Doppel-, Dreifach-, Multigänger und Karl Heinz Haags Nachdenken über die Metaphysik
Alles voller Doppelgänger: In den Medien der Populärkultur haben sie sich zuletzt enorm vervielfacht und ausgebreitet. Besonders viele von ihnen treiben sich derzeit im allerpopulärsten Popcorn-Kino und Serien-Kosmos herum, also im so genannten Marvel Cinematic Universe, dem »MCU«. Ständig werden dort die Protagonisten mit anderen Versionen ihrer selbst konfrontiert: Der Gott Loki beispielsweise begegnet seiner weiblichen Alternative, und er verliebt sich in sie, natürlich: eine besondere Form des Narzissmus (Serie Loki, 2021).
(Dieser Text ist im Novemberheft 2022, Merkur # 882, erschienen.)
Eine andere Version von Dr. Strange (Dr. Strange in the Multiverse of Madness, 2022), kenntlich am längeren Bart, berichtet diesem, er versuche, weitere Versionen seiner selbst zu ermorden, indem er sie von Gebäuden hinunterschubst. Originell, geradezu witzig ist der Doppelgänger von Vision aus der Miniserie WandaVision, denn Vision ist ein Android, und so bekommt auch der künstliche Mensch ein Recht auf seine identitätsverwirrende Verdopplung.
Die Idee des Doppelgängers reicht in der Geschichte weit zurück. Eine gewisse Verbreitung fand er in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In der deutschen Literatur denkt man vielleicht zuerst an E.T.A. Hoffmann oder Theodor Storm. Die Doppelgänger, die Hoffmann und Storm ins literarische Leben gerufen haben, wurden vielfach analysiert. Sigmund Freud sah das Potential des Unheimlichen im Doppelgänger, da in ihm verdrängte Stufen der Ich-Entwicklung zum Vorschein kämen.1 Und es liegt – auch ohne Freud – auf der Hand, dass der Doppelgänger die Individualität des Menschen herausfordert. Der Mensch, der seinem Doppelgänger begegnet, ist zum Vergleichen gezwungen: Welches ist meine Identität, die allein mir zukommt?
Andreas Blödorn hat Doppelgänger und andere Momente des Okkulten, Unheimlichen, Irrationalen bei Theodor Storm prägnant als Phänomene des Unbewussten interpretiert, er schließt: »Dass Storm für die Gestaltung des Unbewussten, für das dem Bewusstsein auf unheimliche Weise Entzogene im menschlichen Seelenhaushalt aber ausgerechnet den Bereich des Spukhaften wählt, erklärt sich zuletzt vor allem aus dem visuellen Reiz bildhafter Gestaltungsmöglichkeit für das eigentlich Unsagbare.«2
Der Doppelgänger hat ohne Frage einen besonderen Reiz, selbst wenn er alles Unheimliche abgestreift hat. Denn gerade der Doppelgänger ist eine zutiefst literarische Figur, führt er doch vor Augen, was Literatur, was Fiktion kann: andere Persönlichkeitsentwürfe inszenieren, den Entwurf des Ich visualisieren; ein Spiel in Gang bringen, bei dem der alternative Entwurf sichtbar wird. So sind auch die Doppelgänger im Universum Marvels geradezu ideal, um zu spielen. Es ist ein fast unerschöpflicher Baukasten, in dem die vielen Superhelden liegen. Und die Frage zum Spiel: Was wäre eigentlich, wenn diese Figur ein wenig anders wäre? Genau diese Frage setzte dann die Marvel-Serie What If…? (2021) um, die eine Serie der Gedankenspiele ist.
Hier kommt allerdings etwas hinzu. Nicht nur einzelne Figuren werden im MCU verdoppelt, verdrei- und vervielfacht, sondern ganze Welten – Leibniz grüßt aus der Ferne von einer besseren Welt. Immer wieder spielen die Marvel-Geschichten mit dem Gedanken eines Multiversums, also den prinzipiell unendlich vielen Fassungen eines Universums, das sich immer weiter verzweigt. Die Welt hat Doppelgänger, und dann laufen auf diesen Welten Doppelgänger der Figuren umher, deren Wege sich manchmal kreuzen. Dieses Bauprinzip des Marvel-Kosmos scheint idealerweise einer Idee der Moderne zu entsprechen, die das Entwurfshafte und die mediale Bedingtheit ins Zentrum setzt.
Aber darin, in der Idee, das Ich zu entwerfen und mit anderen Entwürfen zu konfrontieren, gehen die Doppelgänger nicht auf. Sie machen zugleich eine gegenläufige Bewegung, als wollten sie hinter die vielen Einzeldinge gelangen. Künstlerisch wohl eher missraten, aber symptomatisch wäre eine Szene in Dr. Strange in the Multiverse of Madness, bei der ein Buch – den Literaturwissenschaftler mag es freuen – an einem Ort jenseits der vielen Welten aufbewahrt wird. Dort müssen die Figuren hingelangen. So wenig wie das Künstlerische interessiert hier die Handlungslogik – es zählt die Symptomatik. Verwandt in dieser Symptomatik ist ein Ort in der Serie Loki, der jenseits des zeitlichen Ablaufs der sich verzweigenden Universen liegt, ein Ort, von dem aus die Ordnung der Welt bewahrt werden kann, der aber selbst außerhalb des Geschehens liegt. Auf der einen Seite sind dort also das Spiel und der Entwurf, auf der anderen Seite ein Verlangen nach der Metaphysik. Als bedürfe das Spiel eines metaphysischen Grunds.
(…)
Möchten Sie weiterlesen?
Testen Sie 3 Monate MERKUR digital für nur 9,90 €.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.