutschland geduldet wurde. Der Ablegung des Namens gingen jahrelange, erbittert geführte Debatten voraus.
Der Erfolg der Arndt-Gegner hat viele Beobachter überrascht. Entsprechend groß ist die Entrüstung der Arndt-Freunde. Diese führen stets das Argument ins Feld, man müsse Arndt aus seiner Zeit heraus verstehen. Dann sei doch alles ganz einfach: Nationalisten waren im 19. Jahrhundert die eigentlichen Demokraten, alle Völker Europas redeten seinerzeit schlecht übereinander und Judenfeindschaft war ein Kavaliersdelikt. Man könne also mit einem Achselzucken all jene Aspekte des Arndtschen Werkes ausklammern, die ihn heute näher an Figuren wie Donald Trump oder Björn Höcke als an Immanuel Kant oder Friedrich Schiller rücken. Übrig bleibe dann jener gute Kern im Werk eines unsystematischen Vielschreibers, der vor allem in seinem Einsatz für das Ende der Leibeigenschaft in seiner pommerschen Heimat besteht.
Doch so einfach ist es leider nicht. Denn in den Greifswalder Entscheidungen für Arndt spiegelt sich die Geschichte der beiden deutschen Diktaturen und ihr nach wie vor kompliziertes Erbe. Und es bedarf einer Erklärung, wieso eine historische Persönlichkeit mittleren Ranges, die in der breiten Öffentlichkeit unbekannter als die aktuellen Kandidaten des Dschungelcamps sein dürfte, heute immer noch polarisiert. Noch verwunderlicher ist es, wie ähnlich die Identifikationsfigur Ernst Moritz Arndt von Nationalsozialisten und Kommunisten wahrgenommen und vereinnahmt wurde.
Bis heute gibt es in Greifswald und darüber hinaus keine systematische Beschäftigung mit dem Werk Arndts. Stattdessen bezieht man sich, wenn überhaupt, nur bei Gedenktagen auf den Namenspatron. Zwei Greifswalder Ereignisse sind hierfür beispielhaft: die Arndt-Tage 1943 und die Feierlichkeiten zur Verleihung der Arndt-Medaille 1969.
Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs feierte die Universität den zehnten Jahrestag des Namenspatronats mit Exkursionen und Vorträgen. In der festlich geschmückten Aula, fern vom Donner der Geschütze an der Ostfront, pries der Rektor Arndt als Sinnstifter in schwieriger Zeit. Er sei nicht nur seiner pommerschen Heimat verbunden gewesen, sondern gelte als „einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschen Geistes und des Kampfes um deutsche Größe und deutsche Volkwerdung“. Arndts „prophetische Gedanken und Forderungen“ würden erst jetzt „voll verstanden und in die Tat umgesetzt“. Ein weiterer Festredner, Paul Ruth, präsentierte Arndt als Freund des einfachen Volkes, der sich für „die Erhaltung und die politisch-soziale Befreiung des Bauernstandes in seiner Heimat“ eingesetzt habe. Die nationalsozialistische Politik vollende, was Arndt begonnen habe: die Erweckung des politischen Bewusstseins aller Deutschen, ihre Verbindung zu einem „lebendigen Volkskörper“ sowie die Reinheit ihres Blutes und ihrer Sprache. Arndt habe in weiser Voraussicht vor „massenhafter Einwanderung“ gewarnt und die „zunehmende jüdische Zersetzungstätigkeit“ klar gesehen. Der Skandinavist Leopold Magon betonte, dass Arndt die „Wehrhaftmachung jedes freien deutschen Mannes“ gelehrt habe. Seine Kriegspropaganda aus der Zeit der antinapoleonischen Kriege motiviere deutsche Soldaten auch heute noch. Schließlich seien diese gleich ihren Vorfahren „zum neuen Freiheitskriege angetreten“, um den Fortbestand des deutschen Volkes zu verteidigen.
Bleiben Sie auf dem Laufenden. Abonnieren Sie jetzt den Merkur-Newsletter.
Man möchte meinen, wer solche Freunde hatte, brauchte in der DDR keine Feinde mehr. Aber mitnichten, die bekannten Narrative kehrten in leicht veränderter Form bald zurück: Arndt, der Kämpfer für die nationale Einheit und Freund des einfachen Volkes. Diese Wiederentdeckung und Umdeutung Arndts führte in Greifswald im Jahr 1969 – Arndts 200. Geburtstag – zu bis heute unübertroffenen Arndt-Feierlichkeiten. Der Universität wurde vom Präsidenten des Nationalkomitees der Nationalen Front die Arndt-Medaille verliehen. Exkursionen, Schulprojekte, ausländische Delegationen, eine umfassende Berichterstattung und natürlich wieder Reden flankierten den Festakt. Über allem stand die Leitfrage, was Arndt den Bürgern der DDR „heute noch zu sagen hat“. Da war zunächst Arndts Nationalismus als Mittel zum Zweck sozialer Veränderungen wie der Bauernbefreiung. Was 26 Jahre zuvor an selber Stelle unter nationalsozialistischen Vorzeichen gepriesen wurde, verheimlichte man also nicht. Rassismus und Judenfeindschaft Arndts wurden vielmehr mit Verweis auf Engels’ Diktum verharmlost, dass es sich bei „Deutschtümelei“ um eine notwendige Entwicklungsstufe auf dem Weg zum Sozialismus handele.
Anschlussfähig erschien den Greifswalder Historikern Walter Stark und Johannes Schildhauer auch Arndts Kriegspropaganda. Arndt habe, so Stark, durch seine „fortschrittlichen Gedanken über die Pflichten des Soldaten“ den Weg für eine Nationale Volksarmee gewiesen, die sich als wahre Armee des Volkes nicht zu Angriffskriegen missbrauchen ließe. Zu Recht werde sein Vermächtnis von der NVA gepflegt. Schildhauer postulierte, die DDR vollende, „was Ernst Moritz Arndt vor mehr als 150 Jahren vorgeahnt hatte.“ Arndts Aufenthalt in St. Petersburg 1812 sowie seine dort verfasste Kriegspropaganda zog Schildhauer als Beweise deutsch-russischer Freundschaft heran und sah auch hierin seine Relevanz für die DDR: „Arndts anklagende Worte gegen die Kräfte der Reaktion seinerzeit“ träfen heutzutage „in gleicher Weise die imperialistischen und militaristischen Kreise und ihre Helfershelfer in Westdeutschland.“ Folgerichtig überschrieb die Ostsee-Zeitung ihre Berichterstattung mit „Arndts Vermächtnis wird in der DDR erfüllt“.
Die Greifswalder Arndt-Rezeption im Nationalsozialismus und der DDR weist also ein hohes Maß an inhaltlicher Kontinuität auf. Beide verbindet ein vorrangiges Streben nach einer Anpassung Arndts an die politisch-ideologischen Bedürfnisse der eigenen Zeit. Ein Verständnis Arndts aus und in seiner Zeit war nicht von Interesse.
Mit dem Einschnitt der Wende von 1989/90 verlor Arndt in der Erinnerungskultur des wiedervereinigten Deutschland an Bedeutung. In Greifswald vollzog sich ein grundlegender Perspektivwechsel: Nach Jahrzehnten einer durchweg wohlwollenden Arndt-Rezeption verschafften sich nun kritische Stimmen mehr und mehr Gehör. Arndt steht seither eben nicht nur wegen seines Werkes, sondern auch wegen seiner Instrumentalisierung durch die beiden deutschen Diktaturen in der Kritik.
Bei der Frage des Namenspatronats geht es demnach nur zum Teil um die Bewertung des historischen Arndt. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, für welche Tradition ein solches Namenspatronat steht. Vielleicht herrschte gerade deshalb auf Seiten der Arndt-Freunde nach jeder gewonnenen Namensschlacht dröhnendes Schweigen. Anstatt Arndt, wie versprochen, durch Arndt-Tage oder Arndt-Reden in den Kontext einer gelungenen deutschen Demokratie zu stellen, bedachte die Universität ihren Namenspatron mit einer unwürdigen Verklemmtheit. Ohne den Stab über Arndt als historischer Persönlichkeit zu brechen, ist es daher begrüßenswert, dass die Universität Greifswald diesen Teil ihrer Vergangenheit nun endlich vergehen lässt und damit eine inhaltliche Beschäftigung mit Arndt und seinem Werk ermöglicht.
Die Historiker Niels Hegewisch und Knut Langewand haben viele Jahre in Greifswald studiert, geforscht und gelehrt.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.