Das Heim. Notizen zum veranstalteten Lebensabend

Das Heimgebäude ist ein zweiflügeliger Funktionsbau, dessen beiden Flügel vom Fahrstuhltrakt in der Mitte überragt werden. An der Außenseite des einen Flügels eine überdimensioniert erscheinende eiserne Fluchttreppe. Buntputzflächen unterbrechen das Grau, ein schwacher Versuch architektonischer Auflockerung des Baus, der gleichwohl entfernte Ähnlichkeit mit Containerarchitektur hat. Die Geranienkästen an jedem der Balkone wie ein vorgehängtes Lächeln. So lächeln auch das Personal im Werbeprospekt und die darin abgelichteten Bewohner.

(Dieser Text ist im Novemberheft 2022, Merkur # 882, erschienen.)

Im weiten Außenbereich verlaufen Spazierwege unter Bäumen, an frischgemähten Rasenflächen mit Buschwerk und sauberen Beeten entlang mit Bänken in regelmäßigen Abständen. Alles ordentlich, sehr gepflegt. Im Foyer flüstert ein Springbrunnen geflissentlich die Begrüßung, und ein farbiges Blumenkomitee auf der Umfassung des Bassins stimmt still mit ein: Das Leben geht hier weiter, leicht und unbeschwert.

Das signalisieren auch die von den Insassen gemalten Bilder mit Kinder- und Landschaftsmotiven im Treppenhaus, auf den Fluren die selbstgebastelten Papierblumen, die flatternden Buntpapierschmetterlinge an den Fenstern und die über der Tür zum Tagesgruppenraum schwebenden Papiertauben – schwebten sie nur nicht in einem leichten, unangenehm süßlichen Geruch nach Stuhl.

Die im Foyer gut sichtbar aufgehängte Zertifizierungsurkunde bescheinigt der Leitung des Hauses beste Organisation der Verwaltungs- und Arbeitsabläufe, Weiterbildung der Teams – nach neuesten Evaluierungsgesichtspunkten alles optimal.

Der Besucher zertifiziert das als halbe Wahrheit. Zur Frage, wieweit es in dieser Einrichtung der christlichen Altenhilfe um Effizienz der Fürsorge und Pflege, wieweit um Gewinn geht, nimmt der Geschäftsführer nicht klar Stellung. Vielsagender indessen die Hast und das übermüdete Aussehen des Personals. Gleichwohl scheint es zu versuchen, die Bewohner und Bewohnerinnen vergessen zu machen, was letztendlich hier auf sie wartet. So auch die auf einem Aushang angebotenen Veranstaltungen und Aktivitäten: Tagesgruppe (Spiel und Basteln), fröhliches Miteinander in den Wohnbereichen, Spiel- und Singnachmittage, Gruppenarbeit, Einladung zur Matinee »Flötenklänge«. Keine Frage, das Leben geht hier weiter, heiter und mit Musik. Oder doch nicht?

An den Zimmertüren hängen Fotos, die mit kleinen Arbeiten der Bastelgruppe dekoriert sind und den Bewohner, die Bewohnerin ablichten, in einem Sessel sitzend, wie auf den Besucher wartend. Manche schauen indes hoch, als säßen sie in einem Dunkel, welches der Fotoblitz plötzlich von oben erhellt. Wieder die Andeutung einer anderen Seite des Lebens im Heim.

Sie zeigt sich dann auch im Wohnbereich der Stationen. Dort sind die Alten vorm Fernseher aufgereiht, in Sesseln schief, verrutscht, mehr hängend oder versinkend als sitzend. Der Fernseher läuft ins Leere wie der Gruß des Besuchers auch. Greisinnen, Greise im Dämmerzustand, teilnahmslos, apathisch vor sich hin sehend, dem Fortgang der Zeit ausgesetzt. Ein Warteraum.

In den ergeht irgendwann der Aufruf auch an sie, und die finale Phase beginnt: Aus einem der Stationszimmer dringt Stöhnen bis in den Wohnbereich, eines, das nicht enden will, über Tage, über Wochen.

(…)


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