Wir würden dann jetzt weitermachen

Nehmen wir an, ich studiere seit geraumer Zeit in Hildesheim und trinke in meinen Pausen gerne Cola aus den neuen Automaten in der Steinscheune an der Domäne.
Nehmen wir an, in meinem Fachbereich gäbe es eine Schülerzeitung, die in unregelmäßigen Abständen analog und limitiert auf 300 Exemplare pro Ausgabe exklusiv auf der Domäne erscheint.
Nehmen wir an, ich hätte vor einigen Wochen Wind bekommen von einem Artikel mit dem Titel „Sexism is a dancer“, der dort erschienen ist. Einem Artikel, der eigentlich einen lächerlichen Windzug im Sexismusdiskurs meines Sichtfeldes darstellte, da er kaum Neues erzählte und aus einer mir vertrauten Perspektive argumentierte. Nehmen wir darüber hinaus weiter an, dass ich diesen Artikel in einem Seminar las und man dort über seine Form und über seinen Vorwurf und eventuelle Konsequenzen diskutierte.
Wir diskutierten, was das für ein Artikel ist. Nicht deutlich markiert als Satire, eher flapsige Luftmacherei, dem Artikel fehle es an Konstruktivität.
Diese Vorwürfe an den Artikel ziehen sich so weiter – durch Diskussionen mit Freund*innen, durch Stellungnahmen von Dekanen, Kommilitonen sagen: „Ja keine Ahnung, was man damit anfangen soll, ich finde, der Artikel macht ganz viel auf, reißt ganz viele Vorwürfe an, ohne konkret zu werden, ohne handfeste Beispiele zu nennen, also meiner Meinung nach kann dieser Artikel die Debatte nicht bereichern.“
Der Artikel ist nicht der erste seiner Art, der das Problem adressiert. Der Artikel soll und kann das Problem nicht lösen. Aber der Artikel hat eine Bewegung ausgelöst.
Denn er benennt sehr wohl die Probleme, die es anzugehen gilt: Die Dozierenden am Literaturinstitut sind überwiegend Männer, die einzige Frau, die dort unterrichtet, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, ergo sehr weit unten in der Nahrungskette, man versteht (teile und herrsche, sag ich mal). In großen Teilen der angebotenen Seminare fehlt es der Literaturauswahl deutlich an Diversität, dem Umgang mit diskriminierungskritischer Sprache wird nicht genug Raum gegeben. So weit, so konkret. Dennoch kommen wir nicht an den Punkt, um über diese Vorwürfe zu diskutieren, sondern es wird sich mühsam an der Zerpflückung der Haltung, der Form und der Wahl des Mediums des Artikels aufgehalten.
Das Thema, das mir seit dem ersten Gespräch über den Artikel im Kopf herumschwirrt, ist die Reaktion darauf und die Kritik, die an ihm geübt wird. Denn die Leute, die den Artikel aufs Stärkste kritisieren, ja sogar verurteilen, das sind die Leute, die der Artikel angreift.
Nehmen wir an, man geht zur Uni, um kritisches Denken zu lernen. Nehmen wir an, man äußert Gedanken über ungerechte Zustände an den Instituten, an denen man studiert. Und nehmen wir an, diese Gedanken gefallen den Menschen nicht, die kritisiert werden.
Na klar stößt der Artikel Leute vor den Kopf, die sich in dem bestehenden, männlich dominierten Bereich zu Hause fühlen und die davon profitieren.
Kritik darf nicht versöhnlich sein. Veränderung findet außerhalb der Comfort-Zone statt.
Innerhalb eines bestehenden Machtgefüges zu erwarten, dass die Person, die spricht und Kritik übt, diese in mundgerechte Stücke verträglich verpackt, verändert nichts an bestehenden Machtunterschieden und bringt uns zurück an den Anfang des Problems.
Der erste Text, der im Faltblatt erschien und den Sexismusdiskurs am Institut anriss, trug den Titel „Erektion Pächterhaus“ und war deutlich als Satire gekennzeichnet, sodass man ihn einfach in der entsprechenden Schublade verstauen konnte. „Sexism is a dancer“ ist formal viel direkter. Dann knallt es eben, na und? Viel schlimmer ist es, viel schmerzhafter ist es, von Diskriminierung betroffen zu sein und darüber schweigen zu müssen.
Was mit dem Artikel passiert ist, ist nur eine weitere Symptomatik einer kontraproduktiven Politik zwischen Studierenden und Lehrenden am Literaturinstitut Hildesheim. Es ist sehr leicht, einem Artikel, der in der selbst bezeichneten „avantgardistischen Schülerzeitung“ erscheint, eine eigene Position abzusprechen. Es ist sehr leicht, einen anonymisierten Artikel zu zerreißen.
Es ist außerdem leicht, zu erwarten, dass ein derartiger Artikel Lösungen liefert, aber es ist auch illusorisch und faul. Den Artikel ernst zu nehmen und daraus einen versöhnlichen Dialog abzuleiten, war bisher so gut wie unmöglich. „Scheinbar ist es der*m Autor*in ja nicht wichtig, einen Dialog zu führen, sonst hätte sie*er andere Wege gewählt, oder zumindest nicht anonym veröffentlicht.“ Das ist ein bequemer Weg, um sich vor einer nötigen Unterhaltung zu drücken.
Was sich in diesem Umgang mit dem Artikel widerspiegelt, ist eine Manifestation der angeklagten Machtverhältnisse.
Erklärungen fordern, statt sich selbst zu bilden, Beispiele fordern, statt dem Geschriebenen Glauben zu schenken, Objektivität fordern, statt die Wut des Artikels ernst zu nehmen und alarmiert die eigenen Zustände zu reflektieren, die Einhaltung des ungeschriebenen 1×1 der Institutskritik zu fordern, statt Freiraum für eigene Formen zu gewähren, das alles sind Symptome der patriarchalen Strukturen, die wir kennen, die uns prägen, die unser Verständnis von Wissenschaft und auch von Kritik, von Zeitungsartikeln, von Diskursen und Gesprächen formen.
Es kann nicht Aufgabe der Studierenden sein, die Lehrenden zu unterrichten und zu bilden. Wir können Anstöße geben und den Mund aufmachen wenn uns etwas nicht passt. Aber ansonsten muss sich jede*r selbst hinsetzen und sich fortbilden.
Sowas wie Objektivität kann es nie geben, schon gar nicht bei einem Problem wie Sexismus, das geht uns alle an und das widerfährt uns allen. Man kann niemals von Objektivität sprechen, weil wir nichts objektiv betrachten können, da wir uns mit allem in Beziehung setzen können und müssen, wenn wir unsere Welt reflektieren wollen.

Aber: Am Institut werden bestimme Perspektiven ebendieser Welt ausgeblendet. Ob beabsichtigt oder unbewusst, ist hierbei egal. Im Raum steht: Die Literatur, mit der wir uns beschäftigen, kommt zu 80% von Männern, obwohl die Studierendenschaft des Literaturinstituts zum Großteil aus Frauen* besteht. Es gibt ein deutliches Ungleichgewicht in der Diversität der Lehre. Es kann nicht sein, dass eine wissenschaftliche Mitarbeiterin den riesigen Themenkomplex um Genderpolitik und Feminismus & Literatur abdeckt, diese Arbeit könnten sich locker drei Personen teilen, und das nur beschränkt auf das Literaturinstitut. Und wer liest eine Bachelorarbeit über feministische Kinderbücher, wenn sich damit keine promovierte Lehrperson auskennt, weder mit dem einen noch dem anderen Thema? Und wer muss dann etwas ändern? Was wird passieren? Vermutlich werde ich mir ein anderes Thema aussuchen, eines, das besser zu einer verfügbaren Lehrperson passt. Oder ich schreibe an einem anderen Institut. Möchte ich das? Egal, es bleibt mir nicht viel anderes übrig. Und genau da liegt das Problem. Dass wir uns selbst beschränken (müssen), weil es das Institut nicht besser kann.
Wer von seinen Studierenden fordert, auch mal was anderes zu schreiben, als immer nur Coming-Of-Age-Romane, der fordert dazu auf, sich auch mal aus der WG-Küche wegzubewegen, mal was anderes zu sehen. Aber wie wäre es denn zum Beispiel, dieses „andere“ in die Lehre einzubinden, indem man zum Beispiel Gesprächspartner*innen einlädt oder Texte von Autor*innen liest, die nicht im Kanon der deutschen Literatur enthalten sind? Warum nicht auch mal Texte von Frauen* lesen, die keine klassische Chick-Lit schreiben und darüber sprechen, warum sie so oft in diese Ecke gestellt werden? Es fehlt uns an entscheidenden Positionen in der Lehre, es kann nicht sein, dass wir uns die ausschließlich selbst machen müssen, egal ob auf Festivals oder in eigenen Projekten.

Wir sprechen hier nicht von Geschmacksunterschieden, sondern von der strukturellen Ausklammerung von Künstler*innenbiografien und Poetiken jenseits des Schreibschulmainstreams.
Don’t get me wrong, an vielen Stellen passiert schon eine Reflexion über Problematiken des Betriebs, und das ist super. Es läuft schon vieles richtig am Institut und es hat sich schon einiges getan. Das hier sind Anstöße zum Weiterdenken. Und das wird man ja wohl noch…

Mit dem Artikel und der ganzen Debatte im Hinterkopf besuche ich das Prosanova17 und freue mich, dass dieses Festival viel mehr kann und schafft, als nur Texte zu besprechen, sich einen aufeinander abzuwichsen und auf dem Dixi zu koksen. Das Prosanova17 ist ein Literaturfestival, das bewusst überwiegend Frauen* einlud und feministische Themen auf der Agenda hatte.
Ich sitze in Lesungen und habe Tränen in den Augen, weil es sich plötzlich nicht mehr anfühlt, als könnte ich kein Teil von dem Ganzen sein. Weil Positionen gezeigt werden, mit denen ich mich identifizieren kann. Positionen, die in großen Teilen meines Studiums in Hildesheim verborgen blieben, was dazu geführt hat, dass ich mit dem Schreiben aufgehört habe, als ich her kam. Dazu muss gesagt werden, dass ich überhaupt erst mit dem Ziel zu schreiben nach Hildesheim gekommen bin. Den Fun daran hat mir das Institut ziemlich bald genommen. Lange haben mir Worte gefehlt das zu beschreiben. Aber es liegt nicht daran, dass ich nicht schreiben kann, oder nichts zu sagen habe. Es liegt daran, dass mir aber genau das suggeriert wurde – und dass ich mich in Lehrinhalten nicht wiederfinde, spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle.
Man könnte mir das jetzt natürlich im Umkehrschluss selbst in die Schuhe schieben: Dann hatte ich eben nicht genug Durchhaltevermögen, nicht genug Biss, war nicht mutig genug, weiter zu schreiben. Aber wie viel Mut es braucht, wie viel Energie, wenn man an eine Schule kommt, in deren Betrieb man sich nicht auskennt, deren Regeln man nicht kennt und darüber hinaus nur feststellt, dass es da nichts gibt, was einen repräsentiert und unterstützt, weiß kaum jemand. Weil es unglaublich anstrengend ist, Raum zu fordern, den es so (noch) nicht gibt und den dann auch noch einzunehmen und alle davon zu überzeugen, dass man da grad was Gutes macht und dafür auch noch Anerkennung zu bekommen. Der Everest ist ein Krümel dagegen.
Ich frage mich: Wer muss sich anpassen? Die Schreibenden dem Betrieb? Oder funktioniert das andersrum? Wer gestaltet eigentlich wen? Klingt basic, aber wo wenn nicht an einer liberalen Hochschule, an der gute Kunst gemacht wird, die über die Grenzen Niedersachsens hinaus bekannt ist, können wir dieses Gespräch führen?
Für wen schreibe ich eigentlich? Und was ist überhaupt „konstruktiv“? Und wer entscheidet, was konstruktiv bedeutet? Um einmal mit Lann Hornscheidt zu argumentieren: unsere Vorstellungen von Normalität, Schönheit (oder jeder anderen wertenden Kategorie), sind schon normativ geprägt. Sprache ist immer Handlung. Sie verändert sich und man kann mit jedem Wort, jedem Satz neu entscheiden, wie man sich verhält. Und Sprache erzählt etwas darüber, wie wir uns Realität vorstellen. Sprache schafft Realität(en). Veränderung tut weh. Das haben Wachstumsprozesse eben an sich. [1. Lann Hornscheidt im Gespräch mit Margarete Stokowski, Roman Ehrlich und Guido Graf auf dem Prosanova17:  ( http://litradio.net/wie-sich-unsere-sprache-veraendert/ )] Hätten meine fünfjährigen Schienbeine nicht wie Hölle geschmerzt, wäre ich heute nicht da wo ich bin. Der Schmerz des Eingestehens der eigenen Privilegien ist Teil eines Wachstumsprozesses, er ist natürlich und niemand sagt, dass es einfach ist, ihn hinzunehmen.
Wenn ich* einen Text schreibe, der Zustände kritisiert, die mich* in meiner (künstlerischen) Freiheit einschränken, dann habe ich* verdammt nochmal nicht freundlich zu sein.
Hinter dem Artikel steht längst nicht mehr nur eine*r anonyme*r Autor*in und eine Hand voll Redakteur*innen. Es hat sich eine Studierendengruppe gegründet, es werden Gespräche angeleiert, diskriminierungskritische Fortbildungen werden angestrebt. Wir sind viele. Und wenn das etwas ist, was der Artikel ausgelöst hat, dann verstehe ich das als konstruktiv.
Es ist auch von Seite der Institutskritiker*innen faul und fatal, zu denken, der Dialog könne einfach und reibungslos sein. Aber irgendwann ist es an der Zeit einzusehen, dass es weitergeht. Dass die Zeit für Patriarchen möglicherweise vorbei ist, dass es Zeit ist, entweder umzudenken oder das Zepter aus der Hand zu geben. Zum Glück sind wir jetzt da. Danke, das war’s. Wir würden dann jetzt weitermachen.

Jana Zimmermann studiert seit 2013 Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim.

 

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