FRAGENKATALOG SSIS – If, Then, Else

Nehmen wir an, Schreibinstitute sind auch bloß Orte in dieser Gesellschaft, Orte, an denen die gleichen Gesetzmäßigkeiten, die gleichen Regeln herrschen. Was bedeutet es dann für dich, über Sexismus und Schreibschulen zu schreiben? Glaubst du, es würde ein schreibschulinterner Sexismus (kurz: SSIS) existieren? Und wenn ja, wie ließe sich davon erzählen?

Fangen wir also an, vorne, mit dem Anfang. Ein Raum, nicht unbedingt schön, man bietet dir ein Wasser an. Wenn du Glück hast, auch einen Kaffee. Vor dem Fenster steht eine Trauerweide, aber du schaust nicht aus dem Fenster, sondern in die prüfenden Gesichter vor dir: Bist du aufgeregt? Gespannt, wer dir gegenüber sitzt? Bist du überrascht, weil es nur Männer sind? Fragst du dich, ob es auch nur Frauen sein könnten? Glaubst du, dass es einen Unterschied macht, dass dir im Auswahlgespräch (das dir deine literarische Befähigung attestieren oder aberkennen soll) drei Männer gegenübersitzen? Glaubst du, es macht für die drei Männer einen Unterschied, ob ihnen ein junger Mann oder eine junge Frau gegenübersitzt? Wenn ja, wie veränderst du dein Verhalten? Veränderst du dein Verhalten? Wirklich nicht? Kein bisschen? Glaubst du, dass deine Attraktivität gerade eine Rolle gespielt hat? Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich in dir, deinem Angesicht, wiederzuerkennen? Oder geht es hier tatsächlich um deine Texte, die du gewissenhaft zusammengesucht hast? Wie müsste ein Aufnahmeverfahren gestaltet sein, in dem es nur um die literarische Qualität deiner Texte geht? Oder muss es auch immer um Personen gehen? Weil Personen wie du zu Autoren werden, oder eben zu Autorinnen?

Hast du es also geschafft. Bist du also hier. Horchst auf, was die anderen zu sagen haben, willst jetzt auch mal was sagen. Manche Fragen aber sparst du dir auf, für später, um im Versteck darüber nachzudenken, um im Versteck zu fragen: Wie wird man denn Autor, oder Autorin? Indem man schreibt. Und. Und was schreibst du? Und wem zeigst du es? Welche Themen packst du an? Welche meidest du? Welche Geschichten erzählst du? Und welche bringst du in die Textwerkstätten mit? Oder andersherum: Welche Geschichten erzählst du nicht? Warum erzählst du sie nicht? Lauert der SSIS also in den Textwerkstätten? Zeigt er sich in der Auswahl der Lehrenden, die deine Textwerkstatt abhalten? Müssten auf den Lehrplänen immer gleich viele Textwerkstätten von weiblichen und männlichen Lehrenden zu finden sein? Oder wäre das kleinlich? Soll nicht die Kompetenz der Lehrenden im Vordergrund stehen, nicht ihr Geschlecht? Verwundert es dich dann, dass die Kompetenz der weiblichen Lehrenden eher in Rand- und anverwandten Fächern (Rhetorik, Übersetzen, Mikrostilistik) zu liegen scheint, die der männlichen Dozenten in properer Textarbeit? Verwundert es dich kein bisschen? Und wie verhält es sich mit den Redeanteilen im Seminar? Wer meldet sich? Hat hier gerade jemand unterbrochen? Wer kommt immer seltener in die Seminare? Wer bricht schließlich das Studium ab? Wunderst du dich über die Frage, wie man denn “den Frauen” im Seminar helfen könne, mehr zu sprechen? Wunderst du dich darüber, weil die Antwort so naheliegend scheint? Wunderst du dich, warum sie dir trotzdem so schwer über die Lippen geht (einfach mal schweigen)?

Vielleicht stellen wir uns diese Fragen, die versteckten, abends im Noch Besser Leben (die wirklich interessanten immer in der Kneipe), wir fragen uns: Über wen darfst du schreiben? Wem wird Kompetenz zu-, wem wird sie abgesprochen? Musst du über bestimmte Dinge schreiben, qua Geschlechtszugehörigkeit oder Herkunft? Darf man über bestimmte Dinge nicht schreiben, qua Geschlechtszugehörigkeit oder Herkunft? Begegnet dir SSIS da, wo du als Frau zu deinen Texten angesprochen wirst und nicht als Autorin? Oder da, wo du dich als Frau abseits der eigenen Autorschaft mit dem Erzählen über Frauen in anderen Texten unwohl fühlst? Und was heißt hier unwohl? Reduziert, angegriffen, benutzt oder verachtet?  Schläft der SSIS in Figuren, die flach sind, nicht so detailreich erzählt wie die anderen? Findet sich der SSIS da, wo es immer noch allein den generischen Autor gibt, als Chiffre, mit der man Theorie über das Schreiben betreiben kann? Dort, wo es die generische Autorin nach wie vor nicht gibt? Du fragst dich, warum das Persönliche zwar weiblich sein kann, nicht aber das Allgemeine? Können Autorinnen auch sexistisch sein? Dürfen die das? Wie erzählt man sexistisches Verhalten, ohne es zu reproduzieren? Willst du das überhaupt? Ging es hier nicht um etwas ganz anderes? Wo verläuft die Trennlinie zwischen der Welt der Figuren und der Welt der Autorin, des Autors? Gibt es sie überhaupt? Und wer zieht sie? Ist eine Frau im Text etwas anderes als eine Frau in der Welt? Und wenn ja, warum? Kann man in Analogie zu Judith Butler sagen, es bist nicht du, der die Geschichten hervorbringt, sondern es sind die Geschichten, die dich hervorbringen? Und war das eigentlich schon immer so? Auch in jedem Kinderbuch, in jedem Jugendbuch, in jeder Schullektüre? Machen uns die Figuren in unseren Texten erst zu Männern und Frauen? Braucht es deswegen mehr queere Figuren? Und was sind dann queere Figuren? Nur solche, die sich als nicht-heterosexuell identifizieren? Oder solche, die mehr als ihre strukturellen Merkmale sind? Und wie schreibt man Figuren, die mehr als Träger struktureller Merkmale sind? Verläuft die Trennlinie eigentlich zwischen flachen und plastischen Figuren, zwischen glatten und gebrochenen Figuren, zwischen hohlen und satten Figuren? Bestätigst du Klischees, wenn weibliche Figuren weinen und männliche Figuren schweigsam trinken? Können weibliche Figuren trotzdem weinen und männliche schweigsam trinken? Macht es einen Unterschied in der Rezeption, wer eine Figur in die Welt geschrieben hat?

Und nach drei Jahren (oder länger, meistens) stehen wir da, das Institut im Rücken, das mit einem Mal so viel kleiner wirkt, und fragen, wie es weitergehen wird. Mit uns und den Fragen und ob wir den SSIS nun endlich überwunden haben. Aber wir wundern uns, ja, müssen uns wundern: Warum man uns nun Fräulein Wunder nennt, oder Junger Wilder? Dass man über uns sagt, wir seien schwierig, stellen zu viele Ansprüche? Manchmal auch, wir seien ein toller Hecht? Fragen uns, ob der SSIS nur ein Anfang war? Ein Anfang von was? Wären wir nicht einfach gern jemand, der schreibt? Würden wir uns wünschen, es gelte auch in der Kritik: Erst die Texte, dann die Texte, dann der Text?

Lene Albrecht, studierte von 2012 bis 2017 am Deutschen Literaturinstitut und hat ein Gastsemester an der UdK (Berlin) absolviert.

Magdalena Schrefel, studierte von 2011 bis 2016 am Deutschen Literaturinstitut, Gastsemester am Institut für Sprachkunst (Wien) und an der UdK (Berlin).

 

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