Gegenstrebige Fügung. Zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an Rüdiger Safranski

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„-Herr Safranski, niemand hat das Wesen des Deutschen so genau analysiert wie Sie. Was ist in Deutschland los?

Um es knapp auszudrücken: Es herrscht in der Politik eine moralistische Infantilisierung.

– Und weniger knapp?

Deutschland hat nach 1945 als besiegte Nation ihre Souveränität verloren. Bis zum Mauerfall 1989 hatte Westdeutschland außenpolitisch eine bequeme Existenz: Wir standen unter dem Schutzschild der Amerikaner und waren für nichts verantwortlich. Da wir nicht für uns sorgen mussten, wurden wir infantil. Wir wussten nicht mehr, was Außenpolitik bedeutet. Erst 1989 wurde Deutschland wieder souverän und bewegt sich bis heute sehr unsicher auf dem internationalen Parkett. Wir schwanken zwischen ökonomischem Selbstbewusstsein und einem weltfremden Humanitarismus. Unsere Außenpolitik wird zu einer moralischen Mission.

– Die eigenartige Willkommenskultur, bei der Asylsuchende von einem Jubelchor empfangen werden, ist das Resultat davon?

Überall in Europa außer in Schweden sagt man: «Die Deutschen spinnen.» Das Unreife der deutschen Politik kommt in der Maxime zum Ausdruck, bei Flüchtlingen dürfe man keine Grenzen setzen. Da wird etwas nicht zu Ende gedacht. Denn gemäß heutiger Praxis wären, gemessen an den hiesigen demokratischen und ökonomischen Standards, zwei Drittel der Weltbevölkerung in Deutschland asylberechtigt. Dass unsere Flüchtlingspolitik einem Denkfehler unterliegt, müsste einem spätestens da auffallen.
[…]
– Ist es nicht normal, dass starke Staaten den weniger starken ihre Wertvorstellungen aufdrücken wollen?

Die infantile Weltfremdheit, die sich dann im Moralismus ausdrückt, ist schon ein sehr spezifisch deutsches Phänomen. Großbritannien und auch Frankreich sind diesbezüglich viel reifer. Die wissen zum Beispiel, dass es zu einem souveränen Staat gehört, dass er seine Grenzen kontrolliert. Wenn eine Staatschefin wie Angela Merkel sagt: «Wir können die Grenzen gar nicht mehr kontrollieren», reiht man sich ein unter die zerfallenden Staaten, wie jene in Afrika. Ein Brite oder Franzose würde das nie sagen, ein Schweizer auch nicht.

– Sie gehören zu den wenigen Intellektuellen, die sich kritisch zur Europa- und Flüchtlingspolitik äußern. Bei diesen Themen herrscht unter Kultur- und Medienleuten sonst ein enormer Konformitätsdruck: Wer nur ein bisschen abweicht von der «Flüchtlinge willkommen»-Rhetorik, gilt als Unmensch, als Hetzer, womöglich als Rechtsextremer.

– Woher kommt das?

Einerseits lebt die linke und linksliberale Szene von einem verklemmten Verhältnis zur Nation. Die Selbstbehauptung einer Nation setzt aber ein unverklemmtes Verhältnis zu ebendieser Nation voraus. Bei deutschen Intellektuellen gibt es so etwas wie einen nationalen Selbsthass, der sich in einen realitätsfremden moralischen Universalismus flüchtet. In einem Land wie Deutschland, das so viel Schuld auf sich geladen hat, traut man sich nationale Interessenvertretung nur zu, wenn sie als moralische Mission oder als Europa-Ideologie verkauft werden kann. Deshalb auch die ganzen Multikulti-Vorstellungen.
[…]
An der deutschen Literatur, Philosophie oder Malerei ist gerade zu bemängeln, dass es inzwischen zu wenig Sonderweg gibt, dass alles so ist wie überall. Wie wunderbar anders war das zum Beispiel zur Zeit der Romantik oder des deutschen Idealismus.
[…]
Ein Großteil der Flüchtlinge sind junge Männer im besten Alter, bei denen man sich wundert, weshalb die ihre virile Energie nicht gebrauchen, um ihr Land wieder in Ordnung zu bringen. Manche von ihnen ¬haben dort gegeneinander gekämpft, und sie werden ihre Verfeindung hierhertragen und hier unter komfortableren Bedingungen ihre Kämpfe fortsetzen. Ich höre schon den Vorwurf der Islamophobie. Aber den politischen Islam haben wir tatsächlich zu fürchten, wenn wir ihn nicht dort, wo er uns feindlich gesinnt ist, entschieden bekämpfen. Wenn wir nicht aufpassen – und die gegenwärtige politische Führung passt nicht auf –, werden wir französische Verhältnisse bekommen mitsamt Terrorismus und islamischem Antisemitismus.“

Rüdiger Safranski, „Politischer Kitsch. Interview mit Rico Bandle“, Weltwoche, 2015

„Herr Menzel sagt: ich hätte den deutschen Patriotismus für eine Narrheit erklärt, aber den französischen Patriotismus gelten lassen. Ich zöge gegen die Deutschen im Interesse der Franzosen zu Felde und wollte unter der Maske der Freiheit nur das Franzosentum ausbreiten. Ich verhöhnte die Geister der deutschen Helden, die für ihr Vaterland geblutet. Ich hätte mich von der deutschen Nation losgesagt, ohne mich vorher umzusehen, was ich durch den Übertritt zu einer anderen Nation gewinnen könnte. Die Demoralisation in Frankreich hätte ich getadelt, aber die in Deutschland hätte ich gelobt. Ich suchte den Deutschen selbst alles Deutsche gehässig, verächtlich, lächerlich, alles Französische aber wünschenswert zu machen und den Franzosen alle Mittel und Wege zu zeigen, wie sie über die Deutschen Meister werden können.
[…]
Die unwandelbare Freundschaft und der ewige Friede zwischen allen Völkern, sind es denn Träume? Nein, der Haß und der Krieg sind Träume, aus denen man einst erwachen wird. Welchen Jammer hat nicht die Liebe des Vaterlandes schon der Menschheit verursacht! Wie viel hat diese lügnerische Tugend nicht an wilder Wut alle anerkannten Laster übertroffen! Ist der Egoismus eines Landes weniger ein Laster als der eines Menschen? Hört die Gerechtigkeit auf, eine Tugend zu sein, sobald man sie gegen ein fremdes Volk ausübt? Eine schöne Ehre, die uns verbietet, uns gegen unser Vaterland zu erklären, wenn die Gerechtigkeit ihm nicht zur Seite steht! […] Was mich betrifft, so war ich, Gott sei Dank, nie ein Tölpel des Patriotismus; dieser Köder des Ehrgeizes, sei es der Könige, sei es der Patrizier oder der Völker, hat mich nie gefangen. […] Die Nationen sind nicht weniger Egoisten als die Individuen; sie achten gewöhnlich nicht viel auf die Leiden anderer Völker und langweilen sich bald bei ihren Klagen. Sie sind aller Zeit bereit, ihre eigne glückliche Lage ihrem Mute, ihrer Beharrlichkeit, ihrer Geschicklichkeit zuzuschreiben; und das Mißgeschick der andern Völker deren Schwäche, Unbeständigkeit oder Tölpelei.
[…]
Ich habe nicht den deutschen Patriotismus allein, ich habe auch den französischen und jeden andern verdammt, und ich habe ihn nicht für eine Narrheit erklärt, sondern für mehr, für eine Sünde.
[…]
Herr Menzel frägt, ob man so in aller Geschwindigkeit den Patriotismus in der Welt ausrotten könne? Es ist aber nicht die Rede von dem, was man kann, sondern von dem, was man soll. Vom Ausrotten des Patriotismus ist gar nicht die Rede, sondern von der Vertilgung aller Schändlichkeiten, die der Egoismus der Fürsten und der Völker mit dem Namen Patriotismus umschleierte. Von aller Geschwindigkeit ist am wenigsten die Rede. Wir gewähren noch ein Jahrhundert, bis die Völker Europens, bis besonders die Franzosen und die Deutschen, zur Einsicht gelangen, daß von ihrer Einigkeit ihr Glück und ihre Freiheit abhängen.
[…]
Er spricht von meinem sichern Versteck in Paris und gibt sich eine überflüssige Mühe, sich lächerlich zu machen. Soll ich etwa in Frankfurt schreiben? Ich wäre dort versteckter, als ich es in Paris bin, und wenn Herr Menzel mich zu sprechen wünscht, wird ihn eine Reise nach Paris weit weniger kosten, als es ihn kosten würde, meinen Gefängniswärter zu bestechen. Diese Menschen sprechen von Versteck! Ihr sprecht aus eurem sichern Versteck hervor. Nie würdet ihr wagen, die deutschen Flüchtlinge anzukläffen, wenn ihr nicht wüßtet, daß die Kette der Zensur, an der ihr selber liegt, und das Gitter der Polizei, das euch einschließt, euch gegen die verdiente Züchtigung schützt.
[…]
Menzel ist der erste nicht, der aus einem Freunde der Freiheit ihr Feind geworden, nicht weil er seine Gesinnung gewechselt, sondern weil er die Macht nicht mehr hatte, der Freiheit nützlich zu sein, oder den Mut verloren, sich öffentlich ihren Freund zu nennen. Es gab schon viele solcher Menschen, die aus der Not eine Tugend gemacht, die es aber nicht dabei bewenden ließen, was noch verzeihlich geblieben wäre, sondern die jene erzwungene Tugend sich selbst als freie Tugendhaftigkeit, die Not derer aber, die ihre Not treu fortgefühlt, diesen andern als Halsstarrigkeit, Blödsinn oder Ruchlosigkeit angerechnet.
[…]
Die nächsten Jahrhunderte werden weder den Deutschen noch den Franzosen noch sonst einem andern Volke oder einem Fürsten gehören; sondern der Menschheit.
[…]
Wahrhaftig, es gibt Einfältigkeiten, die einen ganz aus der Fassung bringen können. Ich stehe verdutzt wie ein Narr mit offenem Munde da und weiß gar nicht, was ich sagen soll.

Ludwig Börne, Menzel der Franzosenfresser (1837)

„Und dann seine verfluchten Bemerkungen, die einem den Appetit verdarben. So z. B. kroch er mir mal nach in den Restaurant der Rue Lepelletier, wo damals nur politische Flüchtlinge aus Italien, Spanien, Portugal und Polen zu Mittag speisten. Börne, welcher sie alle kannte, bemerkte mit freudigem Händereiben: wir beiden seien von der ganzen Gesellschaft die einzigen, die nicht von ihrer respektiven Regierung zum Tode verurteilt worden. »Aber ich habe«, setzte er hinzu, »noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, es ebensoweit zu bringen. Wir werden am Ende alle gehenkt, und Sie ebensogut wie ich.“

Heinrich Heine, Über Ludwig Börne (1840)