„Democracy as Data“? – Über Cambridge Analytica und die „moralische Phantasie“
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„Oh my Good, it’s a mirage I’m tellin’ y’all it’s a sabotage
So listen up ‘cause you can’t say nothin‘
You’ll shut me down with a push of your button?“
– Beastie Boys, Sabotage
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin,
weder von der Macht der anderen, noch von der
eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
– Theodor W. Adorno, Minima Moralia
In einem diskursiv ausgeruhten Beitrag zu einem kurzzeitig viral hocherhitzten Artikel zur ‚Big-Data-Bombe’ beobachtet Jan Lietz vor einigen Wochen eine problematische Diskursverknappung: Blinde Annahme auf der einen und unausgewogene Kritik auf der anderen Seite hätten zum Ausbleiben eines produktiven Dissenses geführt. Mit dieser Diagnose hat Lietz sicherlich recht. Doch scheint sich in den Reaktionen auf den Artikel und ihrer Dynamik nicht allein eine ‚Verknappung’ des Diskurses abzuzeichnen; mehr noch handelt es sich um dessen ‚systematische’ Einebnung. Es wurde vor allem deutlich, dass im Milieu einer fragwürdigen Techno-logie die Möglichkeit zur Kritik selbst prekär wird.
In der Polarität von Ablehnung und Zustimmung, dem erhitzten Ja und Nein, das eruptiv durch das Internet waberte, reflektiert sich nicht nur die aufmerksamkeitsökonomische Logik der Medien, sondern auch die des Mediums selbst – das 0 und 1 einer zeitgenössischen Programmierungsarchitektur, die es vermag, komplexe Diskurse in verkürzend-rasende Abstimmungen zu transformieren. Wie selbstverständlich ergibt sich aus dem Design von Facebook, hierauf verwies jüngst der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski, eine Klickkultur, die den explosiven Titel gegenüber dem Gehalt, das Bild gegenüber dem Text, das crazy Katzenvideo mit Gurke gegenüber der differenzierten Argumentation präferiert. Das ‚soziale’ Netzwerk, gerade dies hat nicht nur der Wahlkampf in den USA, sondern eben auch die Rezeptionsgeschichte des Das Magazin-Artikels gezeigt, scheint einen Informationsraum geschaffen zu haben, der Tendenzen verstärkt, Diskussionen auf zwei Seiten einer Medaille zu reduzieren.
In dem Modus der Binarisierung wird vor allem eines immer offensichtlicher: Dass sich die Versprechungen von der digital-demokratischen Selbstbestimmung und der emanzipativen Kraft der Netzwerke als ziemlich fragwürdig herausstellen. Um solche Desillusionierungsprozesse besser zu verstehen, reicht die alarmierte Gegenwartsdiagnose oder Plattformschelte aber genauso wenig wie ein gutgemeinter Appell an den vernünftigen, differenzierten Diskurs. Vielmehr müssten die Grundlagen der heutigen techno-logischen ‚Wahrheitsregime’ analysiert, ihre Herkunft befragt, d.h. zuallererst die Verschränkung der ökonomischen – und offensichtlich auch politischen – Interessen mit kybernetischen Modi erkannt werden, die sich in dem Design sozialer Netzwerke wie auch hinter den Programmen von Cambridge Analytica (CA) reflektieren.
Ordo ab Chao
Einen wichtigen Hinweis in diese Richtung gibt etwa das BR-Interview mit einem der Autoren des Das Magazin-Artikels, Hannes Grassegger: „Wir haben es mit einem absolut opportunistischen Akteur zu tun“, erklärt er zu CA, „dessen Hauptinteresse ist nicht mal die Wahl an sich.“ D.h. für die tech company CA ist es nicht relevant, für wen sie das Targeting einsetzt, welche Inhalte und Positionen sie damit unterstützt, wie sie damit potenziell Gesellschaften beeinflusst, sondern lediglich dass ihre Methode gegen Zahlung genutzt wird. Die multioptionale Anwendbarkeit der Technologie, die proklamierte Inhalts- und Ideologielosigkeit der digitalen Infrastruktur (man denke etwa an die frühe Position Mark Zuckerbergs im Rahmen der Fake-News-Kontroverse) ist dabei zwar ein gutes Verkaufsargument, wird aber zum realpolitischen Problem. Denn was sich in der Agenda der tech companies artikuliert, ist nicht nur ein neoliberaler Opportunismus, sondern eine schlichte, technologische (A-)Moral der Machbarkeit, die unterschiedlichsten Akteuren, Aktanten und Ideologien zur Verfügung steht. In diesem politisch bedenklichen Komplex akzentuiert sich nun aber, neben den – auch trivialen – Einsichten, dass die Werkzeuge des Homo Faber immer ambivalent bzw. pharmakologisch und Unternehmensziele eher gewinnorientiert ausfallen, noch eine weitere, wesentliche Entwicklung: Dass sich nämlich in der Gemengelage aus ökonomische Interessen, politischen Ambitionen und technologischen Möglichkeiten, die Horizonte einer Regierungspraxis formieren, in der sich der neoliberale Geist mit einem kybernetischen Steuerungswissen assoziiert.
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So wird in dem Vorgehen eines Unternehmens wie CA vor allem konkret, was Tiqqun schon vor einigen Jahren als „kybernetische Hypothese“[1] beschrieb, ein technokratisches Realitätsverständnis, das biologische, physische und soziale Verhaltensweisen als programmierbar betrachtet, sodass der Mensch – modellaffin argumentiert – „zu einer fleischlosen Hülle […], zum bestmöglichen Leiter der gesellschaftlichen Kommunikation, zum Ort einer unendlichen Rückkopplung“[2] ‚avanciert’. Das AutorInnenkollektiv erklärt das Individuum damit nicht gleich zum Maschinenwesen oder Cyborg, eher zur Projektionsfläche allerlei programmindustrieller Bestrebungen. In Kybernetik und Revolte führt Tiqqun ferner aus, wie kybernetische Begriffe wie Feedback, Selbstregulierung und Information immer tiefer in das gesellschaftliche Imaginäre hineingewachsen sind, sodass es nicht verwunderlich ist, dass zeitgenössische Ich-Konzepte von allerlei Imperativen des autopoietischen ‚Funktionierens’ – der Selbstoptimierung – umstellt sind.[3] Auch die heutigen Gesellschaftsentwürfe scheinen fast konstitutiv an die Begriffe und Segnungen der Technologien gebunden zu sein, sodass der Status quo ein Jenseits der „offenen Maschine“[4] – zeitgenössische ‚Utopien’ werden weitestgehend im Silicon Valley fabriziert – zumeist weder als denkbar noch als wünschenswert darstellt. In dieser Hinsicht scheint es fast logisch, dass gerade in einer von Ungewissheiten bestimmten, chaotischen Gegenwart ‚systematische’ Lösungen und ihre Ordnungsvorstellungen auch das Politische verstärkt affizieren, sodass sich der techno-logische Modus Operandi, die kybernetische Gouvernementalität, sukzessive etabliert und manifestiert.[5]
Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass die kybernetische Regierungspraxis nicht auf eine unidirektional-digitale machine à gouverner zielt, die per Knopfdruck Massen bewegt, ihre Kontrollreflexe sind subtiler, fokussieren die incentivierte Selbstregulation. Im Zentrum stehen nicht die autoritäre Disziplin, der Befehl usw., sondern Verführungen, Verlockungen, Anstöße, Einflüsterungen, anregende Angebote – das Management von Stimmungen. So wird nach Bernard Stiegler nicht mehr gefragt, „wie man die Bevölkerung als Produktionsmaschine kontrollieren kann, sondern als Konsummaschine. Heute steht also nicht mehr die Biomacht auf dem Spiel, sondern die Psychomacht, die der Kontrolle und Erzeugung von Motiven dient.“[6]
Derlei ‚motivationale’ Bestrebungen sind keineswegs eine Erfindung des 21. Jahrhunderts, denn bereits 1928 erklärte der Erfinder der PR, Präsidenten-Berater und Neffe Siegmund Freuds, Edward Bernays, in seiner Marketingbibel Propaganda: „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.“ Propaganda – der Begriff hatte damals noch keine wesentlich negative Konnotation –, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit seien, so Bernays, notwendig, denn „wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich.“[7]
Mit den neuen Big Data-Technologien hat sich das Spielfeld der Anstöße ungemein vergrößert und gleichzeitig differenziert. CA spricht davon, auf über 230 Millionen Einzelprofile zurückgreifen und 175 000 verschiedene Botschaften adressieren zu können. Der Mensch kann, so die Versprechungen des Unternehmens, immer genauer bestimmt, psychometrisch ausgelesen, kalkuliert werden, denn er folgt spezifischen Mustern, Gewohnheiten, Interessen und Bedürfnissen, die forciert, intensiviert und somit (auch im Sinne demokratischer Wahlhandlungen) ausgerichtet werden können.
Technik und ihre ‚Neutralität’
Der Philosoph Günther Anders schreibt: „Nichts ist irreführender als die […] ‚Philosophie der Technik’, die behauptet, Geräte seien erst einmal ‚moralisch neutral’: stünden also dem beliebigen Gebrauch frei zur Verfügung; das einzige worauf es ankomme, sei, wie wir sie benutzen“[8] und schließt den Gedanken: „Diese sehr weit verbreitete These muss bekämpft werden. Und zwar deshalb, weil sie jedem Apparat eo ipso den Vortritt einräumt und den Philosophen zum Nachzügler ernennt. Weil sie unterstellt, daß die Formulierung des moralischen Problems immer erst nachträglich einzusetzen brauche.“[9] Diese Kritik ließe sich gerade in Hinblick auf die neuen ‚Medien’ erweitern, denn Techniken wie Big Data sind niemals nur Techniken, ihnen scheint immer auch eine Kontrolllogik eingeschrieben – MedienwissenschaftlerInnen erinnern gern an die Geburt der Kommunikationstechnik aus dem Geiste des Militärs –, in der ein Moment der Macht vorinstalliert ist. Im Zuge technologischer Entwicklung und im Dunstkreis emanzipativer Optimierungsphantasmen wird dieser Machtanspruch im Einklang mit einem „Diktat zur Interkonnektivität“[10] und dem „beständige[n] und unmerkliche[n] Eindringen von Sendekanälen in das gesellschaftliche Fleisch“[11] noch verstärkt. Heute muss, so das Credo, alles vernetzt, verschaltet und verdrahtet werden – wer dieses Unternehmen problematisiert oder gar kritisiert, wird zur Störquelle – erzeugt Noise.
Gerade in der Aufregung um den Das Magazin-Artikel, die ihrerseits wenig dazu beitrug, eine konstruktive Diskussion über den Sinn und Unsinn des politischen Einsatzes Big Data-basierten Targetings zu forcieren, wird dieser Umstand besonders ersichtlich. Nach anfänglichem Zuspruch überlagerte schnell ein Stimmenkonsortium – von Digital-BeraterInnen und tech-affinen AutorInnen –, der „Leute vom Fach“, die den Artikel „zum Glück“ sogleich relativierten – und damit die Ablehnung des Artikels, die Debatte. Aus einer narrativ aufbereiteten Reportage blieb schließlich kaum mehr als die Frage übrig, ob sie wahr oder selbst fake sei. Der eigentliche Problemgehalt ging weitestgehend im Lärm der Widerreden unter, sodass der Artikel recht schnell als monokausaler Sinnstifter oder „linke Verschwörungstheorie“ eingeordnet wurde. So wurde etwa argumentiert, dass die Steuerungstechnologien von Facebook nicht als total zu bezeichnen seien, da Inhalte wie der Das Magazin-Artikel noch nicht zensiert würden und frei zirkulieren könnten. Die Tech-Reporterin und Digitalista-Cofounderin Elisabeth Oberndorfer beruft sich in der NZZ neben dem Argument, dass CA nicht so erfolgreich sei wie angenommen, darauf, dass Hillary Clinton wohl ähnliche Programme angewandt habe (einzuwenden wäre hier, dass die Verbreitung solcher Methoden die Problematik doch vielmehr verschärft denn entschärft). Die Rezeptionsproblematik erreicht aber ihren Höhepunkt, wenn der – wie von der Autorin eingeräumt – „journalistische Text mit Fakten“ in einem fort mit „Fake News“ analogisiert und wenn schließlich thetisch festgestellt wird, dass die virale Karriere des Textes mit dem knalligen Titel vor Augen führe, dass sich auch „Intellektuelle“ in einer Filter-Bubble befänden (berechtigterweise kann man sich hier fragen, ob es Statistiken darüber gibt, wer den Artikel warum und wie gelesen und aus welchen Gründen geteilt hat – nicht jeder mag darin endlich das vermeintlich ersehnte monokausale Erklärungsmodell für die Wahl Trumps gefunden zu haben). Auch das Zwischen-Fazit des Textes scheint mehr als bedenklich: „die polemische Kritik an Big Data ist genauso kurz gegriffen und populistisch wie die Hetze, die Trump-Unterstützer verbreiten“.
Wenig Gehör fanden vor diesem Hintergrund die Einschätzungen von Big Data-ForscherInnen und WissenschaftlerInnen, etwa von Viktor-Mayer-Schönberger oder Vesselin Popov („auch innerhalb des gesetzlichen Rahmens lässt sich in Europa [mit CA-Techniken] ein enormer Schaden anrichten.“), und so blieb auch die Debatte über den Fakt, dass Wahlkampfteams überhaupt daran denken, Firmen wie CA zu beauftragen, die BürgerInnen mit Big Data-Tools zu durchleuchten, weitestgehend aus. Das populärste Argument, dass die Technologie von CA noch nicht zielgenau funktioniere, wurde kaum hinterfragt, denn obgleich die ‚Experten’ eigentlich wissen müssten, dass die Big Data-Technologien gerade während ihrer praktischen Anwendung und der Skalierung der Datenmenge ihre Tauglichkeit entwickeln, ging dieser Punkt in den antagonistischen Wellen aus zustimmendem Sharen und restriktiver Ablehnung unter. Dass mit zeitlicher Verzögerung ausgeruhtere Positionen das Geschehen „in der Meinungsschleuder“ Facebook kommentierten, seine Gefahren auch politisch einordneten, half den Autoren des Das Magazin-Artikels kaum – inmitten der kurzfristig heftigen Kritik blieb Ihnen nur übrig, die Inhalte ihrer Arbeit zu relativieren – auch dort, wo es womöglich keiner Relativierung bedurfte. Betrachtungen, wie etwa die des FAZ-Feuilletonisten Uwe Ebbinghaus, der einige Wochen nach dem Hype davor warnte, dass “das europäische Recht (…) die von Cambridge Analytica durchgeführten Datenanalysen nicht so lückenlos [verbietet], wie sich gerade viele einreden”, erreichten nicht im Ansatz die Aufmerksamkeit der Netzwerkuser. Letzteres wäre nicht sonderlich problematisch, bezögen nicht mittlerweile mehr als 40% der NutzerInnen ihre Nachrichten ausschließlich aus sozialen Netzwerken.
An dieser Stelle wird eine weitere kritische Ebene in der Auseinandersetzung mit dem CA-Artikel flagrant, denn der Aspekt, dass, wie etwa Geert Lovink betont, es in „sozialen Medien […] keine Medien [gibt]“, dass Plattformen wie Facebook, das „(kuratorische) Element der menschlichen Arbeit“[12] fehle, scheint sich nicht nur in den Reaktionen zu spiegeln, sondern vor allem in dem Mangel an Tiefenwirkung, dem Ausbleiben einer politischen Diskussion im Netzwerk selbst. Roberto Simanowski schlussfolgert: „Die Tatsache, dass Facebook neben den Alltagsbanalitäten auch politischen Inhalten eine Plattform bietet, täuscht nicht darüber hinweg, dass sein technisches und soziales Dispositiv durch die Förderung reflexionsarmer Kommunikationsformen und alltagsbezogener Kommunikationsinhalte einer Kultur politischer Diskussion prinzipiell entgegensteht.“[13]
HYPER, HYPER: Democracy as Data
Worauf die Rezeptionsdynamik aus Hype und Gegen-Hype ganz grundsätzlich verweist, ist also die vorprogrammierte Logik des ‚Mediums’, in dem sie sich ereignete. Denn ganz im Sinne eines kryptodialektisch-kybernetischen Dreischritts folgte auf die Nachricht (Artikel) das Feedback (Gegendarstellungen) und schließlich die Selbstregulation eines Systems (Einebnung). So wirkt die Polarisierung in den sozialen Netzwerken wie eine Scheindebatte, die letztlich den polittechnischen Status quo untermauert. Denn obwohl sich nicht alle Meinungen restlos in der negierten Negation des ‚Wohlgefallens’ auflösen, scheint das System in einer Zeit, in der Daten als „Rohstoffe des 21. Jahrhunderts“ gelten, eher reibungslos denn problembewusst weiter zu prozessieren.
Dass der kybernetische Aufriss heute in erster Linie dem ökonomischen Marktkalkül folgt, ist klar, doch wird zunehmend evident, dass die Digitalisierung und Big Data – da bedarf es nicht einmal der Tech-Utopien aus dem Silicon Valley – auch die Effizienz politischer Regierungen zu steigern verspricht. So wird nicht nur der Wahlkampf zunehmend technologisch geführt, auch scheint das alltägliche Regierungshandeln (vom Nudging über die digitale Agenda bis zu dem von Evgeny Morozov beschriebenen „Solutionism“) den Imaginationshorizont kybernetischer Staatstheorien zu spiegeln, die schon früh die Verknüpfung von Daten und Politik avisierten. Obamas OpenGovernment-Initiative – in seinem Beratungsteam finden sich so klingende Namen wie Eric Schmidt und Jared Cohen (beide Google/AlphabetInc.) oder Tech-ExpertInnen wie Beth Noveck (Autorin von: Smart Citizens, Smarter State: The Technologies of Expertise and the Future of Governing), die die Mechanismen und Abstimmungsszenarien sozialer Netzwerke als neues Regierungsmodell idealisiert –, kann durchaus als Wiedergänger der Ideen von politischen Kybernetikern wie Karl Deutsch[14] oder dem weniger bekannten Eberhard Lang[15] gelesen werden.
Bereits Anfang der 1960er Jahre propagierten diese politischen Theoretiker eine Politik, in deren Zentrum die Erfassung und subtile Steuerung des Gemeinwillens stand. Mithilfe eines sozial implementierten Rückkopplungssystems, das auf adaptive behavior setzte, sollte ein unmittelbarer Zugang zur Bevölkerung und in diesem Sinne eine effektive Kontrolle der Massen – kurz: die Schaffung von Ordnung – ermöglicht werden. Ideal war nicht die politische Kontroverse oder die Möglichkeit, den Willen autonom auf irgendeinem öffentlichen Platz kundzutun, sondern die Einspeisung der Informationen in einen größeren Systemzusammenhang. Stilbildend war eine simple Formel, die im Silicon Valley schon seit Längerem eine Renaissance erlebt: Je mehr Kommunikation, je mehr Information, desto mehr Demokratie – unabhängig von Inhalt und Semantik.
Fehlte politischen Kybernetikern damals noch das praktische Arsenal, um aus ihren staatlichen Rückkopplungsfantasien Wirklichkeit werden zu lassen (am signifikantesten hierfür ist wohl das Scheitern des Managementkybernetikers Stafford Beer in Chile Anfang der 1970er), sollte heute genauer geschaut werden, inwiefern die in den Medienwissenschaften vieldiskutierte Kybernetisierung sich derzeit im Feld des Politischen ausbreitet. Exemplarisch ließe sich Parag Khannas jüngst erschienenes Technocracy in America anführen, das ein Modell einer ‚direct technocracy’ im Verbund mit einem sogenannten „info-state“ vorschlägt – kurz: „democracy as data“[16]. Im Zentrum steht hier die Überlegung, dass ExpertInnen (nicht PolitikerInnen) Entscheidungen auf Basis von Daten, die idealerweise zu ‚long-term goals’ führen, treffen – denn, so Khanna: „A devolved world of info-states is indeed the surest path to a more genuinely democratic world.“[17] Ein erwähnenswertes Vorbild Khannas für solch eine Regierungsform ist dabei China, wobei im Buch nicht angeführt wird, dass die Volksrepublik plant, bis 2020 ein umfassendes „social credit system” einzuführen, um qua digitaler Kontrolle und Nudging ‚sozial erwünschtes Verhalten’ – die „Mentalität der Ehrlichkeit“ – zu fördern.
Doch nicht nur das permanente Potenzial einer totalitären Verwendungen der Daten; auch, dass im Zeichen der Kybernetik demokratische Teilhabe durch bloße Teilnahme substituiert, Gerechtigkeit als equal access gedeutet werden[18], dass das Politische schließlich selbst zu verschwinden droht (Khannas „democracy without politics“ ist nur das jüngste Beispiel), sollte genauso zu denken geben wie die programmatische Reduzierung von Gesellschafts- auf Netzwerkkonzepten. Denn dass etwa die Protestierenden von Occupy Wallstreet, indem sie technologieaffin Netzwerklogiken priorisieren, ‚grundsätzlich’ den gleichen Systemlösungen anhängen wie ihre Gegner von der Wallstreet, lässt an jeder politischen Einbildungs- und Durchschlagskraft zweifeln und den Mangel an Alternativen sichtbar bis problematisch werden.[19] Der Medienphilosoph Dieter Mersch erklärt dieses zeitgenössische, imaginative Defizit über eine fundamentale „Verkennung, die annimmt, dass die Netze oder Kanäle ein genuin basisdemokratisches Potenzial besäßen, dass aus ihnen herrschaftsfreie Räume gebildet werden könnten, dass sie technologisch umprogrammierbar seien, weil sie – im Prinzip – jedem Nutzer die gleichen Chancen und Mittel zur Verfügung stellen.“[20] Mersch konstatiert vielmehr: „Das Gegenteil ist der Fall: Sie [die Netze, Anm. d. Verf.] sind Regime der Ermächtigung, der Dressur. […] Wenn deshalb die Rede von ihrer Demokratisierung überhaupt sinnvoll sein kann, dann bestenfalls in der Bedeutung der Egalisierung der Kontrolle, ihrer Interiorisierung durch Selbstanschluss.“[21] Ein Jenseits dieses Zirkels scheint in dieser Beschreibung ‚ausgeschlossen’, sodass die zukünftigen Hoffnungen gegenwärtiger Realpolitik augenscheinlich allein in den Möglichkeiten einer transparenteren Technik, den genaueren Geräten, besseren Big Data-Analysen etc. liegen. Dass sich die Bundesregierung neben den Bemühungen, „wirksam zu regieren“, zuletzt intensiv dafür einsetzte, die Zweckbindung von erhobenen Daten im Rahmen der umstrittenen Entwürfe zur neuen EU-Datenschutzgrundverordnung möglichst aufzuheben, ist nur ein signifikantes Beispiel für eine grundlegende Tendenz. Denn jüngst warnte auch die Bundeskanzlerin, Deutschland drohe zukünftig der Status eines digitalen „Entwicklungslandes” aufgrund eines „überzogenen Datenschutzes“. Mit solchen Erklärungen lässt sich der kybernetische Kontrollstaat noch lange nicht ins Passepartout setzen, doch scheint der Ideenhorizont – in den USA spekuliert man derzeit, Mark Zuckerberg könne alsbald zur Präsidentschaftswahl antreten, während die Regierung Dänemarks beabsichtigt, einen „digitalen Botschafter” zu ernennen, der die Kontakte des Landes zu Apple, Google & Co. pflegen soll – in eine ganz spezifische, techno-logische Richtung zu weisen.
Was die politische Ausrichtung – dies gilt für sämtliche, nicht nur die Regierungsparteien – heute vor allem zu bezeugen scheint, ist also die Absenz desjenigen, das Günther Anders, in einer Zeit, in der die Kybernetik kontrovers diskutiert wurde,[22] „moralische Phantasie“ nannte und ihm zu einem ‚Werkzeug’ unangepasster Kritik wurde: gemeint war hier „die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also das Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten.“[23]
Anders’ Ausführungen zielen also auf die Fähigkeit, die Konsequenzen des technisch Gemachten zu beleuchten, ihre Wirkmächtigkeit auch und gerade auf ihre destruktiven Potenziale hin zu befragen. Heute hieße dies wohl konkret, die Gestaltung digitaler Infrastrukturen, der Interfaces und Applikationen sozialer Netzwerke u.ä. nicht ausschließlich InformatikerInnen und DesignerInnen zu überlassen, denn wenn Algorithmen die moralischen Vorstellungen und das Wertesystem seiner ProgrammiererInnen in sich tragen, sollte zumindest darüber nachgedacht werden, ob die Faszination für die Möglichkeiten der Technologie nicht auch von einer professionellen Skepsis begleitet werden sollte.
An dieser Stelle ließe sich schlussfolgern, dass es neben einer demokratischen Debatte um die Urheberschaft und Verfügungsmacht über unsere Daten (bzgl. WählerInnen-Targetings) einerseits und die Zukunft der EU-Datenschutzgrundverordnung andererseits, heute auch einer Auseinandersetzung mit der ‚kritischen’ Frage bedarf, wie „die Digitalisierung den Charakter des Politischen überhaupt affiziert.“[24] Vor diesem Horizont wäre es schließlich essentiell, Netzwerke nicht mit einem per se politisch tragfähigen Gesellschaftskonzept zu verwechseln, sondern vielmehr über das Verhältnis zwischen Technik und Politik – jenseits der Pole blinder Technophilie auf der einen und unproduktivem Ressentiment auf der anderen Seite – zu diskutieren. Das hieße dann aber auch, über ‚revolutionäre’ Entwicklungen und Verschiebungen zu beraten, die Günther Anders schon Anfang der 1980er Jahre diagnostizierte; dass, sofern die Technik nämlich erst einmal in die politischen Strukturen Einzug gehalten hat, „von Tag zu Tag weniger“ gelte, „daß sie sich innerhalb des politischen Rahmens entwickelt. Vielmehr tritt dann eine wirkliche Umwälzung ein, das heißt: dann nimmt die Bedeutung der Technik so überhand, daß sich das politische Geschehen schließlich in deren Rahmen abspielt.“[25]
[1] Tiqqun, Kybernetik und Revolte, Zürich-Berlin 2007, S. 13.
[2] Ebd., S. 32.
[3] Vgl. Ulrich Bröckling, „Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie“. In: Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik. Hg. v. Erich Hörl und Michael Hagner. Frankfurt a.M. 2008.
[4] Gilbert Simondon, Die Existenzweise technischer Objekte, 2. Aufl., Zürich 2012, S. 11.
[5] Vgl. Dieter Mersch, Ordo ab chao – Order from Noise, Zürich 2013, S. 94.
[6] Bernard Stiegler, Von der Biopolitik zur Psychomacht. Die Logik der Sorge I.2. Frankfurt a.M. 2009. S. 60.
[7] Edward Bernays, Propaganda, Freiburg 2007, S. 19f.
[8] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Band II. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 216.
[9] Ebd., S. 217.
[10] Dieter Mersch, Ordo ab chao – Order from Noise. Zürich 2013, S. 60.
[11] Jean-François Lyotard, Libidinöse Ökonomie, Berlin 1988, S. 253f.
[12] Geert Lovink, “Plattform-Kapitalismus”, Lettre International 115, S. 48.
[13] Roberto Simanowski, Facebook-Gesellschaft, Berlin 2016, S. 155.
[14] Vgl. Karl Deutsch, The Nerves of Government: Models of Political Communication and Control, New York 1963.
[15] Vgl. Eberhard Lang, Zu einer kybernetischen Staatslehre, Salzburg – München 1970; sowie: Ders., Staat und Kybernetik. Prolegomena zu einer Lehre vom Staat als Regelkreis, Salzburg – München 1966.
[16] Parag Khanna, Technocracy in America: Rise of the Info-State, North Charleston 2017, S. 80.
[17] Ebd., S. 113.
[18] Vgl. hierzu insbesondere Mersch, Ordo ab chao.
[19] Vgl. Comité Invisible, Fuck Off, Google, verfügbar unter: https://theanarchistlibrary.org/library/the-invisible-committe-to-our-friends#toc16 [zuletzt abgerufen am 11.12.2016]
[20] Mersch, Ordo ab chao, S. 55.
[21] Ebd., S. 56.
[22] Vgl. exemplarisch für den diesbezüglichen philosophischen Diskurs der 60er Jahre etwa Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964; Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als ‘Ideologie‘, Frankfurt 1968 und Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band I, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980.
[23] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band I, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980, S. 273
[24] Martin Burckhardt, “Geisterdämmerung”, Lettre International 115, S. 36.
[25] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band 2, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 108.