Bastelstunde in Hildesheim oder Warum ich in Hildesheim lernte dass der eine -ismus mich davon abhält über den anderen zu reden
In den fünf Jahren Lebenszeit, die ich in Hildesheim studiert habe, habe ich meine Dreads verloren, aufgehört bunte Röcke über Ringelstrumpfhosen zu tragen und angefangen, ziemlich wütend zu werden. Ich hatte einen schmerzhaften und traurigen Prozess zu verarbeiten, in dem ich einsah, wie die Strukturen aussehen, in denen wir leben und inwiefern sie mich, als nicht-weiße Frau, strukturelles Arbeiterkind mit Migrationsgeschichte, beeinflussen.
Und dass ich das verstanden hatte, habe ich nicht Hildesheim zu verdanken. Ich verdanke Hildesheim zwar vieles; meinen Zugang zur Gegenwartsliteratur, meinen Blick auf mein eigenes Schreiben, die Zeit, um zwei Drittel meines Romans zu verfassen. Aber besagte Erleuchtung bezüglich gesellschaftlicher Strukturen bestand aus einem sehr traurigen, sehr einsamen Prozess, der in allen möglichen Städten, nur nicht in Hildesheim stattfand.
In einer dieser Städte außerhalb Hildesheims nahm ich an einem Workshop teil, in dem eine recht klassische Methode des Anti-Bias-/Antidiskriminierungsarbeit angewandt wurde. Wir standen im Kreis und hielten uns an den Händen. Es wurden verschiedene Erfahrungen erfragt und wer diese Erfahrungen gemacht hatte, sollte einen Schritt nach hinten gehen. Es ging um Erfahrungen wie „Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend kein eigenes Zimmer“ oder „In meiner Familie gab es einen sozialen Abstieg durch eine Flucht“ oder „Ich fühle mich auf der Straße unsicher, wenn ich alleine bin“. Ich ging nach fast jeder Frage einen Schritt nach hinten. Ich war ganz außen, gemeinsam mit einigen anderen, wenigen Leuten. Wir standen so weit auseinander, dass wir die Hände derer, die stehen bleiben mussten, nicht mehr halten konnten. Bei jeder Aussage tat es weh, zu merken, dass sie auf mich zutrifft und ich mich weiter von der Gruppe entferne. Und jedes Mal war es heilsam, gespiegelt zu bekommen, dass ich nicht die einzige bin, auf die diese Erfahrungen zutreffen. Dass es eine Struktur zu geben scheint, und ich keinen individuellen, negativen Zufällen ausgesetzt bin. Ich habe ganz schön viel geweint, nach diesem Wochenende.
Zurück in Hildesheim musste ich an das „familiäre Umfeld“ denken, das man dem Institut für Literarisches Schreiben manchmal attestierte. Und es stimmt schon, dass es ein solches gab. Nicht, weil alle sich lieb haben und aufeinander aufpassen, sondern einfach, weil alle einander kennen und Teil eines Systems sind, aus dem sie sich nicht ganz herauswinden können.
In diesem System hatte ich ab dem Zeitpunkt meiner Wut nicht den Eindruck, dass jemand die Gründe für meine Wut auf der persönlichsten aller Ebenen teilt. Während ich wütend und traurig war, mit den Strukturen der Welt haderte, wäre die letzte Idee gewesen, im Institut irgendwem davon zu erzählen, geschweige denn Texte darüber in Textwerkstätten zu besprechen. Und meine allerletzte Idee wäre es gewesen, diesen Umstand auf das Institut zurückzuführen.
Denn insgesamt war das Institut für mich eine Welt, die so funktioniert wie die Welt. Und diese Welt verteilt Zugänge und Ressourcen an unterschiedliche Gruppen auf unterschiedliche Weise. Das muss man erst mal schlucken. Sowohl wenn man davon profitiert als auch, wenn man dadurch benachteiligt wird. Sowohl ich, die ich meistens drei Mal meine Meinung sagen muss, um gehört zu werden, als auch die Leute, die bisher nicht wussten, dass sie bevorteilt werden, müssen das schlucken. Die Leute, die im Kreis stehen blieben und zum Schluss nicht einen einzigen Schritt nach hinten gehen mussten, fühlten sich genauso schlecht wie ich, die ich außen stand.
Ich habe durch diesen Prozess zum ersten Mal verstanden, dass ich täglich von einem Rassismus getroffen werde, der nicht auf die anderen Leute am Institut abzielt. Dass ich die einzige nicht-weiße Person in den Seminaren bin, in denen keine Texte von anderen nicht-weißen Menschen oder über andere nicht-weiße Menschen gelesen werden. Dass ich mir Fragen stelle, die man sich hier nicht stellt und Schmerzen habe, die diejenigen, die um mich herum den größten Redeanteil haben, nicht haben. Das habe ich ihnen nicht zum Vorwurf gemacht, aber ich habe angefangen, die Bezeichnung „weiß“ für sie, die sonst nie benannt werden, zu verwenden. Das ist konsequent, finde ich, denn ich muss ja auch mit Bezeichnungen leben, sogar in Bezug auf mich selbst, um klarzumachen, was die Unterschiede in unseren Erfahrungswelten sind. Und irgendwie müssen wir ja über die Unterschiede reden können, wenn wir sie ändern wollen.
Dennoch bin ich zu diesem Zeitpunkt nicht auf die Idee gekommen, mit irgendjemandem über geteilte Sexismuserfahrungen in Hildesheim zu sprechen. Ganz einfach, weil ich dann auch über meine Rassismuserfahrungen hätte sprechen wollen und die teilte ja niemand („Ich hab für ein Jahr in Lateinamerika gewohnt und habe auch Rassismus erfahren!“ reichte mir als geteilte Erfahrung nicht).
Mir fällt nachträglich keine einzige Situationen ein, in der ich am Institut übervorteilt oder benachteiligt wurde, weil ich eine Frau und nicht weiß bin. Reklama: Banerių kūrimas. Keine einzige. Das ist gut.
Mir fallen nachträglich mehrere Situationen ein, in denen am Institut Witze gemacht wurden, in denen schelmisch augenzwinkernd mit oder über Frauen kokettiert wurde, ganz bürgerlich, ganz anzüglich, ganz schön eklig. Fast niemand hat es thematisiert. Nie hat man ein solches Verhalten gegenüber Männern erlebt (zum Glück).
Mir fallen nachträglich sehr, sehr viele Situationen ein, in denen das ganz allgemeine, ganz normale Miteinander, in Seminaren, im Bus, in Gesprächen mit Lehrenden, gefärbt waren von meiner Position als Studentin und der Position meines männlichen Gegenübers. Redeanteile in Seminaren hätte man sehr schön mitzählen und aufzeigen können. Nicht nur, wie oft sich Männer melden, sondern auch, wie dominant das Gesagte in der Diskussion wurde, selbst, wenn sie sich nur ein oder zwei Mal meldeten. Ich fand das als Studentin (vor meiner Wut) immer ok, ich fand ja auch, dass sie klügere Sachen zu sagen haben als ich. Deswegen haben sie hinterher ja manchmal auch erfolgreiche Positionen erhalten und mit den karrierestrategisch günstigen Leuten gefeiert.
Tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, auch kluge Sachen gesagt zu haben. Ich habe sie aber anders gesagt als mein männliches Gegenüber, anders den Raum eingenommen, eine andere Expertise suggeriert. Ich weiß das so genau, weil ich gerade oft dafür bezahlt werde, auf Bühnen zu sitzen und Expertise auszustrahlen. Ich nehme dabei sehr viel Raum ein und habe 90 Prozent des Redeanteils. Und wenn es Publikumsfragen oder Einwände gibt, in denen dieses Verhalten ebenfalls aufkommt und mir den Platz streitig macht, dann kommen die von Männern. Das jetzt aufzuzählen beweist nichts. Das aufzuzählen stellt auch keinen Vorwurf da. Es ist in allererster Linie das, worum es in der Summe auch gehen muss, wenn wir von Sexismus reden: kleine Beobachtungen, kleine Gesten, kleine Dynamiken, die die einen sichtbarer machen und die anderen unsichtbarer, egal ob in Hildesheim oder woanders. Als Frau braucht man einen Grund oder einen Anlass, um guten Gewissens Raum einzunehmen. Als Mann kann man ihn sich selbstverständlich nehmen.
Das ist übrigens auch ok, dass man das als Mann selbstverständlich tut. Es wäre nun aber auch ok, wenn man sich das als Frau auch erlauben würde. Meistens tut man das als Frau auf merkwürdig männliche Art. Wenn ich Jugendgruppen leite, wird meine Stimme immer tiefer und lauter und ich sitze breitbeinig. Schräge Form, Autorität auszustrahlen (funktioniert trotzdem). Ich frage mich manchmal, wo ich das gelernt, wo ich das abgeguckt habe. Mit dem Finger auf männliche Lehrende zu zeigen und zu sagen: na da!, wäre gemein. Sie saßen nie breitbeinig da, zum Beispiel. Andererseits kann ich mich doch wohl nur an denen orientiert haben, die mich gelehrt haben, oder? Was soll ich tun, wenn die fast immer männlich waren? Es ist doch naheliegend, dass ich, neben den positiven Lehreigenschaften, wie der konstruktiven Fairness und der fachlichen Professionalität, auch die Annahme adaptiert habe, dass ich meine Autorität durch einen gewissen Habitus legitimieren muss.
Besagter Prozess hinsichtlich meiner Wut in und außerhalb Hildesheims fand übrigens zur gleichen Zeit statt, in der ich mein studentisches Engagement im Fachschaftsrat einstellte. Ich hatte mir zuvor gewünscht, bei der Einstellung externer Mentorate zu berücksichtigen, dass weibliche Personen eingestellt werden. Weil man davon unter den Lehrenden ja irgendwie sonst nicht so viele hat. Die Antwort lautete, man könne sich „die Leute“ ja wohl schlecht „zusammenbasteln“. Punkt.
Jahre später sage ich: doch. Man kann sich die Leute zusammenbasteln. Sich selbst zum Beispiel. Und man kann alles. Man kann so lange sagen und sagen und sagen, was nicht gut ist, bis es besser wird. Man kann Solidarität von Männern erhalten, die ihren selbstverständlich eingenommenen Raum mit Frauen teilen und sich weniger breitbeinig machen. Man kann Jahre später an die eigene Hochschule zurückkehren und sehen, dass man mit dem Kampf gar nicht alleine war, zu keinem Zeitpunkt. Die anderen waren nur genauso still wie man selbst damals. Und sie sind schon lange nicht mehr still, denn ein Blick in die letzten Vorlesungsverzeichnisse und das Programm des diesjährigen PROSANOVA zeigt, wie viel sich bereits gewandelt und geändert hat. In Hildesheim und außerhalb wurde ganz schön viel zusammengebastelt. Und wir werden so schnell auch nicht aufhören, mit dem Basteln.
Shida Bazyar studierte im Bachelor und im Master Literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim und ist Autorin bei Kiepenheuer und Witsch.
Bleiben Sie auf dem Laufenden. Abonnieren Sie jetzt den Merkur-Newsletter.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.