Das Gespenst der Maschine, die mich schreibt

Die Gegenwart ist die offene Zeit, in der ich mich nicht auskenne, aber gleichzeitig einer der wenigen Orte, an dem ich Entscheidungen treffen kann. Gleich, übermorgen, sofort, nächste Woche, am besten nie. Aber ist die Gegenwart überhaupt ein Ort? Wenn sie kein Ort wäre, wo würde ich mich dann befinden? Gleichviel. Dringender ist eine andere Frage: Was ist jetzt zu schreiben, in dieser Gegenwart? Was ist jetzt zu tun? Und wie, auf welche Weise ist jetzt zu schreiben? Was muss jetzt übersetzt werden? Was möchte ich lesen können, in dieser Gegenwart?

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Selten hab ich weniger gewusst, was jetzt zu schreiben wäre, als nun, da ich es unterrichte und die Veränderungen (nicht nur des Literaturbetriebs) sich schneller vollziehen, als ich mir über deren Bedeutung und Folgen klar werden kann. Aber das ist vielleicht auch ganz normal. Ich habe leider keine Vergleichsgröße zu meiner Gegenwart. Hierzu taugt die Vergangenheit nur bedingt.

Viele Leute (zum Beispiel an Kunsthochschulen) sagen, man müsse sich jetzt mit den Vorteilen und Nachteilen Künstlicher Intelligenz und Maschinellen Lernens auseinandersetzen, mit Fragen der ästhetischen und gesellschaftlichen Anwendung dieser Techniken. Weil sie neu sind, oder, wie Kathrin Passig Anfang 2022 in ihrem Vortrag Heute ist das Gestern von morgen im Rahmen der Dresdener Ringvorlesung »(Un)Creative Digital Writing« gezeigt hat, so neu gar nicht sind, und damit der Neuheit vielmehr eine Distinktions- oder Marketingfunktion zukommt, wobei sie womöglich ihrerseits gar nicht unbedingt die interessanteste Eigenschaft der aufkommenden Technologie darstellt.

Eine Sache, die ich mir, seit ich veröffentliche, vorgenommen habe: nicht more of the same. Kein Selbstimitat produzieren, auch nicht unter Druck. Nicht in Serie gehen. Nun ist aber vor kurzer Zeit ein Buch erschienen, das mir gutes Anschauungs- und Untersuchungsmaterial an die Hand geben könnte, denn das umfangreiche Selbstimitat, was darin zu lesen ist, ist gar nicht von mir, sondern von einem Künstlichen Neuronalen Netzwerk (KNN) anhand meines poetischen Werks, wie soll ich sagen: rekombiniert? Kompiliert? Verfasst? Neu erfunden? Nachgeahmt? Entworfen? Und das Ergebnis hat fraglos genuine Züge, die mich erstaunen. Dabei muss ich darauf hinweisen, dass ich diese Texte in erster Linie inhaltlich betrachte, ich schaue, was gesagt wird – von den technischen Voraussetzungen hab ich nur eine etwas nebulöse Vorstellung, die hoffentlich bald schon an Klarheit gewinnt. Es sind Texte, die eine interessante Zwischenstellung einnehmen, insofern sie von mir und gleichzeitig nicht von mir sind. Sie finden sich in einem Buch, das meinen Namen als Titel trägt: Monika Rinck, Untertitel ist: Poetisch denken I. Es handelt sich um neue Gedichte, auf der Basis meines poetischen Gesamtwerks bis 2018. Obwohl also das Textkorpus, anhand dessen diese Gedichte gemacht sind, auf mich zurückgeht, hab ich eigentlich nichts damit zu tun, da das Ergebnis von dem künstlichen neuronalen Netz GPT-2 generiert worden ist – unter der Leitung von 0x0a, einem Textkollektiv für konzeptuelle digitale Literatur, bestehend aus Gregor Weichbrodt und Hannes Bajohr.1 Hier ein erstes eher kurzes Beispiel, das auch auf das Rückcover des puristisch aufgemachten Bandes gedruckt ist.

 

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