Macron und die politische Philosophie

Während Angela Merkels vorsichtig-erbarmungsloser Pragmatismus theoretischen Annäherungsversuchen kaum Chancen lässt, lädt die Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Staatspräsidenten zur philosophischen Ortsbegehung geradezu ein. Dass Macron dem Liberalismus zu einem unverhofften Sieg verholfen hat, bezweifeln in Frankreich nur wenige. Doch Uneinigkeit herrscht in der Frage, in welche liberale Ahnenreihe sich der ehemalige Philosophiestudent Macron einreiht.

Immer wieder wurde versucht, Parallelen zwischen Macrons Programm und Raymond Aron, dem wohl größten französischen Cold War Liberal, zu ziehen, schließlich hatte Aron, dem Mitterrands gemeinsames Programm mit den Kommunisten ein Dorn im Auge war, sich 1974 und 1981 auf die Seite von Valéry Giscard d’Estaing geschlagen. Nach Arons Tod fanden sich Schüler und Gleichgesinnte im Centre Aron an der École des hautes études en sciences sociales zusammen und prägten das intellektuelle Geschehen nicht zuletzt durch Monatszeitschriften wie Commentaire (die 1978 ins Leben gerufen wurde) und Le Débat (gegründet 1980).

Blickt man auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung dieser beiden Zeitschriften in den letzten zwanzig Jahren zurück und vergleicht sie mit Macrons politischer Orientierung, überwiegen jedoch die Unterschiede. Gerade Pierre Manent, der Arons Assistent am Collège de France war, steht für eine zunehmend defensive Idee von Freiheitlichkeit, die sich paradoxerweise vom Siegeszug des ökonomischen Liberalismus nach dem Ende des Kalten Kriegs nie wirklich erholt hat. Wie lässt sich eine Gesellschaft angesichts der Fliehkräfte des Weltmarktes überhaupt noch zusammenhalten, fragte Manent 2013 beunruhigt:

Es geht längst nicht mehr darum, unsere Volkswirtschaft durch eine vernünftige Dosis Wettbewerb auf Vordermann zu bringen, denn diese Volkswirtschaft – als Ort, an dem Bürger [le corps civique] einer Arbeit nachgehen – siecht seit zwanzig oder dreißig Jahren vor sich hin. Während einst das Zusammenwirken der Produzentenin den Fabriken, in denen der Klassenkampf stattfand, den bürgerlichen Zusammenhalt im Rahmen der demokratischen Nation stärkte, fahren unsere großen Firmen mittlerweile einen wesentlichen Teil ihrer Profite im Ausland ein, wie sie unablässig betonen, um uns dazu anzuhalten, „mehr zu arbeiten“. Die politische Gemeinschaft ist im Grunde keine Gemeinschaft der Arbeit mehr, sondern vielmehr eine Gemeinschaft der Nichterwerbstätigkeit. Unsere Firmen sind in Shanghai, Mumbai und Dubai tätig. […] In Frankreich nehmen wir Pflegedienste in Anspruch, wir beziehen Arbeitslosengeld, wir gehen in Rente. Wenn ich hier auf diese wirtschaftliche Ausweidung unseres politischen Körpers zu sprechen komme, dann lediglich, um mir meine eigene Perplexität als Bürger vor Augen zu führen. Mir scheint, dass Liberale und Antiliberale angesichts dieses Problems gleichermaßen unglaubwürdig wirken.

Für Aron und seine Gefolgsmänner war der Antikommunismus in den siebziger und achtziger Jahren eine geradezu identitätsstiftende Kraft, er war die eigentliche Triebfeder ihrer liberalen Überzeugung. Ausgerechnet mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus trübte sich der geschichtsphilosophische Ausblick für sie ein. Die Kräfte, die der Kampf gegen den autoritären Staatsmarxismus band, konnten sich nun frei entfalten. Fortan galt es, kollektive Schutzräume zu sichern. In Frankreich tat sich zunehmend eine Kluft zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus auf.

Eine Zeitlang sah es so aus, als ob Europa – bei verminderter Intensität –  die Rolle spielen könnte, die einst dem Antikommunismus zukam. Tatsächlich spaltete die Entwicklung der EU den französischen Liberalismus. Zunächst berief sich Jean-Claude Casanova, dessen Zeit als Präsident der für die Kaderschmiede Sciences Po zuständigen Fondation nationale des sciences politiques von finanziellen Unregelmäßigkeiten überschattet wurde, auf Raymond Aron als Fürsprecher eines föderal verfassten Europa. Für die liberalen Denker Manent und Marcel Gauchet, seit 1980 Chefredakteur von Le Débat, war allerdings längst klar, dass Europa Teil des Problems ist, da die politische Nation durch die Verlagerung von Kompetenzen an die Kommission in Brüssel und den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg mehr und mehr die Fähigkeit einbüßt, die Folgen der weltwirtschaftlichen Vernetzung regulierend aufzufangen. Gelehrten Zuspruch erhielten sie von dem Historiker Joel Mouric, der in seiner Studie Raymond Aron et l’Europe aufzeigt, dass Aron sich gerade als Liberaler einem Europa der Nationen verpflichtet fühlte. Ein Europäischer Bundesstaat war bestenfalls eine Möglichkeit, die in ferner Zukunft lag, schlimmstenfalls ein irreführendes Hirngespenst übereifriger Technokraten. In der Nachfolge von Raymond Aron kristallisierte sich eine Neueinschätzung des Nationalen heraus, die sich nur schwerlich mit Macrons Euro-Enthusiasmus vereinen lässt.

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Die von Macron ins Spiel gebrachte Vertiefung der Eurozonen-Integration würde die Souveränität der Nationalstaaten just in dem Moment weiter schwächen, da deren ordnende Kraft dringender denn je gebraucht wird, um der Anomie in Teilen der französischen Gesellschaft Herr zu werden und dem entfesselten Individualismus Einhalt zu gebieten, wie Manent und Gauchet beteuern. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen kaprizierten sich Schlüsselorgane der Neuen Rechten wie Éléments und Krisis auf mögliche Gemeinsamkeiten mit den Vertretern des Nationalliberalismus: Manent und Dominique Schnapper, Arons Tochter, steuerten Beiträge zum Thema „Nation und Souveränität“ bei, Gauchet gewährte ein ausführliches Interview. Natürlich lässt auch Macron bei seinen Auftritten keine Gelegenheit aus, um mit den üblichen Floskeln seine Treue zur ehrwürdigen republikanischen Mission Frankreichs unter Beweis zu stellen. Doch liegt diesem Bekenntnis zur französischen Sonderstellung stets „l’ouverture au grand large“ zugrunde.

Marcel Gauchet sicherte dem frisch gewählten Präsidenten dennoch seine einstweilige Unterstützung zu. Dass Macron sich als liberaler Kandidat, dessen Kampagne von einem „unternehmerischen Optimismus“ getragen sei, durchsetzen konnte, nötigte Gauchet Respekt ab. Wie sich die Spannung zwischen Gauchets und Manents nationalem Republikanismus und Macrons lächelndem Ja zu EU und Globalisierung entwickeln wird, geschweige denn auflösen lässt, bleibt allerdings abzuwarten. Im Augenblick begnügt sich Gauchet, der den Aufstieg Macrons als Bildungsroman liest,  mit wohlwollender Herablassung gegenüber dem Präsidenten: Der „engstirnige, ungenierte und arrogante“ ENA-Absolvent sei zu einem erstaunlich „kultivierten Politiker“ herangereift.

So emphatisch wie Nicolas Truong, Kulturredakteur bei Le Monde, blähte bislang noch niemand Macrons philosophische Meriten auf. Im Zentrum seines politischen Denkens und Handelns stehen, so Truong, die Theorien Paul Ricœurs. Wie eng das Verhältnis der beiden nun wirklich war, wird immer wieder zum Gegenstand einer so fruchtlosen wie heftig geführten Debatte. Half Macron dem betagten protestantischen Philosophen lediglich beim Korrekturlesen eines Buchmanuskripts oder verband die beiden eine innige Freundschaft? Der Historiker François Dosse lehnte sich besonders weit aus dem Fenster. Das Verhältnis zwischen Macron und Ricœur ähnelte der „affektiven Beziehung zwischen einem Adoptivsohn und seinem geistigen (Groß-)Vater“.

Sobald von Ricœurs Einfluss auf Macron die Rede ist, wird es schnell überkandidelt. Die einen feiern Macron als Vertreter eines „hermeneutischen Pluralismus“, andere wie Olivier Abel, Professor für Philosophie und Ethik an der Fakultät für protestantische Theologie der Universität Montpellier, gehen sogar noch weiter. Für Abel stellen die bevorstehenden Arbeitsmarktreformen gleichsam die praktische Vollendung von Ricœurs Denken dar: „Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes [la libération du travail] bei gleichzeitigem Schutz der Bedürftigen, also die Aufrechterhaltung einer nachhaltigen Spannung zwischen zwei scheinbar widersprüchlichen Aussagen, hat etwas zutiefst Ricœurianisches.“ Truong erkennt bei Macron die längst überfällige Verknüpfung von Ricœurs Hermeneutik mit der Theorie der Verwirklichungschancen, die der indische Ökonom Amartya Sen entwickelt hat. Macron selbst bewundert vor allem, dass Ricœur ein anderes 1968 verkörpert habe: keine Revolutionsrhetorik, sondern einen modernisierenden Reformismus. Eine genuine Analyse sucht man dabei jedoch vergeblich, über Floskeln und Schönfärberei gelangt der Vergleich von Macron und Ricœur nicht hinaus. Es ist die Fortsetzung des Wahlkampfes mit philosophischen Mitteln. Truong schreibt oft aufschlussreich über die intellektuellen Entwicklungen in Frankreich, aber erwartet er wirklich, von seinen Lesern ernst genommen zu werden, wenn er schreibt, Macron ziehe „der Dialektik das Dialogische vor“ und bringe „Sozialbonapartismus und liberalen Progressismus“, „oligarchischen Antielitismus und transzendentalen Liberalismus“ in Einklang? Solche Begriffsbonbons verursachen Karies im Kopf.

Knapp zwei Wochen nach der Veröffentlichung seiner „Petite philosophie du macronisme“ legte Truong nach und lud Olivier Mongin, Herausgeber der Monatszeitschrift Esprit, zum Interview. Mongin berichtet, wie er Macron auf der Geburtstagsfeier von Ricœur kennenlernte und ihm bald darauf in den Redaktionsbeirat von Esprit holte. Mongin schwärmt in den höchsten Tönen vom damaligen Neuzugang: Er war „sehr präsent, kollegial, umgänglich und effizient. Er drängt anderen nichts auf, legt ihnen höchstens eine Neubegründung des politischen Denkens nahe“.

Mongin gibt seinem ehemaligen Kollegen noch ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg: „Für mich ist das erste was man von diesem jungen Präsidenten zurecht erwarten kann, dass er in der Politik ein Verständnis und eine Darstellungsform für die gegenwärtige Globalisierung als etwas schafft, was sich unserem Zugriff nicht entzieht, sondern Teil einer historischen Erfahrung ist, angesichts derer wir uns Gestaltungsmöglichkeiten erarbeiten müssen. Das heißt nicht, dass die Globalisierung auf ein Universum ohne Ungleichheit verweist, auf eine Welt ohne Tragik, in der alles zum Besten steht. Man muss der Präsidentschaft Emmanuel Macrons eine politische Dimension verleihen, die zwei häufig vorgebrachte Deutungsmuster – die Überbetonung des Ökonomischen und die Überbetonung des Identitären – überwindet. Auf dem Spiel steht der Vorrang des Politischen.“

To be continued.